Das revolutionäre Programm der italienischen Anarchisten
Vorbemerkung
Eigentlich sollte der nachfolgende Artikel wie folgt betitelt sein: Die Vorkehrungen des italienischen Anarchismus für die soziale Revolution. Nichts anderes enthält dieser programmatische Artikel, der uns gerade deshalb der Übersetzung wert und wichtig erschien, weil er am prägnantesten den Charakter der italienischen, anarchistischen Bewegung erkennen läßt. Er ist auch sehr belehrend für Theorie und Taktik unserer deutschsprachigen Bewegung. Die in Italien stürmisch näherkommende und sehr bald zu erwartende Revolution wird lehren, wie weit es unseren Kameraden möglich sein wird, unser Ideal zu verwirklichen. (Red. "E.u.B.")
*****
Die erste anarchistische Tageszeitung Italiens "Umanità Nova", zu deutsch "Neue Menschheit", seit Monaten schon in Vorbereitung, steht endlich auf dem Punkt, das Licht der Welt zu erblicken. Noch eine letzte Anstrengung, und sie wird jene finanzielle Basis besitzen, die notwendig ist, um ihr eine lange und wirksame Existenz zu sichern.
Wir sind Anarchisten, Anarchisten im eigentlichen und im allgemeinen Sinne des Wortes; das will sagen, daß wir die heutige, soziale Ordnung, in welcher sich die Menschen — unter sich selbst im Kampfe — ausbeuten und unterdrücken, oder doch darnach trachten, sich gegenseitig auszubeuten und zu unterdrücken, beseitigen wollen, um eine neue Gesellschaft aufbauen zu können, in welcher ein jeder, in Liebe und Solidarität mit seinen Mitmenschen, vollständige Freiheit finden soll, bestmöglichste Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Wünsche, bestmöglichste Entwicklung seiner intellektuellen und tatsächlichen Fähigkeiten.
Welches die konkreten Formen sein werden, in denen sich dieses aussichtsreiche Leben der Freiheit und des Wohlstandes für Alle verwirklichen kann, das kann niemand mit Genauigkeit sagen. Insbesondere kann kein Anarchist daran denken, einem Mitmenschen eine Lebensform aufzudrängen, die ihm die beste scheint. Das einzige Mittel, zur Entdeckung des Besten zu gelangen, ist die Freiheit: Freiheit des Zusammenschlusses, Freiheit für Versuche, vollständige Freiheit ohne jegliche Beschränkung, außer der der gleichen Freiheit der Andern.
Es gibt unter den Anarchisten solche, die sich Kommunisten, oder Kollektivisten, oder Individualisten nennen. Häufig ist es eine Frage von blos verschieden ausgelegten Worten, die eine fundamentale Übereinstimmung der Bestrebungen nur verdunkeln und verbergen; manchmal handelt es sich nur um Theorien, um Hypothesen, mit welchen ein jeder die gleichen praktischen Schlußfolgerungen verschieden erklärt und rechtfertigt. Wir sehen keinen Grund, warum diese verschiedenen Gruppierungen von Kameraden nicht an einem gemeinsamen Werk mitarbeiten könnten, wenn das Ziel ein gemeinsames ist und die Mittel sich nicht widersprechen.
Wie dem auch sei, alle diese mannigfachen Tendenzen, oder Schulen, wie sie sich nennen mögen, werden in der "Umanità Nova" ihr Organ und Redebühne finden, vorausgesetzt, daß sie die nach folgenden Prinzipien anerkennen, die unserer Ansicht nach den Leuchtturm bilden, der die anarchistische Bewegung leitet, und den Weg, auf dem dieselbe vorwärtsschreiten soll.
1. Wir führen einen Kampf gegen die Unwissenheit, gegen die klerikal-theologische Lüge, gegen die schädlichen Rivalitäten und den National- wie Rassenhaß; Kampf gegen den Herrschergeist auf der einen und denjenigen der Unterwerfung auf der anderen Seite; Kampf gegen die ökonomischen und politischen, bestehenden Institutionen, ohne jegliche Koalition oder Tarifgemeinschaft mit dem Unternehmertum und den staatlichen Organen.
2. Wir erstreben die moralische und technische Vorbereitung der Massen auf das Kommen einer Gesellschaftsordnung, in welcher ein jeder bedingungslos freien Zutritt zur Erde, zu den Rohmaterialien, zu den Arbeitsinstrumenten haben wird, so daß niemand gezwungen ist, seine eigene Arbeit zu verkaufen, sich von denjenigen ausbeuten zu lassen, die heute die Werkzeuge zurückhalten können, ohne dieselben für ihre persönliche Arbeit zu benützen; wir erstreben eine Gesellschaft, in welcher jedermann vollständig frei sein wird, ohne daß ihm jemand, sei es ein Individuum oder eine Gruppe, mit Gewalt seinen eigenen Willen aufzwingen kann.
Die Abschaffung des Kapitalismus und seines Systems der Erzeugung, das nur für den Profit einiger weniger geschaffen ist, statt für die Befriedigung der Bedürfnisse Aller, und mit dem daraus entstehenden Elend und der Entwürdigung des arbeitenden Menschen zum Proletarier.
Die Abschaffung des Staates, auch in Verkleidung, samt seinen gesetzgeberischen, richterlichen und militärischen Organen. Die Bildung von freien Gemeinden (anarchistischen Gemeinschaften), freiwillig vereint in wirklicher Brüderlichkeit und Zusammenarbeit mit allen Völkern der Erde.
Und, in der Praxis, am Tage, da die Regierung gestürzt sein und dazu die materielle Möglichkeit vorhanden sein wird: Die Besitzergreifung auf möglichst geordnete Weise, (auf Initiative und unter Führung von selbstbewußten Gruppen) durch das befreite Volk selbst von allen vorhandenen Reichtümern, Häusern, Nahrungsmitteln und andern Verbrauchsartikeln, gleichmäßige Verteilung unter allen, im Verhältnis zu den Bedürfnissen und den vorhandenen Mengen. Die Besitzergreifung durch die Arbeiter: des Bodens, der Arbeitsräume, der Transportmittel, der Rohmaterialien, der Maschinen und anderer Werkzeuge; und sofortige Organisation der Erzeugung und des Austausches durch und für alle, und zwar in solcher Weise, daß dieselbe jederzeit geändert und verbessert werden kann, auf eine den Interessenten am Besten scheinende Art.
Die rasche Organisation des öffentlichen Unterrichtes, der allen in allen seinen Stufen zugänglich sein soll, der ärztlichen und hygienischen Dienstzweige und der allernotwendigsten Urbarmachung des sich in sozialer Revolution befindlichen Grund- und Bodengebietes, behufs Erhöhung der Produktion und Anpassung an die menschlichen Bedürfnisse und Genüsse.
Systematische Beseitigung und Vernichtung aller Waffenorganisationen und Waffenbestände zur Vereitelung jeglichen Versuches der Reaktion, die Wiederherstellung des gefallenen Herrschaftssystems bewirken zu können.
Der organisierte wirtschaftliche Boykott gegen den Versuch von Kliquen, Personen und Parteien, neue Regierungen, neue Organisationen der Herrschaft und der Unterdrückung bilden zu wollen.
Das sind die allgemeinen Prinzipien und Vorsätze, die uns alle als Anarchisten einigen. Wir scheiden nur jene aus unseren Reihen aus, die für die Schicksale der Allgemeinheit kein Interesse besitzen und nur ihre Freiheit und ihre persönliche Vervollkommnung wollen, ohne sich um den Wohlstand, die Freiheit und moralische wie materielle Besserstellung der andern zu kümmern; oder solche, die glauben, durch die Autorität zur Freiheit zu gelangen. Wir können sie nicht hindern, sich zu nennen, wie sie wollen, aber wir sagen, daß ihr Geist und Handeln mit uns nichts gemein hat. Sie können sogar in unserer Zeitung zu Worte kommen, aber dies wird nur zum Zwecke der Information und Diskussion mit ihnen, geschehen.
Wir wollen aber vor allem feststellen, daß wir den theoretischen Forschungen und literarischen Kunstformen, denen unser Blatt geöffnet sein wird, stets eine propagandistische Tendenz verleihen werden. Die Zeiten sind allzu stürmisch bewegt, die Ereignisse folgen zu rasch aufeinander, als daß wir Kämpfer uns erlauben könnten, uns mit verwickelten Abstraktionen und mit künstlerischen Wortgebärden aufzuhalten.
Wir wollen, wir müssen ein Kampfesorgan sein.
Wenn das bestehende kapitalistische und staatliche System seine schlimmsten Früchte gezeugt hat; wenn es für alle denkenden Menschen, die nicht von der geheimen Furcht, auf die geraubten Vorrechte verzichten zu müssen, ergriffen sind, offensichtlich ist, daß eine tiefgehende soziale Umwälzung notwendig ist; wenn das ganze Land in Schmerzen und Erregung ist; wenn die Revolution unausbleiblich und nahe ist und es nur eine Frage der mehr oder weniger radikalen Richtung ist, welche diese Revolution nehmen soll — dann können wir uns nicht mehr darauf beschränken, ein Häuflein Vorläufer zu sein, die ein fernes Ideal der Vollkommenheit, das sie voraussehen und in der Wüste verkünden, voraussagen und dafür kämpfen, und sich damit begnügen, recht zu haben — nachdem die Tatsachen bereits geschehen sind!
Wir müssen eine lebendige Kraft sein, die fortwährend und wirksam zur Entscheidung der sozialen Geschehnisse und daher in dem gleichen Augenblick, in welchem sich die Umstände dazu bieten, mitwirkt, und so verhindert, daß dieselben in ihrer Entwicklung aufgehalten oder durch das Werk von demagogischen Verrätern, die sich auf die traditionelle Gutgläubigkeit der Völker verlassen, zu absurden Mißbildungen und unglücklichen Abweichungen irregeleitet werden; gerade in solchen Augenblicken müssen wir die Verhältnisse der völligen Verwirklichung des anarchistischen Ideals zuführen.
Wir müssen daher unsere Propaganda mitten unter die proletarischen Massen tragen. Wir müssen unsere Stimme und unsere Tätigkeit in allen Kämpfen der Arbeiter, in allen volkstümlichen Bewegungen vernehmen lassen.
Überall und immer müssen wir unter den leidenden Menschen das lebendige Bewußtsein und den Unwillen über die Ungerechtigkeiten, deren Opfer sie sind, wecken, ihnen Vertrauen in die eigenen Kräfte einflössen und sie dazu treiben, selbst zu handeln, direkt, in Verbindung mit ihren Gefährten in Mühseligkeit und Inspiration.
Das ist das Werk, für welches wir eine Tageszeitung nützlich und notwendig erachten und dafür erlassen wir einen Aufruf an alle bewußt denkenden Proletarier, denen die Geschichte die Aufgabe zuweist, die wichtigsten Faktoren der nächsten sozialen Umwälzungen zu sein.
Und wenn wir uns auch nicht berechtigt halten, die Mitwirkung jener, leider allzu seltenen Großmütigen zurückzuweisen, die, obschon auf der anderen Seite des sozialen Abgrundes geboren, doch die ganze Scham ihrer Klassenvorrechte fühlen, die auf Kummer, Erniedrigung und Entwürdigung des arbeitenden Teiles der Menschheit beruhen und die, wir, von der idealen Schönheit der menschlichen Wiedergeburt ergriffen sind und darnach sehnen, ohne Berechnung, ohne Strebertum, die leuchtende Verwirklichung herbeizuführen — so richten wir doch besonders an die Anarchisten, an alle, in sämtlichen Ortschaften unseres Landes unseren Appell, uns beizutreten; wobei wir keineswegs verlangen, daß sie dem Leben der Tageszeitung, die einfach eines der vielen Mittel unserer propagandistischen Aktion ist, ihre gesamte lokale örtliche Betätigung opfern sollen.
Und nun, ans Werk!
(Übersetzt aus "Libertario" in Spezia von Robert Rohner jr.)
Aus: "Erkenntnis und Befreiung", 2. Jahrgang, Nr. 2 (1919). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.