Ferdinand Domela Nieuwenhuis - Sozialismus und Freiheit

Der Sozialismus durchläuft verschiedene Phasen der Entwicklung. Die größte Gefahr ist jedoch heute die, daß jedermann "Sozialist" ist, während die wahren Sozialisten als Ketzer betrachtet werden, gleich den wahren Christen, den Ebioniten, im Anfang unserer Ära, die in den Augen des offiziellen Christentums, Konstantins und seiner Politiker, Ketzer waren.

Jetzt hat der Staatssozialismus das Wort und jeder Schritt, der in der Richtung des Sozi­alismus gemacht wird, treibt uns dem Staatssozialismus zu.

Man kann in den Resolutionen tausend Mal erklären, daß der letzte Kampf derjenige zwischen Sozialdemokratie und Staatssozialismus sein wird. Jedoch, man müßte blind sein, um nicht zu sehen, daß der heutige Sozialismus sich mehr und mehr zum Staatssozialismus entwickelt.

Was versteht man unter Staatssozialismus? Die Ausdehnung der Staatsmacht. Jeder Zweig der Industrie kommt unter die Oberhoheit des Staates bis zu dem Moment, wo der Staat die Vorsehung auf Erden, der allmächtige Regulator über Alles und Alle wird. Dann lebewohl, geliebte Freiheit! Jeder Mensch ist dann nur noch eine Nummer, ein Rad in der großen Maschine, Staat genannt.

Es gibt zwei Arten von Kommunismus; einen von oben kommandierten und einen von den unteren Schichten des Volkes gewünschten, einen autoritären und einen freiheitlichen. Der erstere versorgt jedermann mit Brot, gleich, wie der Tyrann für die materiellen Interessen der Sklaven sorgt, um deren auf­rührerische Gedanken zu besänftigen, aber er gibt ihnen nicht die Freiheit. Der freiheitliche Kommunismus ist überzeugt, daß der Mensch nicht blos vom Brot allein lebt, sondern ohne Freiheit nicht zufrieden sein kann. Denn was ist der Mensch ohne Freiheit? Nehmt den Men­ schen die Freiheit, und ihr werdet ihnen auch den Charakter, ihre Individualität nehmen, die Eigenschaften, durch die sie sich moralisch erhöhen.

Jedoch man muß den Kommunismus in der Gesellschaft sich entwickeln lassen. Ich kann mir sehr gut denken, daß die beiden Formen, der Individualismus und der Kommunismus, nebeneinander bestehen können, derart, daß man zwischen ihnen wählen kann. Zum Beispiel: Man hat gemeinsame Tafeln, wo jeder sein Essen verspeisen kann, aber es kann auch jeder, nach seinem Geschmack, seine Mahlzeit bei sich zu Hause einnehmen. Wenn die kommunistische Form verwirklicht sein wird, so wird man sehen, daß die Indivi­duen mehr und mehr zu gemeinsamer Mahlzeit hinneigen, so daß die isolierte Mahlzeit zu Hause Ausnahmen bilden wird.

Ein anderes Beispiel: Kinder sollen eine gemeinsame Erziehung erhalten, ohne die ja die Brüderlichkeit eine geschwollene Phrase sein würde, aber es wäre die größte Dummheit, die Erziehung der Kinder den Müttern zu entreißen. Jeder solche Versuch wird den größten Widerspruch auslösen. Man wird also die freie Wahl lassen; Die größte Sorgfalt wird der gemeinsamen Erziehung gewidmet werden müssen, vom hygienischen und angenehmen Standpunkte aus, derart, daß diejenigen Mütter, die ihre Kinder lieben, sie aus freiem Willen den kommunistischen Insti­tutionen anvertrauen, da sie den Kindern doch nicht das bieten können, was den Kindern in den gemeinsamen Erziehungsinstituten geboten werden kann.

Die Mütter werden dann überzeugt sein, daß man sie nicht ihrer Kinder berauben will, um mit ihnen nach Belieben zu verfahren, sondern, daß sie schon in ihrer Jugend Mit­glieder einer Gemeinschaft sein sollen, in der Solidarität und Brüderlichkeit gepflegt werden.

Übrigens steht vor allem das Interesse des Kindes höher als das der Mutter. Durch Zwang wird man das ersehnte Ziel nie erreichen; bietet man jedoch — vor allem den Müttern — Gelegen­heit, sich von den Vorurteilen ihrer verkehrten Erziehung zu befreien, so wird es nicht lange dauern und die gemeinsame Erziehung wird die Regel sein.

Der Kommunismus muß sich in den Men­schen noch weiter entwickeln; denn in einer individualistischen Welt, wo man nach der Regel lebt: Jeder für sich und Gott für alle! wird man natürlich einseitigster, beschränkter Individualist.

Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist bei den meisten Menschen unterdrückt, obwohl es das ursprüngliche Gefühl ist. Das sehen wir am besten bei den Kindern, wie sie einander suchen; und nie sind sie glücklicher, wenn sie miteinander spielen können. Hier weist uns die Natur den Weg.

Der von oben kommandierte, der staats­ autoritäre Kommunismus kann die Welt nicht erobern, denn alles, was zwangsweise und nicht freiwillig geschieht, vernichtet sich selbst. Einzig der freiheitliche, herrschaftslose Kommu­nismus, der mit der moralischen und intellek­tuellen Entwicklung wächst, kann und wird die Welt erobern.

Wir können die zukünftigen Gesellschafts­formen nicht bestimmen; aber wir können sagen, daß einzig diese Form, welche den Individuen die vollständigste Freiheit garantiert, Aussicht hat zu siegen. Nicht wir bestimmen die Richtlinien für die Zukunft, son­dern jede Generation schafft sich ihre Insti­tutionen selbst nach ihrem Geschmack.

Wenn wir ein Haus bauen, so gestalten wir es derart, wie wir es wünschen; aber wer sagt uns, daß unsere Nachkommen nicht einen ganz anderen Geschmack haben und durchaus mit all den Häusern zufrieden sein werden, die man ihnen anweist und hinterlassen hat?

Jeder wird seinem Geschmack folgen, und deshalb tun wir gut, nicht jetzt schon feste Normen für die Zukunft festzulegen.

Der Staatssozialismus kann nicht dauern; denn er ist allgemeine Sklaverei, und wir wünschen die Freiheit. Es ist dies eine vorüber­ gehende Form, die wir vielleicht durchmachen müssen, aber die nicht von Dauer sein kann.

Ans Werk alle, und schaffen wir an einem freiheitlichen Sozialismus, denn nur Freiheit be­deutet Leben. Sozialismus ohne Freiheit wird nicht bestehen.

Übersetzt von Ernst Bertz

Aus: "Erkenntnis und Befreiung", 2. Jahrgang, Nr. 3 (1919). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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