Joseph Kucera - Gegen die Wahlurne des Staates (1930)
Sich der Wahl enthalten – sagen die daran Interessierten – hiesse Selbstmord begehen.
Wir aber sagen: Wählen, heisst sich selbst versklaven.
Wenn Du wählst Prolet, anerkennst Du deine Versklavung, stärkst die Macht Deiner Ausbeuter, legst Dir selbst Sklavenketten an. Du erniedrigst Dich zu einer Null, gibst Deinen Willen auf und bist selbst nicht mehr als eine Marionettenfigur. – Was gibt Dir dann noch das Recht, Dich Mensch zu nennen.
Jemandem Deine Stimme geben, der Dich beherrscht, kommandiert, richtet, ausbeutet, zeigt nur von unaussprechlicher Dummheit und Hohn. Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, die grösste politische Eroberung, wie die politischen Hanswurste, genannt Volksvertreter, sagen, sollte Dir den Wohlstand bringen. Bist Du mit dem Errungenem zufrieden? Bist Du schon satt?
Du darfst wählen: Nationalräte, Gemeinderäte. Was können sie Dir geben? Was sind das für ausgesuchte Exemplare von Menschen, denen Du die Macht gibst, über Dich zu herrschen? Es sind politische Speichellecker, die vor der Wahl vor dem Wähler auf dem Bauche kriechen und wenn sie einmal gewählt, sich als Korruptionisten und Räuber am Volksgut entpuppen.
Sie fabrizieren Gesetze und Verordnungen. Das Gesetz dient der Erpressung der Mächtigen an dem Volke zur Stütze der herrschenden Macht.
Ob Monarchie, ob Republik, ob oligarchisch plutokratisch, diktatorisch oder demokratisch, sie alle dienen immer nur zur Versklavung des Individuums. Das Individuum wird zu einer Sache erniedrigt, ihm wird jede Befriedigung seiner Bedürfnisse, jede Entwicklungsmöglichkeit genommen und seine Freiheit eingeschränkt.
Auch die Sozialdemokraten und Kommunisten sehen in der Stützung der Staatsmacht – aus taktischen Gründen – das Heil. Sie finden es auch, wenn ihre Führer Direktoren, Verwaltungsräte, Aktionäre usw. werden. Sie haben eine Vergrösserung ihres Einkommens, die sie vor der Gefahr, in ihre alte Lage zurück zu sinken, schützt. Morgen zur Macht gekommen, ist ihre erste Sorge die Festigung dieser Macht und der Nachweis der Notwendigkeit der Herrschaft.
Prolet, der Du frei und glücklich sein willst, Du wählst Dir einen Herrscher, der Dir die Möglichkeit der Durchsetzung Deiner Bedürfnisse nimmt. Du hast wenig oder gar keine Nahrung, wohnst in elenden Löchern, Deine geistige Entwicklung wird Dir vorgeschrieben. Du wirst nach Belieben dahin oder dorthin geschoben. Du bist nicht fähig, richtig zu denken, da rund um Dich alles schon berechnet und ausgewogen ist.
Wenn Du wählst und alldem Deine Zustimmung gibst, bist Du selbst die Ursache Deines Elend, Deiner Versklavung, weil Du nicht den Willen hast, Dich dem was schlecht ist zu widersetzen, weil Du Dich nicht gegen alle Befehle und jeden Zwang auflehnst.
Prolet, Du wirst erst an dem Tage frei und glücklich sein, an dem Du Dich entschliesst, Deine Sachen selbst in die Hand zu nehmen, statt in die Wahlurne Dein Schicksal zu werfen.
Quelle: contra. Anarchistische Monatsschrift. Jahrg. I. Wien, 25. Oktober 1930 No. 7.
Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/joseph-kucera-gegen-die-wahlurne-des-staates