Joseph Kucera - Politische Religion (zu Mahatma Gandhi, 1930)

Innerhalb aller religiösen Kreise ist heute Mahatma Gandhi der Zentralpunkt und die Hoffnung derer geworden, die durch einen Sieg Gandhi, Renaissance ihrer speziellen Ideologien erwarten. Besonders in Europa sehen wir innerhalb der auf eine Änderung der bestehenden Verhältnisse gerichteten Bewegungen eine Zielsetzung, die auf Grund der von Gandhi angewendeten Mittel, der Menschheit das Heil bringen soll.

Es ist die Anwendung der durch Jahrhunderte schlummernden religiöse Sehnsucht in der Politik.

So, wie die Urchristen das Opfer dieser mächtigen Politik wurden, so dienen heute alle neuen oder erneuernden religiösen Ideen einzig der Erringung der Macht. Daraus erklärt sich auch der ewige Widerspruch des religiösen Idealismus praktischen Leben. Das religiöse Ideal entspringt nicht der Eigenheit des Individuums, sondern dem Glauben, durch Aufgabe oder Unterdrückung dieser Eigenheit zu Gunsten eines Ideals, der Allgemeinheit zu dienen. Nicht die Durchsetzung meiner spezifischen Lebensmöglichkeiten und -Notwendigkeiten, sondern der Glaube an das Bessersein, wenn durch ideologische Unterwerfung unter ein Prinzip die Eigenheit des Charakters geändert wird, bestimmen jedes religiöse Ideal. Es ist dies die erste Grundlage eines jeden Dogma.

So kommt das Buch des holländischen Antimilitaristen und Anarchisten B. de Ligt "Een wereldomvattend Vraagstuck" (Ein weltumfassendes Problem) Utrecht 1930, gerade zur rechten Zeit. Es handelt sich darin um einen jahrelangen Briefwechsel des Kameraden B. de Ligt mit Gandhi über das bei uns in Europa bereits zu einem Lehrgebäude erstarrten Problem der Gewaltlosigkeit. B. de Ligt hält Gandhi vor, dass dieser es mit der Gewaltlosigkeit während des Zulu- und Burenkrieges und ganz besonders während des Weltkrieges nicht gar zu ernst genommen habe. Er habe eifrig für England Rekruten geworben und damit für England die Rekrutierung in Indien erleichtert, wenn nicht erst ermöglicht. Genau so, wie er gegenwärtig dem Nehru-Bericht, der für ein selbständiges Indien, für nationales Heer und Flotte ist, zugestimmt hat. Gandhi gibt dies alles zu, leugnet aber, dabei das Gefühl, "sich selbst untreu geworden zu sein", gehabt zu haben.

Das ist reine politische Theologie, wie wir sie in der Begründung des Verhaltens zum Weltkriege fast in allen heute pazifistelnden oder antimilitaristelnden Parteien und Gruppen, einschliesslich gewisser anarchistischer Grössen, finden. So, wie der deutsche Sozialdemokrat P. Lensch und Genossen im Weltkriege, da er das Gefühl "sich selbst untreu geworden zu sein" nicht hatte, eifrig für einen deutschen Sieg agitierte, von dem er gewisse Vorteile für die Sozialdemokratie erwartete, wie Kropotkin, ohne "sich selbst untreu geworden zu sein", die Anarchisten zu einen frisch-fröhlichen Krieg aufmunterte, gegen die deutschen Barbaren und für die französisch-englische Demokratie, wie P. Ramus, ohne "sich selbst untreu geworden zu sein", unter Schweissperlen Broschüren gegen Russland und England verfasste oder übersetzte, um die k.u.k. österr.-ungar. Truppen zum Siegen anzutreiben, – genau so bestand Gandhis Kriegshetze zu Gunsten Englands in der Hoffnung, England werde dafür die Unabhängigkeit Indiens schenken. Das Besondere bei diesen "sich selbst nicht untreu gewordenen" Kriegshetzern liegt aber darin, dass keiner sein eigenes Leben für die als hehr erkannten Ideale in die Schanzen schlug.

Gandhi beruhigt uns zwar damit, dass er ''Schwerlich" heute für eine englische Kriegspolitik zu haben wäre, (Was wäre es mit einer deutschen, wenn Deutschland ihm dafür die Unabhängigkeit Indiens schenken würde?) Mit Emerson meint Gandhi, dass "närrische Konsequenz der Kobold kleinlich-beschränkter Köpfe ist" und "die Gewaltlosigkeit, keine dogmatische Doktrin, sondern ein lebendiges Prinzip, das man eben auch lebendig anwenden müsse und zwar gelegentlich vielleicht so, dass man das Gegenteil davon zu tätigen scheine". Er stellt uns in Aussicht, dass er nach der Befreiung Indiens wahrscheinlich den Kampf gegen seine eigenen Landsleute für die Gewaltlosigkeit aufnehmen werde.

Gandhi gibt viele seiner Inkonsequenzen zu. Es scheint ihm aber, "dass durch seine scheinbare Inkonsequenz ein einheitlicher Gedanke hindurchläuft, gleichwie es in der Natur trotz aller scheinbarer Verschiedenheit eine Einheit gibt." Denn "die Gewaltlosigkeit, von zwei verschiedenen Personen betätigt, von denen jede eine andere Position innehat, wird äusserlich nicht dieselbe Form haben." Am Ende ist Mussolini auch nur ein Gewaltloser, der die Gewaltlosigkeit eben so betätigt, dass sie äusserlich einer Diktatur ähnlich sieht, weil Mussolini und Gandhi eben zwei verschiedene Personen sind. "Denn die Gewaltlosigkeit ist keine Sache des Verstandes, sondern des Herzens. Die wahre Leitung geschieht durch stetes Achten auf Gott in äusserster Demut und in Vergessenheit seiner selbst."

All diese Erklärungen für sein, früheres Verhalten könnten genau so gut in einem Handbuche der Theologie stehen, laufen letzten Endes auf die Pflicht zur Solidarität mit seinem Volke hinaus und begründen jede Katastrophenpolitik des Nationalismus.

Es scheint dies die wahre Begründung für Gandhis Verhalten vor und während des Weltkrieges und wird es auch für die Zukunft sein. Da täuscht auch aller tolstoianischer Aufputz nicht, dass "das Licht in ihm hell und gewiss" geworden. Bei uns in Europa nennt man das ganz einfach "mit Herz und Hand für Gott, Kaiser und Vaterland".

Prof. L. Ragaz versucht in seiner Zeitschrift "Neue Wege" etwas zaghaft, Gandhi damit zu entschuldigen, dass dieser nicht mehr der anerkannte unbedingte Führer sei, und dass es eine mehr von kommunistischen Gedanken geleitete gewaltgläubige Bewegung wäre, die Gandhis Einfluss einzuschränken drohe. Diese Entschuldigung scheint mir wenig stichhältig. Sie könnte eher die kommunistische Bewegung entschuldigen, weil diese unter dem Einfluss der Gewalttaten der herrschenden Klassen und Kasten steht. Es ist nichts als politische Demagogie, wenn ich, "um die Gefahr dieser Art vom Freiheitskampf zu bannen, durch eine Aktion von letzter Kühnheit und Paradoxie die Führung wieder an mich reissen wollte, und dem Gegner zum Scheine einen Schritt entgegenkam, um ihn in den eigenen Reihen desto sicherer zu überwinden".

Alle Konfessionen und Parteien beruhen auf dem Prinzip, dass sie ihren Anhängern entgegen kommen, um dann "durch eine Aktion" von letzter Kühnheit die Führung an sich zu reissen, und jede andere Meinung und Aktivität zu "überwinden". Das ist das gefürchtete Moment jeglicher Politik, die erste Stufe jeder Herrschaft, die darin wurzelt, dass man versucht, all die Verschiedenheiten unter den individuellen Persönlichkeiten auf eine Formel zu bringen, einerlei ob sich diese als Staat, Vaterland, Nation, Volk, Religion, Weltanschauung, Partei oder Gesellschaft enthüllt.

Quelle: Aus: contra. Anarchistische Monatsschrift. Jahrg. 1, Wien, 25. September 1930, No. 6.

Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/joseph-kucera-politische-religion


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