Pierre Ramus - Lenin und der Parlamentarismus
I.
In einem Briefe an die österreichischen "Kommunisten" hat Lenin diesen aufs eindringlichste die Beteiligung an dem antirevolutionären, volksbetrügerischen und rein bürgerlichen Parlamentarismus, an den Wahlen für die Nationalversammlung empfohlen. Damit vollendet sich für uns das Bild, das wir stets von ihm gezeichnet haben.
Wußten wir schon aus seiner Vergangenheit, daß Lenin als orthodoxer Marxist kein aufrichtiger Sozialist oder Kommunist ist, so hat seine gegenwärtige Stellung zum Parlamentarismus auch noch den Beweis für unsere längst aufgestellte Behauptung erbracht: Lenin ist auch kein ehrlicher Revolutionär; er ist nichts als ein demagogischer Politiker, dem es ausschließlich um die Machteroberung seiner Partei geht, als deren Dalai Lama international zu gelten, sein ehrgeiziges Strebensziel ist, nachdem er die Befriedigung seiner rein materiellen Selbstbereicherungspläne durch Versklavung und Ausbeutung des russischen Volkes ohnedies verwirklicht hat.
In der Frage des Parlamentarismus entscheidet sich stets der Charakter und das Ziel eines Sozialisten. Diese Frage ist weit entfernt davon, nur eine taktische zu sein, wie unaufrichtige Demagogen es zeitweise behaupten. In der Tat hat die sozialistische Bewegung aller Richtungen diese Frage nie als nebensächlich, als bloß von momentaner taktischer Bedeutung behandelt. Parlamentarismus oder Antiparlamentarismus bildeten stets den Streitpunkt innerhalb der modernen Arbeiterbewegung, und zwar deshalb, weil die besondere Stellung zu ihm eine ganz besondere grundsätzliche Haftung und prinzipielle Aktion ergibt, aus der erst dann eine auch darin durchaus gesonderte Taktik erfließt.
Wir herrschaftslose Sozialisten lehnen den Parlamentarismus grundsätzlich ab, weil er ein Herrschaftsmittel ist, die ganz spezifische Beherrschungsinstitution der Bourgeoisie und ihrer staatlich-kapitalistischen Gesellschaftsverfassung, innerhalb welcher das Proletariat stets ausgebeutet und unterdrückt sein muß, weil letzterer Zustand des Proletariats das Fundament der bourgeoisen Ordnung bildet. Wir lehnen den Parlamentarismus auch darum ab, weil durch ihn keinerlei sozialistische Auseinandersetzung oder Entscheidung herbeigeführt werden kann, durch ihn ausschließlich eine Mitwirkung an der Staatspolitik und Administration der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft zustande kommt, jeder sich an ihm Beteiligende somit eine Stütze, ein Element der konservativen Aufrechterhaltung und des Fortbestandes der bestehenden Gesellschaft wird. Im Parlament selbst können die Abgeordneten, einerlei welcher Partei, nur in diesem Sinne, in keinem anderen, wirken; versuchen sie, anders zu wirken, so ist ihr Tun absolut zwecklos, wie wir denn auch gesehen haben, daß, sobald Sozialisten im Parlament prinzipiell sozialistisch handeln wollten, sie das Aussichtslose ihres Tuns erkannt und zumeist ihr Mandat niedergelegt haben oder ihnen dasselbe aberkannt wurde. Für ältere Beispiele führen wir nur Proudhon, Johann Most, Domela F. Nieuwenhuis an, für neuere den englischen Sozialisten Watson, den deutschamerikanischen Berger und — Karl Liebknecht.
Somit ist der Parlamentarismus für die Sache des Proletariats durchaus nutzlos, zwecklos. Seine Annahme, die Betätigung in seinem Sinn, seine Funktionsausübung - die nur möglich ist, Wenn der gewählte Abgeordnete vorerst einen Eid ablegt, in dem er sich ausdrücklich zur bestehenden Herrschaftsinstitution von Staat und Kapitalismus bekennt und sie zu vertreten verpflichtet! - sind schon an und für sich ein Beweis dafür, daß die betreffende Partei nicht den Sozialismus erkämpfen, nicht für die Beseitigung der kapitalistischen Staatsordnung einzutreten beabsichtigt, sondern sich auf den Boden der bestehenden stellt und an deren Aufrechterhaltung administrativ oder legislativ mitbeteiligt sein will.
Eine Partei, wie die Sozialdemokratie, ist jedoch durchaus logisch, wenn sie parlamentarisch auftritt. Sie ist keine für die Verwirklichung des Sozialismus oder der sozialen Revolution irgendwie in Betracht kommende Bewegung; sie ist sozusagen vollständig eine demokratische Herrschaftspartei, die laut den Prinzipien der Demokratie für die Teilung der Herrschaft unter die Vertreter der verschiedenen Klassen in der Gesellschaft eintritt. Als demokratische Partei kann sie auch manches leisten, was bürgerlich-fortschrittlich ist, wiewohl das Erreichte in absolut keinem Verhältnis zu dem Aufwand an Kosten und Energie steht, die, auf dem Gebiete des sozialen Kampfes eingesetzt, unendlich mehr und zweckentsprechendere Resultate zutage fördern würden, als selbst die idealste demokratische Reform es vermag.
Der Betrug der Sozialdemokratie ist aber kein eigentlicher Volksbetrug, sondern nur ein Betrug an dem Proletariat. Diesem wird vorgegaukelt, daß die parlamentarische Wahlstimmabgabe für seine soziale Befreiung von Bedeutung sei, und die Sozialdemokratie muß diesen Betrug verüben, weil die Beteiligung an den bürgerlichen, wahlpolitischen Methoden so riesig viel an Kraft und Energie der Personen und Partei des Proletariats in Anspruch nimmt, daß unmöglich für Wichtigeres und Anderes noch Zeit und Mittel übrig bleiben können. Darum muß dem Proletariat vorgelogen werden, daß der Parlamentarismus zu seinem Heil und Nutzen sei, während er eben aus obigem Grunde total schädigend und kräftevergeudend, auf das Proletariat in Wahrheit nur als größter Erschöpfungs- und Entkräftungsapparat einwirkt. Denn selbst bei einer Majorität im Parlament — dies zeigte sich am klarsten gelegentlich des Kapp-Putsches in Deutschland — wäre das Proletariat vollständig ohnmächtig gegenüber den außerhalb desselben gelegenen politischen und sozialen Macht- und Eigentumsfaktoren der kapitalistischen Minorität im Parlament. Will das Proletariat jene bekämpfen, so ist es immer gezwungen, außerparlamentarische Methoden anzuwenden, steine sozialen Aktionsmittel wirtschaftlicher Kraft, wodurch eben der Parlamentarismus sich für das Proletariat als durchaus sinnlos und schädigend, weil ablenkend und schwächend erweist.
Einen direkt und ausschließlich das Proletariat irreführenden und noch größeren Betrug an diesem verübt aber eine Partei, die nicht, wie die Sozialdemokratie, die eigentlich keine Klassen-, sondern eine Volkspartei ist — den größten Betrug an dem Proletariat verübt diejenige Partei, die da vorgibt, als revolutionäre Partei, sich des Parlamentarismus bedienen zu müssen, und darum dem Proletariat empfiehlt, dies zu tun. Solchen infamsten Betrug verübt Lenin und mit ihm die "kommunistische" Partei, indem sie seiner Weisung folgt.
Freilich bekundet sie damit nur, wie richtig wir sie immer eingeschätzt haben, wenn wir sie stets als tief unter den ehemaligen "Radikalen" der Achtzigerjahre in Österreich oder sogar den "Jungen" in Deutschland, nach dem Sozialistengesetz, erklärt haben. Durch ihre Anerkennung des Parlamentarismus erweist sich die "kommunistische" Partei als das, was wir stets in ihr gesehen haben: eine in Theorie wie Taktik durchaus sozialdemokratische Oppositionspartei, deren Wortführer nur aus wütendster Mandatgier andere, sogenannte "revolutionäre" Flaggen aufziehen und sich pseudorevolutionärer Schlagworte bedienen, die aber schließlich wieder auf die eine oder andere Weise in der Mutterpartei Einzug halten werden. Denn sie alte sind vom Holz des Marxismus und müssen darum Äste des gleichen Baumes bleiben.
Lenins theoretisch-taktischer Ausgangspunkt als revolutionärer Marxist bildet die Erkenntnis, daß der Parlamentarismus in seiner bürgerlichen Form ein Betrug des Proletariats ist, Womit er unsere alte Wahrheit angenommen hat. Darum müsse, meint er weiter, an die Stelle jenes das Rätesystem treten, das eine ausgeprägt nurproletarische Form zu bekommen habe. Um dies zu erreichen, sei der Sturz der bestehenden Staatsform und aller ihrer Institutionen nötig, vor allem des bürgerlichen Parlamentarismus. Denn erst wenn dieser beseitigt, ist die Hauptform der gesetzlichen und überhaupt politischen Macht der Bourgeoisie zertrümmert.
So weit könnte man — ganz abgesehen von den Mitteln — mit Lenin gehen, und so (...) wir sein nun folgendes Ziel: nicht die freie, staatslose Rätegesellschaft aller Produzenten, sondern die Rätediktatur über die Produzenten, vorläufig ganz außer Acht lassen. Aber eines ist doch ganz gewiß: Selbst der erste Teil des Leninschen Programmes ist unmöglich durch den Parlamentarismus, die bürgerliche Wahlpolitik und dgl.m. zu erreichen; im Gegenteil, die letzteren vereiteln in positiv abtötender Weise durch ihre Korruption, Ablenkung und Kräfteverzettelung unbedingt diesen positiven ersten Teil des Leninschen Programmes!
Darum müßte Lenin, wenn er ein ehrlicher Sozialist, ein wirklicher Revolutionär wäre, absoluter Antiparlamentarier sein. Eben, weil er dies aber nicht ist, ist er auch unehrlich im ersten, destruktiven Teil seines (...), in welchem wir Anarchisten durchaus mit ihm gehen, und worin wir viel mehr leisten, als Lenin und der Bolschewismus. Diese zerstören die alte bourgeoise Herrschaft und ihre Formen nur dazu, um namens des Proletariats eine neue bourgeoise Herrschaft zu errichten, während unser Kampf dies letztere unmittelbar verunmöglicht, da wir als Aufgabe und Ziel der sozialen Revolution nur die Herrschaftslosigkeit erkennen können.
II.
Mit welchen neuen Argumenten tritt Lenin für den Parlamentarismus ein? Ach, es sind keine neuen, denn schon vor einem halben Jahrhundert sind sie glänzend widerlegt worden, als einer der geriebensten Politiker der damaligen Sozialdemokratie Deutschlands, Jean Baptiste Schweizer, das Proletariat am Narrenseil des Parlamentarismus einherführte. Doch hören wir vorerst Lenin seinen Standpunkt vertreten: "Wir Kommunisten gehen in das bürgerliche Parlament, um auch von dieser Tribüne des durch und durch verfaulten, kapitalistischen Systems, in dem man die Arbeiter und werktätigen Massen betrügt, diesen Betrug zu enthüllen."
Um einen Betrug zu enthüllen, ist es also nötig, selbst ein Betrüger zu werden. Diese famose Logik ist, wie gesagt, uralt und wir wissen heute, wohin sie die Führer der ehemals gleich Lenin "revolutionären" Sozialdemokratie gebracht hat. Weiß doch jeder denkende Mensch, daß der Parlamentarier ein Mitnutznießer des durch das bürgerliche Parlament an den Arbeitern und werktätigen Massen verübten Betruges ist — er bekommt seine Diäten vom bürgerlichen Staate ausbezahlt, wodurch er dessen Bundesgenosse wird — und schon darum der ungeeignetste sein muß, von dem man eine Entlarvung des parlamentarischen Betruges erwarten darf und kann. Doch hören wir Lenin vorerst weiter seine etwas verdutzt dreinblickenden Anhänger und Gläubigen - wie hätte ein Gustav Landauer, der, wie Mühsam uns weismachen will ein Bewunderer Lenins gewesen sei, über ihren Glauben an Lenin gelacht! - belehren und "erziehen": "Solange wir nicht die Kraft haben, dieses bürgerliche Parlament auseinanderzujagen, müssen wir dagegen von innen und außen arbeiten. Solange Irgendeine bedeutende Anzahl Arbeitender — nicht nur Halb-Proletarier und Kleinbauern — den bürgerlich-demokratischen Mitteln des Betruges der Arbeiter durch die Bourgeoisie vertraut, müssen wir diesen Betrug entlarven, eben von jener Tribüne herab, die die zurückgebliebenen Schichten der Arbeiter und insbesondere die nicht proletarischen, werktätigen Massen für am meisten maßgebend und bestellend erachten."
Unversehens verwandelt sich hier Lenin, der ausgezogen ist, um "diesen Betrug" des bürgerlichen Parlaments den Arbeitern und werktätigen Massen "zu enthüllen", ganz offenkundig zum demagogischesten Betrüger. In nüchternen Worten, die das aussprechen, was er denkt und weiß, bedeutet sein Standpunkt dieses: Solange eine bedeutende Anzahl Arbleitender noch an den bürgerlichen Schwindel des Parlamentarismus glauben, haben wir sie nicht aufzuklären, sondern uns dieses Schwindels zu bedienen, um selbst Mandate ergattern zu können. Um dies zu erreichen, ist Lenin keinerlei volksverräterisches Mittel zu schlecht: er weist seine Nachläufer sogar an, sich nicht nur an das Proletariat zu wenden, sondern auch an Halbproletarier und Kleinbürger, die mit sozialistischen Zielen nichts gemein haben, diese nicht kennen und darum bekämpfen. Anstatt sie sozialistisch und gesinnungsklar zu erziehen, sollen sie als Stimmvieh verwendet werden, einigermaßen so, wie die russischen Proletarier als Kanonenfutter. Und dieses prinzipienverräterische Tun hat nach Lenin nur zu dem Zweck stattzufinden, weil die "zurückgebliebenen", also die rückständigsten Schichten der Arbeiter und insbesondere die nicht proletarischen, werktätigen Massen" an den Parlamentarismus noch glauben und dadurch für die mandatssüchternen Zwecke eines Strebers gewonnen werden können, der sich dessen nur zu gut bewußt ist, daß die Tribüne des Parlaments die, wertloseste und am wenigsten beachtete ist, und daß man das Parlament "von innen" überhaupt nicht bekämpfen kann, weil der Eintritt in dasselbe gleichbedeutend ist mit Verleugnung der revolutionären Gesinnung Und der Aufgabe jeglicher wirklicher Bekämpfung des bürgerlichen Staates.
Kurzum, Lenin lehrt die "Kommunisten" in derselben betrügerischen Form dort neu anzufangen, wo vor zwei Menschenalter die Sozialdemokratie begonnen hat, mit derselben Methode und Taktik, die sie unvermeidlich eine antirevolutionäre, nur in bourgeois-gesetzgeberischer Quacksalberei sich behauptende Partei werden ließ. Er verweist seine Anhänger auf eine Methodik, die unbedingt zu einer Stärkung der bürgerlichen Gesellschaft geleitet, welch erstere es verschuldet hat, daß diese durch die Sozialdemokratie ein halbes Jährhundert lang gerettet ward. War es doch der Parlamentarismus, der das Proletariat in Unwissenheit erhalten und es dem Weltkrieg willenlos überantwortet hat. War es doch das durch seine gedankenlose Stimmgeberrolle im Proletariat gefeuchtete Unvermögen zur Initiative und bewußten sozialistischen Erneuerungsaktion, die es nach dem militärischen Zusammenbruch mit sich brachte, daß das Proletariat außerstande war, keine Ahnung hatte, wie einen Neubeginn des Lebens auf sozialistischer Grundlage in Angriff zu nehmen, vielmehr sich: übertölpeln ließ von seinen raffiniert schlauen Führern, diese zu den Machtstützen einer Wiedererstarkung der kapitalistischen Welt werden lassend.
Angesichts des letzteren Tatbestandes klingt es sehr bezeichnend für ihn, wenn Lenin schreibt, daß die Führer des Proletariats sich im Parlament erst jenes Wissen aneignen, das für ihre erfolgreiche Machtergreifung nötig sei: "Ohne dieses Wissen kann das Proletariat nicht fertig werden mit den Aufgaben der proletarischen Diktatur, denn auch dann wird die Bourgeoisie in ihrer neuen Stellung (Stellung der gestürzten Klasse), in anderen Formen, auf anderen Gebieten, ihre Politik der Verdummung der Bauern, der Bestechung und Einschüchterung der Angestellten, der Verhüllung ihrer egoistischen und schmutzigen Bestrebungen mit den Phrasen über Demokratie fortsetzen."
In diesem einen Absatz ist der ganze Betrug des Marx-Leninschen Weges und Zieles enthüllt. Er zeigt, daß in der "Diktatur des Proletariats" die Herrschaftspositionen des Staates wohl von Emporkömmlingen des Proletariats besetzt und für sich ausgenützt werden, das Proletariat aber nach wie vor eine ausgebeutete und beherrschte Klasse bleibt, weil auch die Bourgeoisie in ihrer finanziellen Vormacht, wenn auch in einem gewissen Zwangsbunde mit dem Staat, verbleibt und keineswegs ihrer grundlegenden Machtpositionen verlustig geht. Schon deshalb nicht, weil der neue Staat sie auch braucht und sich ihrer bedient.
Was Lenin mit dem "Wissen" meint, das man sich in dem als pädagogisches Institut wohl am allerletzten in Betracht kommenden Parlament aneignen müsse, ist es dies: Er meint mit Recht, daß darin die parlamentarischen Schmarotzer des Proletariats jene Schliche ihrer Volksbeherrschung, jene Finessen des Volksbetruges erlernen und sich aneignen, die in jedem Herrschaftssystem, also auch innerhalb der "Diktatur des Proletariats" für sie nötig sind zur Niederhaltung und Ausbeutung des Proletariats. Denn diese "Wissenden" sind es, die dann die neue Herrscherklasse, die neue Bourgeoisie im Bunde mit der alten werden. Die "Diktatur des Proletariats" ist keinerlei Machterhebung desselben, sondern ein Rivalitätskampf zwischen den herrschenden Machthabern ökonomischer wie politischer Art und den solche werden Wollenden; und dieser Kampf findet seinen Abschluß im Burgfrieden der früheren mit den neueren Machthabern, die sich nun mit einander teilen und gütlich tun in der infamsten Versklavung und Ausbeutung des fortbestehenden Proletariats.
Wir sagten oben, daß alle diese unaufrichtigen Argumente Lenins zur Rechtfertigung seiner nunmehr auch parlamentarischen Irreführung des Proletariats längst widerlegt worden sind. Derjenige, der sie schon 1869 vollständig widerlegt hat, war Wilhelm Liebknecht, der in seiner Rede "Über die politische Stellung der Sozialdemokratie insbesondere mit Bezug auf den Reichstag" zu folgender vernichtenden, heute mehr als je geltenden Widerlegung und Zurückweisung des Parlamentarismus kam:
"Fassen wir zusammen:
"Einen direkten Einfluß auf die Gesetzgebung kann unser Reden nicht ausüben."
Den Reichstag können wir durch Reden nicht bekehren."
"Durch unser Reden (im Reichstag) können wir keine Wahrheiten unter die Massen werfen, die wir anderweitig nicht viel besser verbreiten könnten."
"Welchen praktischen Zweck hat also das Reden im Reichstag? Keinen. Und zwecklos reden, ist Toren Vergnügen."
"Nicht ein Vorteil! Und nun auf der andern Seite die Nachteile: Das Prinzip geopfert, der ernste, apolitische Kampf zur parlamentarischen Spiegelfechterei herabgewürdigt, das Volk zu dem Wahn verführt, der ... Reichstag sei zur Lösung der sozialen Frage berufen. — Und wir sollten aus praktischen Gründen parlamenteln? Nur der Verrat oder die Kurzsichtigkeit kann es uns zumuten."
"Was prinzipiell das Richtige, ist stets auch praktisch das Beste. Prinzipientreue ist die beste Politik."
Die Richtigkeit dieser Worte kann auch durch den Umstand nicht hinwegdisputiert werden, daß Wilhelm Liebknecht ebenfalls zum Verräter seiner besseren Einsicht wurde. Diese Richtigkeit wird nicht nur zu einer Verurteilung seines Lebenswandels als Politiker, nein, sie findet ihre hundertfache Bekräftigung durch die letzten fünfzig Jahre sozialdemokratischer Geschichte, die unzweifelhaft uns nichts als den Verfall und Niedergang ihres ursprünglich sozialistischen Wollens darbieten — ein Bankerott, der die Folge des Parlamentarismus und seiner Betätigung in der modernen Arbeiterbewegung ist.
Wir sehen daraus, daß der Leninsche Standpunkt zu Gunsten des Parlamentarismus nicht nur durch uns, als Anarchisten, eine absolute Verwerfung erfährt, er ist schon vor einem halben Jahrhundert von einem der namhaftesten Theoretiker des Marxismus als Verrat gebrandmarkt worden. Diesen Standpunkt heute, auch noch nach den Erfahrungen des letzten Jahrzehnts, als zulässig für die sozial-revolutionäre Bewegung des Proletariats zu erklären, ist ein bewußter Betrug, dessen sich Lenin schuldig macht.
Aber nicht nur das allein verübt er mit seiner Oktroierung des Parlamentarismus für die "kommunistischen" Parteien Westeuropas; er und diese werden positive Handlanger der Reaktion und stärken diese gegenüber den allgemein fortschrittlichen Tendenzen der Demokratie, die nur durch ein höheres Freiheitsideal, nicht aber durch die Finsternis eines anderen Herrschaftsprinzips überwunden werden darf. Letzteres aber geschieht, indem die "Kommunisten" in den Wahlkampf eintreten und, mit geradezu jämmerlicher Aussichtslosigkeit für ihre Kandidaten, nur eine Sprengung des sozialdemokratischen Votums zu Gunsten des Stimmverhätnisses der klerikalen oder deutschnational-konservativen Partei herbeiführen. Sie fördern damit die Reaktion, ohne auch nur im geringsten der Sache des Fortschrittes zu nützen, sie stärken die rückschrittlichen Tendenzen des öffentlichen Lebens, sie schwächen — auf dem für diese ausschlaggebenden Gebiet — die einzige Partei, die wohl keinen Sozialismus vertritt, aber zumindest die Demokratie gegen über der Monarchie, dem Klerikalismus und weißen Terror der blutigen Restaurationsgefahr.
Eine kurzsichtige Betrachtung mag der Meinung sein, daß auch unsere Wahlenthaltung solches bewirke. Diese Auffassung ist falsch. Die Nichtbeteiligung an dem politischen Augurengefecht einer staatlich ausgeschriebenen Wahl bedeutet die vollständige Abkehrung von der bürgerlichen und staatlichen Gesellschaft, die wir für sich lassen und zu deren Aufrechterhaltung freiwillig nichts beitragen zu wollen wir eben durch unser Nichtstimmen feierlich und sehr deutlich erklaren.
Für uns, die herrschaftslosen Sozialisten, ist der Parlamentarismus eine mit dem Untergang der Bourgeoisie und ihrer Ordnung mitzufallende Institution, deren Unzulänglichkeit und den Absolutismus jeden Staates nur schwach verhüllenden Funktionen sich heute schon herausstellen und darum von uns abgelehnt werden; um so mehr, als sich bereits allgemein die Ansicht Bahn bricht, daß das parlamentarische Vertretungssystem ein von Geist, Wissen und fachmännischem Können total verlassener Debattierklub der gesetzlichen Machtusurpation und Gewalt ist, der früher oder später durch etwas ersetzt werden muß, was einer berufsständischen Vertretung und damit dem sozialwirtschaftlichen Rätesystem, das allein wir anerkennen, ähnlich sieht.
Unsere Wahlenthaltung ist ein Protest der Nichtanerkennung des gesamten bestehenden Systems. Und es ist unbestreitbar, daß die wachsende Stimmenanzahl der Nichtstimmer sowohl für den Staat, als auch für alle seine Parteien ein alarmieren des Zeichen der Beunruhigung bildet, das sich fast überall in der Einführung des Wahlzwanges äußert, der aber auch zu umgehen ist.
Das weiß der Staat und jede Partei: Der Nichtstimmer hat sie durchschaut und verzichtet auf ihre Vertretung und Wahrnehmung seiner Interessen, weil er beide als Betrug erkannt hat. Und dadurch scheidet das Kontingent der Nichtstimmenden aus den Berechnungen aller Parteien und des Staates aus, die wissen, daß die Nichtstimmen den individuell wie kollektiv ihre eigenen, jenem in ihrer Totalität so oder so feindlichen Wege wandeln. Und wir unsererseits wissen, daß bei uns herrschaftslosen Sozialisten die Nichtbeteiligung an der Wahl Hand in Hand geht mit der Propaganda der direkten sozialwirt-schaftlichen Aufklärung und Aktion, mit der sozialen Verwirklichung unserer Ideen im Verhältnis zu unseren Kräften.
Wir lehnen also, um an ihm nicht mitschuldig zu werden, eine Beteiligung am Staatsbetrug ab, zugleich diesen bekämpfend und das Volk auf Wege der selbständigen Aktion des Sozialismus verweisend, weil dieser nur außerhalb und unabhängig vom Staat und allen seinen Institutionen verwirklicht werden kann und wird.
Gerade in diesem unserem Tun sind wir das fortschrittlichste Element der Bevölkerung und gestatten, im Kleinen wie im Großen, die Gesellschaft unseres näheren wie weiteren Umkreises bewußt in unserem Sinn um. Unser Nichtstimmen ist die Ablehnung einer passiven Unterordnung unter die Vertretung von unser Leben willkürlich, nach Staats - und Parteiinteressen allein zwangsweise und autoritär bestimmenden Politikern, deren Verfügungen wir aber rechtlich anerkennen müßten , auch als Minorität, wenn wir uns an dem Wahlkampf beteiligten, weil eine jede Beteiligung an ihm, das Herrschaftsrecht der Majorität gutheißt. Wir lehnen auch diese Herrschaftsform ab und da wir uns an der Wahl nicht beteiligen, kann die Majorität von uns keinerlei freiwillige Achtung und Unterwerfung beanspruchen, die wir ihr nicht schulden. So ist denn das Nichtwählen eine direkte Aktion der Nichtunterstützung der bestehenden Machtordnung und zugleich eine soziale Aktion im Sinne der selbständigen Initiative von Tat und Verwirklichung unserer Ideen und Ideale.
Wir lassen die noch im Wahnglauben und im interessenwahn ihrer bürgerlichen Staatsordnung Befangenen allein, hübsch unter sich und gehen unsere eigenen Wege. Das ist etwas ganz anderes, als die vorhandene Zahl von Stimmgebern zu zersplittern und durch die Aufstellung eigener Kandidaten die Sache der fortschrittlichen Parteien zu Gunsten der reaktionären zu fördern! Das tun gegenwärtig die "Kommunisten", die ausschließlich der Sozialdemokratie Schaden bereiten, ohne selbst auch nur das geringste selbständige Aktionsziel aufzustellen. Ja, sie haben dasselbe sogar verlassen, indem sie sich dem Parlamentarismus zugewendet haben und dessen Betrugsspiel mitmachen. Sie vollenden damit das, Was Lenin und der Bolschewismus überhaupt an der revolutionären Sache unserer Zeit verüben: Sie ruinierten diese durch das Pseudorevolutionäre des Marxismus und rechtfertigen, kräftigen dadurch die Reaktion. Und sie tun dies nur deshalb, weil ihr Ziel und Weg ein verfehlter, kein zur Befreiung führender ist, wie sich auch jetzt wieder zeigt.
Lenins Anerkennung des Parlamentarismus entspringt keinem anderen Motiv als diesem des Marxismus: Können wir vorläufig noch nicht die Knechtung des Proletariats durch den Schwindel der "Diktatur des Proletariats" erringen, so vielleicht doch die Mitherrschaft auf dem gewöhnlichen Weg des parlamentarischen Betruges und der Volksausbeutung. Denn herrschen, herrschen wollen sie auf jeden Fall, diese Feinde der Freiheit.
Aus: "Erkenntnis und Befreiung", 2. Jahrgang, Nr. 42, 43 (1920). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.