Pierre Ramus - Individuum, Staat und Gesellschaft

Was verstehe ich unter dem Wort "Individualismus?" Ich verstehe darunter die Anschauung, welche die gesellschaftlichen Rechte und Pflichten des Individuums laut dessen Eigenart konstatiert, und sich in all diesen Punkten nicht auf den Staat bezieht. Der Individualismus lehrt die überwiegende Bedeutung des Individuums; und während er die Natürlichkeit und Notwendigkeit sozialen Lebens für den Menschen vollständig anerkennt behauptet er gleichzeitig, daß eine jede Form gesellschaftlicher Organisation nur ein Mittel für die Zwecke des Individuums sein darf, da in allen Fällen der Mensch, die einzelne Persönlichkeit, den konstituierenden Teil eines sozialen Organismus bildet.

Sobald wir versuchen, eine ebenso deutliche Definition des demokratischen Staatssozialismus zu geben, begegnen wir mannigfachen Schwierigkeiten. Dieser Sozialismus existiert z.B. viel häufiger als Fragment der Politik und praktischen Tendenz, denn als gedankliche Anschauung und Bestrebung.

Gemeinhin gesprochen manifestiert er sich als philantropischer Zweck, nicht als philosophische Überzeugung. Der politische Staatssozialismus besitzt viele Jünger; die Gedankenwelt des Sozialismus nur wenige Anhänger. Nehmen wir aufs Geradewohl die Erziehungsfrage, welche die parlamentarischen Körperschaften aller Länder so vielfach beschäftigte; oder nehmen wir das Problem der Altersversicherung, das uns gegenwärtig in Österreich bewegt. Beide sind bezeichnend für den "parlamentarischen Sozialismus" — sie sind die eherne Tendenz dessen, was fälschlich Sozialgesetzgebung genannt wird, in Wahrheit aber ein "Staatsmonopol von Funktionen" ist. Es ist die Tendenz, die individuelle Aktion und Verantwortlichkeit bei Seite zu schieben, die Initiative des Individuums zu unterbinden durch den Staat, den Staat über das Individuum vorherrschend zu machen, den ersteren mit einem so absoluten Privilegium von Rechten zu bekleiden, daß die Rechte des Individuums rein temporärer und eventueller Natur werden, in der Tat, angesichts der Macht des Staates über das Leben des Individuums, vollständig verlöschen. Und alles dies kann der Staat nur durch diejenigen Mittel tun, die er als Steuern aus den Beherrschten zieht.

Vielleicht ohne es selbst zu wissen, sind die Sozialdemokraten, welche die Macht des Staates funktionell selbst in die kleinsten und größten Angelegenheiten des Individuums einführen, erweitern möchten, getreue Anhänger jenes bewährten alten Philosophen des Absolutismus: Thomas Hobbes; eine Neuauflage seines Hauptwerkes, betitelt "Leviathan" bedeutete für sie ihre beredsamste Apologie und Geistesbegründung. Ein Staatsmonopol von Funktionen — dies ist es, was sie erstreben, dessen sie den Gegenwartsstaat auch für fähig halten.

Aber was ist eigentlich ein Staat? Wir verstehen darunter das Ministerium, das Parlament, die verschiedenen legislativen und exekutiven (ausführenden) Machtorganisationen, durch welche der Staat sich äußert. Unter einem Staatsmonopol von Funktionen verstehe ich diejenige Tendenz, welche mit allen Mitteln des Staates darauf hinarbeitet, ihn selbst zu einer Art "Vorsehung für alle" zu machen. Diese Tendenz findet ihre naturgemäße Erfüllung in einer beständigen Erweiterung der Machtbefugnisse des Staates, woraus wieder resultiert, daß er instande wäre, jede individuelle Unternehmungskraft durch die Allmacht seines Seins sich zu unterwerfen, damit erreichte, daß jede individuelle Pflicht, jedes individuelle Recht, erst in zweiter Linie, seine alles umfassende Macht in erster Linie käme.

Pflichten können nur dann irgend welchen Zweck, eine wie immer geartete Bedeutung haben, wenn sie sich auf Menschen, Personen beziehen, hören aber auf, Pflichten zu sein, sobald sie nur mehr Beziehungen zu unpersönlichen Gegenständen und Institutionen haben. Somit, wenn wir von Pflichten dem Staate gegenüber sprechen, nehmen wir immer an, daß der Staat a1s Staat ein persönliches Wesen, einen quasi-persönlichen Charakter besitzt. Dies ist falsch. Es ist sogar dann falsch, wenn wir annehmen wollen, daß der Staat als "Persönlichkeit" jenes Charakteristikum besitzt, welches dem Volke eigen, das er beherrscht. Denn der Staat ist kein organischer Bestandteil des Volkes noch eine synthetische Form, unter deren Einfluß die Existenzen der Individuen eine höhere Einheit und Harmonie zu gewinnen vermögen.

Es ist nicht unmöglich, sich eine ideale Gesellschaft vorzustellen, deren Individuen und Einrichtungen so vollkommen sind, daß sie als vollendeter Komplex sich in einigen gigantischen Idealpersönlichkeiten, deren Individualitäten eigentlich nur den Ausdruck der übrigen Persönlichkeitssumme bilden, darstellen. Eine solche Gesellschaft existiert jedoch gegenwärtig nicht, und würde sie existieren, so könnte sie wohl eine Gesellschaft sein, nie aber ein Staat.

Im alltäglichen Gespräche benützen wir die Worte "Staat" und "Gesellschaft", als wären sie ein und dasselbe. Aber wir sollten es wissen: sie sind nicht dasselbe, trotzdem wir gewöhnlich den Unterschied zwischen beiden ignorieren möchten. Wir reden von "Pflichten des Volkes", wenn wir "Pflichten des Staates" meinen, von dem "Reichtum eines Volkes", wenn es weit richtiger wäre, der "Reichtum des Staates" zu sagen. Stillschweigend wird angenommen, daß der Staat der natürliche Vollstrecker des "Volkswillens", daß all das, was vom Volke getan werden müßte, nur von ihm getan werden kann, unter allen Umständen nur vom Staate getan werden solle und dürfe.

Diese Verwirrung ist der fruchtbare Boden für so manche Trugschlüsse; so lange sie besteht, werden die Grundlagen der individuellen Freiheit nicht klargelegt, noch auch verstanden. Staat sowohl als Volk sind Formen sozialer Organisation. Doch während der Staat im wesentlichen eine politische Körperschaft, ist das Volk keine solche. Ein Volk ist hauptsächlich ein ethischer Verband. Auch ein Volk mag immerhin eine politische Körperschaft sein; aber diese Existenzform ist nicht die konstituierende Qualität eines Volkes, noch auch drückt sie seinen Charakter aus. Eine politische Körperschaft ist eine Organisation, welche laut den Prinzipien der Autorität zu Zwecken der Beherrschung geschaffen wird.

Demgegenüber ist die Vereinigung der Individuen zu einem Volk nicht ein politisches Beherrschungsinstrument, sondern eine ethische und psychologische Notwendigkeit. Sie besteht als Einheit — soweit ein Volk eine solche ist — nicht deshalb, weil sie einer gewaltsamen Autorität, dem Staate, unterworfen, sondern durch den Zusammenhalt des gemeinschaftlichen Lebens, der Gemeinsamkeit von Interessen, Symphatien und Streben.

Die nationale Einheit der politischen Körperschaft kann und wurde dem Volke durch gewisse geschichtliche Vorgänge gewaltsam auferlegt, äußerlich auferlegt, die Einheit eines Volkes ist stets Sache der Innerlichkeit, der Verinnerlichung.

Ein Volk, eine Gesellschaft ist ein kollektiver, ein versinnbildlichter Begriff des Individuums. Kein gesellschaftliches Leben außerhalb der Individuen, nur in ihren gemeinsamen Betätigungen und Wesensarten tritt jenes hervor. Die Gesellschaft ist also eine gewisse Form der menschlichen Assoziation von Einzelnen in Familien, Freundschaftsbündnissen und Gewerbe - wie auch Geistesvereinigungen, und existiert nur in jenem Maße, als Individuen sich assoziieren und durch ihre Assoziation, also Vereinigung, die Gesellschaft bilden.

Noch mehr: Ein jedes der so assoziierten Individuen ist eine Persönlichkeit mit ethischen und sonstigen Charakterzügen, bestimmten Zielen, die in ihrer Totalsumme ein autonomes Individuum ergeben und es mit individuellen Rechten ausstatten, die unantastbar bleiben müssen. Seine Mitmenschen sind seine gleichen Kameraden und die verschiedenen Gruppen und Vereinigungen, welche sie bilden und aufbauen, existieren nur durch sie, in ihnen, haben ohne sie keinen Bestand, keine Möglichkeit.

Wir sehen also, daß die Gesellschaft immer erst das Resultat, daß sie abhängig ist von all den einzelnen Existenzen, unterworfen ist den Zwecken, welche in respektiver Folge die Zwecke der einzelnen Individuen sind. In dieser Unterwerfung der Gesellschaft und ihres Lebens unter den Bestimmungen des Individuums, die immer wieder zur Formation sozialer Gruppierung geleiten, liegt auch das ethische Band, welches die Gesellschaft zur ethischen Vereinigung der Individuen macht.

Als solche und genau in dem Maße als die Gesellschaft wirklich die Stufe einer wahrhaft ethischen, auf individueller Freiheit begründeten Gemeinschaft erreicht hat, gestattet sie die Manifestation der Charakterverschiedenheiten der Individuen, wird diesen ein Mittel zum Zweck der individuellen Entfaltung und ihres Auslebens.

Und nun — was ist ein Staat? Ein Staat ist die konstituierende Form einer politischen Körperschaft. Seine Eigenschaften finden ihren Ausdruck in der Gesetzgebung und seine hauptsächlichen Waffen sind jene der Gewalt. Etwas rauh, doch desto genauer ist es, wenn wir sagen, daß fast alle Staaten in der Weise in den Rahmen historischer Kontrolle traten, daß sie sich, dank historischer Zufälle und Ereignisse, als Machtgruppierungen über die "natürlichen" Gesellschaftsgruppen aufwerfen, welche sich durch die Gemeinschaftlichkeit der Arbeit und Svmpathie gebildet hatten. In vielen Fällen — wie z.B. in jenem des Despotismus während der italienischen Renaissance — wurde der rein äußerliche, mit dem natürlichen Wesen eines Volkes in gar keinem Zusammenhang befindliche Charakter der Staatsorganisation offensichtlich.

Es kann nichts Dümmeres geben, als die auch in der Arbeiterbewegung aufkommenden Begriffe, daß die Eigenschaft, als Staatsbürger angesehen zu werden, ein Mehr von Freiheit und Rechten bedeute. Der Staat ist eine Gewaltsgenossenschaft, der die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten nach Maßgabe ihrer Nützlichkeit für seine Interessen und vor allem ihrer Macht behandelt. Letztere anerkennt er nur so lange, als sie keine Gefahr für seine Existenz bedeutet. Indem also der freie Mensch ein Staatsbürger wird oder zu einem solchen gemacht wird, tritt er einer schon bestehenden Gewaltsorganisation bei, die ihn als Staatsbürger nur insoferne anerkennt, als er sich ihr fügt und einfügt.

Für die Arbeiter und deren Vertreter, die sich in naiv-unwissender Weise dessen so oft rühmen, daß sie heute Staatsbürger seien, hat dieses "Recht" um so weniger Bedeutung und Gehalt, als der Staat die Funktionsteilnahme an seinen Taten nur in dem Maßstabe geschehen läßt, als die Teilnehmer ökonomische Macht, also Reichtum besitzen, was eben bei der Arbeiterklasse gar nicht zutrifft. Die Anerkennung des Arbeiters als Staatsbürger ist also seine Aberkennung als revolutionärer Sozialist und seine legale Fesselung an die Scheinrechte und Scheinfreiheiten der bestehenden Gewaltssklaverei.

Die moderne Naturwissenschaft hat den alten Aberglauben, daß es im Menschen zweierlei Elemente, das egoistische und das altruistische, gebe, längst widerlegt. Jeder Mensch ist ein Individuum für sich, eine Einzelpersönlichkeit, und als ein Ich sucht er sich im Daseinskampfe zu behaupten. Es wäre nun aber ganz falsch, von diesem Grundsatze aus den Egoismus in einen Gegensatz zum Altruismus zu bringen. Vor allen Dingen deshalb, weil ja kein Mensch allein, für sich selbst isoliert leben kann, ohne ein Kretin zu werden. Deshalb ist die Gesellschaft, die Vereinigung, eine Notwendigkeit für jeden Menschen. Gerade sein Egoismus treibt ihn dazu, soziale Beziehungen anzuknüpfen. Diese Beziehungen müssen nun solche sein, daß es allen Menschen gegeben ist, laut den innewohnenden Anlagen ihre Persönlichkeit sich auszuleben. Nun erst tritt der geistig und ethisch entwickelte Egoismus als sogenannter Altruismus auf:

Die Gegenseitigkeitsbeziehungen der Menschen müssen vom egoistischen Ichstandpunkt aus solche sein, daß allen Menschen die Möglichkeit ihrer individuellen Entfaltung gegeben und verbürgt sein soll. Egoismus und Altruismus erweisen sich hier als einheitliche, entwickelte Geistestriebe: der sozial wirkende Egoismus ist der Altruismus, beide sind keine Gegensätze, sondern Betätigungen ein und desselben Lebenstriebes auf verschiedenen Gebieten. Der Egoismus beschäftigt sich vornehmlich im Rahmen der eigenen, persönlichen Angelegenheiten, der Altruismus ist der auf dem gesellschaftlichen Gebiete sich betätigende, auf dieses angewiesene Egoismus.

Manche werden behaupten, daß doch aber der Egoismus innerhalb der bestehenden Gesellschaft ganz scheußliche Formen und Blüten treibe. Gewiß, wir verweisen nur auf die kapitalistische Ausbeutung und Beherrschung. Doch man darf niemals übersehen, daß dieser Egoismus künstlich auf das niedere Gebiet der Betätigung für das Einzelindividuum allein beschränkt wird, indem die Organisation der gesellschaftlichen Einrichtungen eine derartige ist, daß jeder sein Ich nicht im Rahmen sozialer Vereinigung gefördert findet, sonder auf Kosten derselben sein Ich fördern muß, will er letzteres Ziel überhaupt erreichen können.

Nicht der Egoismus ist also schuld an den sozialen Verhältnissen, die herrschen; es sind im Gegenteil diese gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Entwicklung des egoistischen Instinktes zur altruistischen Geisteserkenntnis, daß das Wohl aller auch das Wohl des Individuums verbürge, verhindern.

Genau so verhält es sich auch mit dem Sozialismus. Was besagt denn eigentlich Sozialismus? Dieses Wort ist eine Übertragungsform für Gesellschaftliches und Vergesellschaftlichtes. Wo kann es aber eine Gesellschaft ohne Individuum geben? Und da man doch unmöglich annehmen kann, daß der Sozialismus, das gesellschaftliche, danach strebe, das Individuelle — also Grundlegende seines Bestandes — zu töten, ist der Sozialismus nichts als derjenige Gemeinschaftszustand, in dem das Individuum sich materiell frei entwickeln und entfalten kann. Dies ist nur möglich im Zustand sozialer Herrschaftslosigkeit.

Man sieht somit, daß der Name Anarchismus-Sozialismus erst im Stande ist, das ganze Strebensziel aller wirklich freiheitlich kämpfenden Menschen auszudrücken. Das Wort Sozialismus besagte nur das gesellschaftliche Prinzip und würde allein das individuelle überhaupt nicht berühren; wie es bei der modernen Sozialdemokratie ja tatsächlich der Fall, für die der Sozialismus nicht den sozialen Ausdruck individueller Freiheit bildet, sondern die den Sozialismus in eine demokratische Zwangsjacke steckt und dadurch alles Individuelle des Leben hassen muß und auszurotten bestrebt ist.

Aber auch historisch sind Individualismus und Gesellschaft oder Sozialismus keine Gegensätze. Wohl hat der französische Sozialist Pierre Leroux das Wort Sozialismus im Gegensatzsinne zum Individualismus gebraucht sehen und hören wollen. Aber er meinte damit nur das Prinzip des heutigen Ausbeuterindividualismus, der mit der Idee echter individueller Freiheit nicht nur nichts zu tun hat, sondern diese erstickt.

Sonst aber hatten die wirklichen Denker und Begründer des Sozialismus den Individualismus nie ausgeschaltet oder verworfen; sie haben das Prinzip individueller Freiheit stets sehr hoch geschätzt. Verfasser dieses Aufsatzes erinnert nur an die französischen Sozialisten Morelli, Mably, Fourier, die Saint-Simonisten, Cabet, Louis Blanc, die durchaus aus den individualistischen Gedankenzügen der großen Revolution heraus ihre sozialistischen Gedanken ausarbeiteten; man erinnere sich doch an den großen englischen Sozialisten Robert Owen und dessen Jünger Thompson der schon 1824 - vor Marx - die Mehrwertslehre und Ausbeutungstheorie aufstellte, die beide in all ihren sozialistischen Theorien sich aufs innigste dem Philosophen des Individualismus, Jeremias Bentham, anschlossen.

Immerhin drängt der politische Fortschritt in jener Richtung, welche den Staat dem Volke entlehnten Funktionen diesem wiedergibt. Die einschränkende, beeinträchtigende Macht dieses Fortschrittes wird das Mittel eines völkischen Lebensbegriffes, der als Staat beständig mehr verdrängt, seine ethischen Einflüssen unterordnet ist, die ihrerseits wieder das Leben der Gesellschaft bestimmen bis zu ihren höchsten Entwicklungszielen: die Staatslosigkeit. Anarchie.

In der Gegenwart haben wir somit zwei klare, deutlich wahrnehmbare Strömungen und Bestrebungen. Wir besitzen einerseits die unaufhörlich zunehmende, gewinnende und sich ausbreitende Tendenz, die ihr Gleichgewicht und ihre Erfüllung in der absolut gleichen Freiheit für Alle findet — in der freien Vereinigung und Vergenossenschaftlichkeit freier Individuen, verbunden durch gegenseitige Sympathie, gleiche Interessen und Arbeit. Andererseits sehen wir eine Staatsmaschinerie, welche bestraft, Gesetze über die Individuen verhängt, deren letztes Argument die Gewalt, der Zwang ist. Nur in der Verdrängung der letzteren Richtung durch die erstere ist es möglich, die Endzwecke des gesellschaftlichen Lebens zu erreichen: Das Ideal persönlicher Freiheit vervollständigt durch das verbrüdernde soziale Leben.

Noch ist kein Volk das was es sein sollte, laut seinem Wesen als ethischer Organismus. Die psychologischen Verbindungen gesellschaftlicher Einigkeit — was Carlyle die "organischen Fasern" nannte — sind überall noch unvollkommen, sowohl äußerlich wie auch innerlich. Noch herrscht die Gewalt im sozialen Leben, wird dieses als Unmöglichkeit angesehen ohne jener. Allein dieser Umstand entspringt eben jener Unvollkommenheit; und in dem Verhältnisse, als diese überwunden wird, d.h. die Menschen das Ideal wahrer Brüderlichkeit verwirklichen, die echte Gemeinschaftlichkeit des Lebens im gesellschaftlichen Rahmen um sich greift, verschwindet die Möglichkeit der Gewalt.

Im Stadium idealer Vollkommenheit der menschlichen Gesellschaft — wenn der Volkscharakter als ethisches Bindeglied für alle eine Wirklichkeit geworden — ist kein Raum, keine Betätigungsmöglichkeit für autoritäre Herrschaft und Gesetze. Im gleichen Verhältnis zur Entwicklung, zum Fortschritt der Gesellschaft wird die Machtbefugnis des Staates enger, kleiner und kleiner werden.

Sein Platz wird endlich vollständig ausgefüllt durch das freie kommunistische Genossenschaftswesen der Individuen auf der Grundlage ihrer psychologischen Zusammengehörigkeit und Einheit.

Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 4,5,7 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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