Rudolf Großmann - F. Domela Nieuwenhuis (1919)
Vorbemerkung: F. Domela Nieuwenhuis, ein Fackelträger im Kampfe der Menschheitsbefreiung aus den Banden des Kapitals, ist dank der sonderbaren Revolutionierung der Gehirne unserer Arbeiterschaft durch die Sozialdemokratie, hierzulande fast unbekannt. Diese Schuld der die Massen seit über 30 Jahren unentwegt korrumpierenden österreichischen Sozialdemokratie sei hier festgehalten. Der 70. Geburtstag Nieuwenhuis fiel in die große Zeit, in der die verbrecherische Zensur ihr schändliches Werk an dem nachfolgenden Aufsatz verübt hätte. Umsomehr ist es nun Ehrenpflicht, den Deutsch-Österreichern, die der vollkommenen Vertrottelung so nahe sind, als sie der vollständigen Freiheit und Befreiung fernestehen, Kunde von diesem Mann und seiner Bedeutung zu geben.
Karl F. Kocmata
„Millionen beschäftigen sich, daß die Gattung bestehe, aber durch wenige nur pflanzt die Menschheit sich fort.“ (Friedrich Schiller)
In dem Sturmgebraus des Weltkrieges soll — notgedrungen nur in. kurzen Worten, flüchtig — eines Mannes gedacht werden, dessen ganzes Leben nicht nur der Sache der Arbeiterbewegung geweiht war und ist, sondern der auch vor rund einem Vierteljahrhundert das Emporsteigen des Weltkrieges am Horizont der europäischen Geschichte voraussah; — eines Holländers, dessen Vorschläge und Lehren unbedingt die einzigen gewesen wären, jenen — den Weltkrieg — bannen zu können.
Darum ist das Leben von F. Domela Nieuwenhuis, der am 31. Dezember 1918 ein Alter von 72 Jahren erreicht, ein bedeutsames Symbol. Große Teile des holländischen Volkes ließen dieses Ereignis nicht vorübergehen, ohne ein Jubelfest zu feiern. Sie ehrten in F. Domela Nieuwenhuis einen der ersten, aufopferungsvollsten Vorkämpfer und Begründer des Sozialismus in Holland, der als Bannerträger dieses Ideals aber eine über die engeren Grenzen seines Heimatlandes hinausreichende, internationale Bedeutung besitzt.
Umso bemerkenswerter, daß sowohl die reichsdeutsche, als auch die österreichische Sozialdemokratie, deren Leitartikel oft den nichtigsten Zwergen des Alltages und der Scheingröße Weihrauch spenden, über F. Domela Nieuwenhuis nichts zu sagen wußte; kein Wort, auch nicht die bescheidenste „objektive“ Würdigung.
Diejenigen, die Nieuwenhuis aus seinem Leben, seinen Schriften und aus seiner fast vier Jahrzehnte umfassenden Betätigung im Dienste der sozialen Befreiung kennen, wird diese Wertschätzung für eine der gigantischsten Gestalten der Idee und Weltanschauung der Freiheit nicht überraschen.
Nieuwenhuis ist sich nämlich treu geblieben — und man weiß es allgemein: dieser Mann wird sich treu bleiben bis zum Grabe. Nur durch diese ihn durchglühende Treue zu seinem Ideal ist es überhaupt erklärlich, woher seine robuste Kraft und zähe Ausdauer stammt, mit der er auch heute noch an der Spitze der holländischen, wahrhaft freisozialistischen Bewegung zu stehen vermag, als Redakteur an deren wöchentlich zweimal in großem Format erscheinenden Hauptorgan, dem „Vrije Socialist“ („Freier Sozialist“) — ungebeugt, trotz der Last der Jahre, in Wahrheit nur ein zweimal Sechsunddreißigjähriger.
Aus seiner prächtigen, 600 Oktavseiten umfassenden Autobiographie (erschienen 1911) erfahren wir, daß Nieuwenhuis am 31. Dezember 1846 zu Amsterdam das Licht der Welt erblickte. Er war der Sprößling einer begüterten Familie und wurde von dieser der Kirche geweiht, der er, als Prediger der lutherischen Gemeinde im Haag, mehrere Jahre voranstand.
Doch noch in jungen Jahren wandte er sich von der Kirche ab. Schon in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre des verflossenen Jahrhunderts finden wir ihn, Fühlung gewinnend, in der Arbeiterbewegung. Bald darauf als aktiven Pionier des Sozialismus — die ersten Samenkörner der modernen und künftigen Bewegung desselben in Holland ausstreuend.
Als solcher wurde er in die holländische Parlamentskammer gewählt. Hier beginnt nun die Eigenart von Nieuwenhuis, die ihn zu einer bleibenden Säule in der Geschichte der sozialen Idee aller Länder macht. Seine bleibende Bedeutung, das Ragende seines Lebens ist vor allem darin zu erblicken, daß er dem Volke und dessen Interessen treu blieb. Um nicht in dem Sumpfe des Parlamentarismus unterzugehen, der die gesamte Sozialdemokratie verschlungen hat — entsagte er dem Parlamentarismus, das Volk auf den Weg sozialwirtschaftlicher Eigenkraft, der geistigen Selbsterziehung und Initiative verweisend.
Allein die volle Wucht seiner Persönlichkeit liegt in einem zweiten Moment. Seine schon heute unvergängliche Größe ist darin zu erblicken, daß Nieuwenhuis schon vor rund 25 Jahren die kommende Katastrophe des Weltkrieges wahrhaft prophetisch voraussah und darauf hinarbeitete, daß die Völker aller Länder von ihr verschont bleiben mögen, für die Friedenserhaltung reif, aktionskräftig gemacht und dazu erzogen würden! Die Tragweite dieser seiner Lebensarbeit für uns alle können wir nur ermessen — heute mehr als je! —, wenn wir wissen, daß alle seine, auf jene Aufgabe abzielenden Vorschläge und Anregungen am grimmigsten von den Wortführern der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie — von Wilhelm Liebknecht, August Bebel und Viktor Adler — bekämpft wurden.
Gegenwärtig und an dieser Stelle kann der Kampf Wider Nieuwenhuis nicht näher ausgeführt, dargelegt werden. Nur eines sei gesagt. Ein künftiger Kulturchronist unserer unglücklichen und sich selbst vertilgenden Zeit wird sein Urteil über die Frage nach den wahren Schuldtragenden an dem Ausbruche des Weltkrieges nicht fällen können, ohne die Materialien zu Rate zu ziehen, in denen jener Kampf niedergelegt ist.
Es sind dies die Protokolle der internationalen sozialdemokratischen Kongresse von 1891 (Brüssel) und 1893 (Zürich). Wer immer sich der Mühe unterzieht, jene Protokolle zu lesen, wird aus ihnen ersehen, daß es eine der boshaftesten Scheinheiligkeitsmethoden der Sozialdemokratie ist, wenn sie die Schuld an dem Weltkriege nur den Regierungen in die Schuhe zu schieben trachtet. Jedermann wird, nach Lektüre jener Protokolle, zu der klaren Erkenntnis gelangen müssen, die einstmals das Urteil des künftigen Kulturhistorikers bilden und also lauten wird: Das unvermeidliche Herannahen der Katastrophe des Weltkrieges wurde rechtzeitig signalisiert und vorausgesehen — eben von Nieuwenhuis; daß sie sich entladen konnte, daran tragen weder die Regierungen noch die Völker — beide: gemeinsame Opfer des gleichen Taumels ungeheuerster Interessenkonflikte! —, sondern vielmehr alle, die die Schuld, die 25 Jähre Alles hinderten, verleumdeten, schändeten und hintertrieben, was den Ausbruch des Weltkrieges hätte unmöglich gemacht.
Die Schuldigen an der Möglichkeit eines Weltkrieges, ja an seiner Inszenierung sind diejenigen, die Nieuwenhuis auf jenen Kongressen bekämpften und verlachten; die ihn und seine Mitkämpfer bis in die jüngste Vergangenheit hinein für die breiten Massen mundtot zu machen suchten, um die letzteren ungestört als sozialdemokratisches Rohmaterial ausnützen zu können. Die nichts taten, um die Anschauungen eines F. Domela Nieuwenhuis zum Gemeingut des Volkes zu machen, im Gegenteil Alles, um jene Lehren und deren Träger zu verunglimpfen. Freilich, sie haben gesiegt, diese tapferen Bekämpfer eines Nieuwenhuis und seiner Jünger, das ist unbestreitbar. Nur wollen wir nicht übersehen und vergessen, daß sie gesiegt haben, indem sie — die Bahnbrecher, die Wegbereiter nicht des Sozialismus, sondern des Weltkrieges geworden sind. Und „das war kein Heldenstück, Oktavio!“ Nieuwenhuis hat getan, was nur menschenmöglich, um das sich nun vor unseren Augen vollziehende Fatum. Dieses Resultat der gesamten letzten 25 Jahre verfehlter Arbeiterbewegung unter sozialdemokratischer Führung, hinanzuhalten, abzuwenden, zu hintertreiben. Es ist ihm nicht geglückt — das Verhängnis nahm seinen Lauf, mußte ihn nehmen. Es wird die Zeit kommen, wo wir den Völkern deutscher Zunge deutlicher werden sagen können, was Nieuwenhuis für sie wollte, was sie in ihm zu ehren haben. Heute können wir es nicht. Vorläufig genüge, daß wir ihm danken, als einem Apostel des Friedens und — was sicherlich wichtiger — der Kraft der Arbeiterklasse, den Frieden zu wahren, welcher Kraft wir es in einem kaum allgemein bekannten Maßstabe zu verdanken haben, wenn Holland heute noch seine Neutralität zu wahren gezwungen ist.
Ein leuchtendes Vorbild des reinsten, edelsten Ideals, so weit es in dem geistigen Reichtum einer Persönlichkeit verkörpert werden kann — das ist uns F. Domela Nieuwenhuis. Wir grüßen ihn im Zeichen des wahren Freiheitsgeistes, als Bannerträger der Menschheitssache!
Aus: Ver! III (1919), S. 3-6.
Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2010/12/07/rudolf-grossmann-f-domela-nieuwenhuis-1919/