Maurice Schuhmann - Max Stirner: Das schwere Erbe des Anarchismus?

Zum 200. Geburtstag und 150. Todestag des Philosophen Max Stirner

„Indeß bevor er [P.-J. Proudhon] noch daran gegangen war, die anarchistische Theorie `im Jahre 1848′ auseinanderzusetzen, war die Arbeit schon von dem Deutschen Max Stirner (Pseudonym für Caspar Schmidt) im Jahre 1845, in dem Buche `Der Einzige und sein Eigenthum’ besorgt worden. Max Stirner hat somit ein ziemlich wohlbegründetes Recht auf den Titel des Vaters der Anarchie“ polemisierte Georg Plechanow in seiner 1894 veröffentlichten Schrift „Anarchismus und Sozialismus“.

Ein paar Jahre zuvor hatte bereits der deutsch-schottische Anarchist und Literat John Henry Mackay sich Stirners Erbe angenommen und ihn zum Vorläufer des individualistischen Anarchismus verklärt – eine Einordnung, die sich bis heute in den meisten einschlägigen Nachschlagewerken findet. Dennoch tat und tut sich die anarchistische Bewegung schwer mit diesem Philosophen; er nimmt die Rolle des sprichwörtlichen „schwarzen Schafes“ in der anarchistischen Großfamilie ein. Während der anarchistische Historiker Max Nettlau bedenkenlos Max Stirner ein eigenes Kapitel im „Vorfrühling der Anarchie“ widmete und bereute, daß er Mackay den Vortritt beim Verfassen einer Stirner-Biographie ließ, hob der deutsche Anarcho- Syndikalist Rudolf Rocker besonders dessen Sonderstellung am Rande des Anarchismus hervor und der anarchistische Fürst Pjotr Kropotkin wetterte gegen den „aristokratischen Individualismus“ eines Stirners. Auf der anderen Seite – besonders in Kreisen von nicht-anarchistischen Stirner- KennerInnen – wird vor der Verkürzung Stirners auf seine, mit dem Anarchismus konform gehenden Aussagen gewarnt bzw. eine Einordnung in die Traditionslinie des Anarchismus per se verworfen. Die Bandbreite seiner Rezeption in den unterschiedlichsten politischen und kulturellen Strömungen scheinen die Argumentation zu unterstützen.

Wer aber war Max Stirner und was war seine Philosophie, über die und deren Erbe so viel Uneinigkeit herrscht?

Am 25. Juni 1806 wurde Johann Caspar Schmidt, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, in Bayreuth geboren. Mit 20 Jahren zog es ihn nach Berlin, wo er an der Berliner Universität, der heutigen Humboldt Universität, Philosophie, Philologie und Theologie bei Koryphäen wie Hegel und Schleiermacher studierte. Seine Abschlußarbeit „Über Schulgesetze“ von 1834 stand noch deutlich unter dem Einfluß seines Lehrers Hegel. Nach seinem Studium arbeitete Max Stirner, wie er seit seiner Studienzeit aufgrund seiner auffällig hohen Stirn genannt wurde, als Privatlehrer. Seit dem Jahre 1841 tauchte er regelmäßig in der Kneipe Walburg und später dann in der Hippel’schen Weinstube auf, wo sich um die beiden Brüder Bruno und Edgar Bauer ein Kreis von oppositionellen Intellektuellen formierte. Begünstigt durch das Gesprächsklima, das in jenem Intellektuellenzirkel, der als „Kreis der Freien“ bekannt wurde, herrschte und in Diskussionen mit anderen Junghegelianern wie Ludwig Feuerbach, Friedrich Engels und Arnold Ruge, vollzieht sich sein Bruch mit der Philosophie seines geistigen Mentors Hegel. In jener Zeit entstehen auch seine ersten Beiträge für oppositionelle Zeitungen, in denen er sich über tagesaktuelle Probleme der Philosophie, Pädagogik und Theologie äußerte. Sein dreiteiliger, 1842 in der von Karl Marx redigierten Rheinischen Zeitung erschienener Beitrag „Über das unwahre Prinzip unserer Erziehung“ gilt als ein Klassiker der Alternativpädagogik und beeinflußte maßgeblich das Waldorfpädagogikkonzept eines Rudolf Steiners als auch die antipädagogischen Diskussionsansätze der 1970er und 80er Jahre.

Als Max Stirners Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigentum“ 1844 bei dem für die Veröffentlichungen von oppositionellen sozialistischen und demokratischen Publikationen bekannten Verleger Otto Wiegand erschien, erregte es kurzfristig die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. In einer kühnen Weise polemisierte Stirner gegen Hegel und seine eigenen Zeitgenossen, die ihm in seiner Kritik am Hegel’schen System nicht weit genug gingen, um die Philosophie wieder auf das konkrete, sich-selbst bewußte Individuum zurückzuführen, als Maß aller Dinge. Das programmatische Leitmotiv seines Werkes – „Ich hab’ Meine Sach’ auf Nichts gestellt!“ – ist dem Gedicht „Varitas! Vanitatum vantas!“ von Johann Wolfgang Goethe entnommen – wie auch der sehr zentrale Begriff der „Eigenheit“. Hinter dem Begriff der „Eigenheit“ verbirgt sich im Werke Stirners die zentrale Eigenschaft seines idealisierten, konkreten Individuums – dem „Eigner“. Es handelt sich dabei um die Rückbesinnung auf die eigene Individualität und die Anerkennung der eigenen Potentiale als Grenzpfosten der Freiheit. Er predigt in diesem Zuge einen existenzialistischen Egoismus, der mit der Negierung jeglicher, dem konkreten Individuum übergeordneten Werte, Prinzipien und Institutionen einhergeht.

Die Negierung der Theologie, des Staates und der das Individuum einengenden gesellschaftlichen Begrenzungen auf dem Weg zur Befreiung des Individuums weisen deutliche Bezüge zu anderen anarchistischen TheoretikerInnen auf. Ebenso besitzt sein alternatives Gesellschaftskonzept, welches er unter das Schlagwort „Verein von Egoisten“ faßte, eine starke Affinität zur Kropotkin’schen Vorstellung einer „freien Vereinbarung“. Bereits vor Nietzsche entwertet er alle Werte und die Moral und erhebt sich – philosophisch gefestigter als sein potentieller Vorläufer, der französische Erotikschriftsteller Marquis de Sade – zum Überwinder jeglicher Moral, die das konkrete Individuum bedrückt. Bei diesem Schritt zeigt sich eine deutliche Differenz zu anderen anarchistischen Klassikern, die von einer naturgegebenen Moral – dem positiven Menschenbild innewohnend – ausgehen. Desweiteren bietet seine konsequente Ablehnung und Bekämpfung von „fixen Ideen“, die er als Ideen bezeichnet, die sich den Menschen unterworfen haben (überindividuelle Ziele wie z.B. das Streben nach „Freiheit“, „Gleichheit“ oder Prinzipien), bei oberflächlicher und verkürzter Lesart die Möglichkeit, ihm die Zugehörigkeit zum Anarchismus abzusprechen. Ebenso wird wiederholt ins Feld geführt, daß er sich negativ in seinem Werk über den französischen Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon äußerte.

In mehreren deutschen Staaten wurde dieses Werk sofort verboten; in Sachsen dauerte allerdings das Verbot nur wenige Tage. Es wurde wieder zugelassen mit der Begründung, daß es zu absurd sei, um eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darzustellen. Auch seine Diskussionspartner lassen nicht lange mit einer Reaktion auf sich warten. Ludwig Feuerbach, der Bruno Bauer-Schüler Szeliga, Moses Hess Karl Marx und Friedrich Engels greifen zur Feder. Erstgenannte, um sich gegen die von Stirner implizierten philosophischen Angriffe zur Wehr zu setzen, letztere beiden, um im Rahmen ihrer Auseinandersetzung in der „Deutschen Ideologie“ unter dem Titel „Sankt Max“ ihre eigene Position zu schärfen – im Falle Engels, der noch kurz zuvor die Intelligenz und den Scharfblick Stirners gepriesen hatte, um auch die eigene Position zu revidieren. Ihre sehr polemische Auseinandersetzung, die von ihrer Länge her den Originaltext Stirners überbietet, erschien erst postum im Jahre 1903. Zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung im Jahre 1845 hatte bereits das Interesse an einer philosophischen Auseinandersetzung mit Stirner nachgelassen.

Stirner trat in den Folgejahren noch als Übersetzer von Jean Baptist Says „Ausführliches Lehrbuch der praktischen politischen Ökonomie“ und Adam Smiths „Untersuchungen über das Wesen und die Ursachen des Nationalreichtums“, als Herausgeber einer zweibändigen Ausgabe der „Geschichte der Reaktion“ in Erscheinung und veröffentlichte einige, wenig beachtete Artikel. Beide Übersetzungen galten bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts als Standardübersetzungen in den Wirtschaftswissenschaften.

Der Versuch Stirners, eine Milchversorgung für Berlin aufzubauen, scheiterte kläglich an der fehlenden Werbung und bescherte ihm einen finanziellen Ruin, aus dem er nieder wieder heraus kam. Seine letzten Lebensjahre waren von der Armut und der Flucht vor seinen Gläubigern geprägt. Er verstarb am 25. Juni 1856 und wurde in einem Armengrab auf dem Sophienstädtischen Friedhof in Berlin verscharrt. Jahrzehnte später nahm sich die Stadt Berlin seines Grabes an und erklärte es zu einem „Ehrengrab“ (s. http://www.berlin.friedparks.de/such/gedenkstaette.php?gdst_id=281) und benannte eine Straße nach ihm.

Der deutsch-schottische Literat John Henry Mackay beschäftigte sich Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts mit Stirner, widmete ihm seinen Sittenroman „Die Anarchisten“ und verfaßte eine akribisch recherchierte Biographie des „bedächtigen Schrankenhassers“ (Engels). Fast zeitgleich begann – unabhängig von seinem Bemühen – eine neue Welle der Stirner- Rezeption.

Den Auslöser bildete die aufkeimende Nietzscherezeption in den 90er Jahren, die auf der Suche nach Ursprüngen und Vorläufern Nietzsches auf Stirner stieß. Die Frage inwieweit der Dichterphilosoph den Junghegelianer gelesen und rezepiert hat, ist umstritten und wird auch noch in der neueren Nietzscheliteratur kontrovers diskutiert. Unbestreitbar ist, daß er Stirner kannte und einem seiner Studenten ihn zur Lektüre empfahl. In der Folgezeit wurde Stirners Philosophie von der Freiwirtschaft als philosophischer Unterbau zu Rate gezogen, diente bekannten Dadaisten und Surrealisten als Inspirationsquelle und bereitete dem Existenzialismus maßgeblich den Weg.

Getreu der alten Weisheit, daß der Prophet im eigenen Lande nichts gilt, hat sich in Frankreich, wo er durch die beiden Vordenker der Postmoderne – Jacques Derrida und Michel Foucault – rehabilitiert wurde, und vor allem in Italien, im Gegensatz zu Deutschland, in den letzten Jahren eine ernsthafte und unverkrampfte akademische Kultur der Auseinandersetzung mit Max Stirners Philosophie herausgebildet. Das renommierte „Istituto Italiano per gli Studi Filosofici“ (IISF) lud z.B. im Mai diesen Jahres zu einem wissenschaftlichen Symposium über das Werk Stirners unter dem Titel „Il Nichilismo di Max Stirner e la legge umana e divina“ nach Neapel.

In Deutschland war die zweite Stirner-Renaissance in den 60er Jahren, die auch heute noch nachwirkt, von der Marx’schen Kritik an Stirner geprägt – aktualisiert durch die viel beachtete 1966 veröffentlichte Promotion „Die Ideologie der anonymen Gesellschaft“ des kommunistischen Historikers Hans G. Helms. Erst langsam kommt es zu einer objektiveren Auseinandersetzung mit Stirners Philosophie. Die Renaissance anarchistischen Gedankenguts in den 60er Jahren beförderte auch in den Kreisen der 68er Bewegung Max Stirner wieder ans Licht. Unterschiedliche AutorInnen lieferten sich in Publikationen des SDS Stellvertreterkriege über den emanzipatorischen bzw. reaktionären Gehalt des Stirner’schen Werkes. In den Publikationen des Neo- Anarchismus spielt(e) er nur noch eine untergeordnete Rolle – genauso wie jene Strömung des individualistischen Anarchismus, die sich auf ihn beruft.

Anläßlich seines 200. Geburtstages und seines 150. Todestages finden in Deutschland diverse Veranstaltungen über Stirners Leben und Werk statt. Am 25. Juni wird eine Ausstellung in der Stadtsparkasse in Bayreuth eröffnet, in der über das Leben, Werk und die unterschiedlichen Rezeptionslinien informiert wird; ab Oktober wird diese Ausstellung in Berlin gezeigt werden. Weiterhin lädt die Max Stirner Gesellschaft vom 25. bis 28. Oktober zu einem internationalen und interdisziplinären Stirnersymposium unter dem Titel „Zur Aktualität der Philosophie Max Stirners. Seine Impulse für eine interdisziplinäre Diskussion der kritisch- krisischen Grundbefindlichkeit des Menschen“ nach Berlin ein.

Quelle: LPA


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