Manfred Ehmer - Grundzüge der Philosophie Max Stirners
Der heute nur wenig bekannte Philosoph Johann Kaspar Schmidt veröffentlichte im Jahre 1844 unter dem Pseudonym Max Stirner sein Hauptwerk "Der Einzige und sein Eigentum", in welchem er eine äusserst radikale Philosophie der Tat entwickelte, die sein Biograph und Wiederentdecker John Henry Mackay durchaus zutreffend als "individualistischen Anarchismus" bezeichnete.
Anarchismus - dies Wort wird in seiner ursprünglichen Bedeutung gebraucht - ist die Lehre einer zu erstrebenden Gesellschaftsordnung ohne Herrschaft und ohne autoritären Zwang. Das Adjektiv "individualistisch" hat insofern seine Berechtigung, als der Ausgangspunkt im Denken Stirners in der Tat das zum Bewusstsein seiner Einmaligkeit erwachte Individuum ist.
Stirners Buch, das zweifellos zu den bemerkenswertesten Zeugnissen anarchistischen Denkens gehört, erregte jedoch nur wenig Aufsehen und ist auch bald völlig in Vergessenheit geraten; erst um die Jahrhundertwende kam es in kleineren Kreisen zu einer Renaissance der Stirnerschen Philosophie. Dabei ist diese Philosophie selbst heute noch in höchstem Masse aktuell, ist ihr Ziel doch in der letzten praktischen Konsequenz kein anderes als die Befreiung der Menschheit aus den Fesseln jeglicher Knechtschaft. Ohne irgendeine neue Ideologie konstruieren zu wollen, hat dieser aussergewöhnliche Denker Forderungen aufgestellt, die an Radikalität auch von den revolutionären Sozialisten nicht zu übertreffen sind.
Daniel Guerin schreibt: "Stirner, der dem Gegenbegriff zum Sozialismus, dem des Individualismus, eine neue Bedeutung verliehen hat, pries den Wert des 'Einzigen', des Individuums, das, keinem gleich, frei ist in dem Masse, in dem es bei sich selbst ist. Während einer langen Zeit ist dieser Philosoph in den Kreisen der anarchistischen Denker ein Aussenseiter gewesen... Heute erscheint die Kühnheit seiner Einsichten in vollem Licht. Dafür gibt es Gründe. Die gegenwärtige Gesellschaft leidet unter hochperfektionierten Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen, die Notwendigkeit, das Individuum aus seiner Entfremdung, der industriellen Versklavung und dem totalitären Konformismus zu lösen, ist das grosse Thema der modernen Sozialtheorien... Stirner, ein Autor des 19. Jahrhunderts, hat mit seiner Philosophie einige dieser Fragen vorweggenommen; und er hat sie zu beantworten versucht. Seine Therapie ist die Selbstbefreiung des Einzelnen." (1)
Da gerade die modernen Sozialtheorien zunehmend die Tendenz entwickeln, das Individuum zu vernachlässigen, so scheint es uns umso mehr angebracht, auf einen Denker hinzuweisen, der wie kaum ein anderer die überragende Bedeutung der Persönlichkeit betont hat. Dessen Gedanken erscheinen gegenüber den herrschenden kollektivistischen Strömungen geradezu als revolutionär.
Der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, hat den Gedankengang, der dem Buch "Der Einzige und sein Eigentum" zugrundeliegt, folgendermassen zusammengefasst: "Stirner ist wie Nietzsche der Ansicht, dass die Triebkräfte des menschlichen Lebens nur in der einzelnen, wirklichen Persönlichkeit gesucht werden können. Er lehnt alle Gewalten ab, die die Einzelpersönlichkeit von aussen formen, bestimmen wollen. Er verfolgt den Gang der Weltgeschichte und findet den Grundirrtum der bisherigen Menschheit darin, dass sie nicht die Pflege der Kultur der individuellen Persönlichkeit, sondern andere, unpersönliche Ziele und Zwecke sich vorsetzte. Er sieht die wahre Befreiung des Menschen darin, dass dieser allen solchen Zielen keine höhere Realität zugesteht..." (2)
Die Bildung und Entwicklung einer wahrhaft freien Persönlichkeit, die Selbstverwirklichung des Individuums also, das ist das Ziel, das Max Stirner als "individualistischer Anarchist" im besten Sinn des Wortes aufstellt, dahin geht sein ganzes Streben und Trachten. Selbstverwirklichung, das heisst vor allem Freiheit von allen geistigen und materiellen Fesseln. Allein das leibhaftige Individuum - die konkrete Ich-heit - ist seiner Ansicht nach die eigentliche und ursprüngliche Realität; alles was über das Ich hinausgeht, politische Systeme, Gedankensysteme, Glaubenssysteme, hat im Grunde seine Existenz nur der freien Schaffenskraft des Ich zu verdanken.
Und doch ist es eine Tatsache, dass sich die Individuen von den zahllosen politischen und ideologischen Systemen, die sie selbst erst hervorgebracht haben, versklaven lassen. Sie tun dies in Unkenntnis ihres eigentlichen Selbst, ihrer wahren souveränen Persönlichkeit. Jene aber zu erkennen und geltend zu machen, das ist Sinn und Aufgabe des Egoismus. Stirner gebraucht das Wort "Egoismus" in seinem genauen ethymologischen Sinn; es bedeutet keineswegs etwa eine Vernachlässigung des Mitmenschen, sondern nur die Wahrnehmung ureigenster Interessen. Dieses Bekenntnis zum Egoismus ist zugleich eine Kampfansage an alle Gewalten, die das Leben der Menschen bestimmen wollen.
Im "Einzigen" heisst es: "Ich Meinesteils nehme Mir eine Lehre daran und will, statt jenen grossen Egoisten ferner uneigennützig zu dienen, lieber selber der Egoist sein... Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache 'des Menschen'. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw. sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist - einzig, wie ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich!" (3)
Der Egoismus, den Stirner predigt, ist eine höhere Individualethik, frei von Gier, Neid und Konkurrenzdenken, weit entfernt vom Egoismus im landläufigen Sinne. Ja, er ist sogar im höchsten Grade altruistisch So heisst es zum Beispiel auch: "Soll Ich etwa an der Person des Anderen keine lebendige Teilnahme haben, soll seine Freude und sein Wohl Mir nicht am Herzen liegen, soll der Genuss, den Ich ihm bereite, Mir nicht über andere eigene Genüsse gehen? Im Gegenteil, unzählige Genüsse kann Ich ihm mit Freuden opfern. Unzähliges kann Ich Mir zur Erhöhung seiner Lust versagen... Aber Mich, Mich selbst opfere Ich ihm nicht, sondern bleibe Egoist und - geniesse ihn." (4)
Dies ist die vollkommene Synthese von Egoismus und Altruismus, von Eigenwohl und Gemeinwohl. Dass die individualistischen Anarchisten von der Idee des isolierten Individuums ausgingen und die sozialen Bindekräfte missachteten, stimmt also nicht.
Doch scheint es mir zumindest ein bedenkliches Unterfangen, wenn nicht gar ein gefährliches dialektisches Abenteuer zu sein, eine Ethik auf dem reinen Egoismus begründen zu wollen. Hier wäre vielleicht ein Ansatzpunkt zur Kritik.
Wenn der individualistische Anarchismus sein höchstes und vornehmstes Ziel in der Selbstverwirklichung des Individuums sieht, so ist er zugleich auch Kritik und Anklage gegen ein System der Unterdrückung, das die Bildung freier Persönlichkeit verhindert. Schon im "Einzigen" findet sich eine massive Staats- und Systemkritik. Das zum Bewusstsein seiner Einmaligkeit erwachte Individuum fordert für sich das volle Recht auf Selbstbestimmung; es will niemanden beherrschen, aber auch von niemanden beherrscht werden. Bei diesem Autonomiestreben kommt es unweigerlich in Konflikt mit den herrschenden Gewalten, insbesondere mit dem Staat.
Schon von seiner Struktur und seinem Aufbau her ist der Staat eine Organisation, in der das Selbstbestimmungsrecht niemals konsequent verwirklicht sein kann. Denn er ist mitnichten eine freiwillige Gemeinschaft, sondern eine Zwangsgemeinschaft - damit steht er im geraden Gegensatz zur Gesellschaft, die ihrer Natur gemäss auf freien Vereinigungen aufbaut. Freilich ist die gegenwärtige Gesellschaft weit entfernt von jenem Urbild einer freien Gesellschaft; hat sich doch auch in ihr immer mehr das durchgesetzt, was das eigentlich Wesen des Staates ist. Aber zitieren wir nochmals den "Einzigen":
"Es dauern die Staaten nur so lange, als es einen herrschenden Willen gibt und dieser herrschende Wille für gleichbedeutend mit dem eigenen Willen angesehen wird... Wer, um zu bestehen, auf die Willenlosigkeit Anderer rechnen muss, der ist, ein Machwerk dieser Anderen, so wie der Herr ein Machwerk des Dieners ist. Hörte die Unterwürfigkeit auf, so wär's um die Herrschaft geschehen. Der eigene Wille Meiner ist der Verderber des Staates; er wird deshalb von letzterem als 'Eigenwille' gebrandmarkt. Der eigene Wille und der Staat sind totfeindliche Mächte, zwischen welchen kein 'ewiger Friede' möglich ist." (5)
Aber in letzter Konsequenz wendet sich die Stirnersche Theorie nicht gegen den Staat allein, sondern gegen jede Herrschaft von Menschen über Menschen; sie ist Anarchismus in der reinsten und ursprünglichsten Form. Weder die zeitgenössischen liberalen Bestrebungen noch die verschiedenen Modelle des utopischen Kommunismus bleiben von der scharfsinnigen Gesellschaftskritik des "Einzigen" verschont. Ebensowenig verschont werden die herrschenden Revolutionstheorien; diese sind nämlich allesamt reformistisch und daher unfähig, echte Wege der Befreiung aufzuzeigen.
Dass Stirner die beste Organisationsform des sozialen Lebens in einer staatenlosen Gesellschaft sah, darüber besteht kein Zweifel. Wie er sich aber diese Gesellschaft konkret vorstellte, ist schwer zu sagen. Hierüber finden sich nur wenige Hinweise in seinem Buch. Sicher ist, dass er die Bildung überindividueller Gruppen befürwortete, wie überhaupt seine Philosophie durchaus sozietär ist und in etwa den Ideen Proudhons entspricht. Auch hielt er eine neue Eigentumsverfassung für unerlässlich. Will sich eine befreite Gesellschaft entwickeln, so muss das Eigentum seine derzeitige monopolistische Form aufgeben.
Der Weg, der zu solchen Zuständen führt, kann natürlich nur über das Individuum gehen, welches die Ursprungskraft aller sozialen Veränderung ist. Nur im Ich und nur durch das Ich kann die Befreiung vollzogen werden. Erst muss in jedem Einzelnen von uns eine individuelle Revolution stattgefunden haben; sie bildet den Boden oder Urgrund, auf dem sich die soziale Revolution abspielen kann. Aber vielleicht sollten wir das Wort "Revolution" in diesem Zusammenhang vermeiden, da man mit ihm meist etwas Furchtbares, Gewalttätiges assoziiert.
Dies ist aber keineswegs richtig. Gewalt kann niemals zur wirklichen Befreiung und Bewusstwerdung der Menschen beitragen. Die individuelle Revolution hat die Aufgabe, uns Einsicht über unser eigentliches Selbst zu geben, so wie die soziale Revolution die Aufgabe hat, eine Gesellschaft freier Persönlichkeiten hervorzubringen. Es kommt nicht von Ungefähr, dass die Individual-Anarchisten der Idee einer gewalttätigen Revolution stets ablehnend gegenüberstanden; dies hängt elementar mit ihrer Philosophie zusammen. Ausserdem würde die Gewalt auch ihrem Ziel, dem Aufbau echter und konsequenter Anarchie (Herrschaftslosigkeit) zuwiderlaufen.
Nicht erst seit Tolstoi ist die Einheit von Ziel und Methode bekannt. Auch Stirners Nachfolger, der deutsch-schottische Dichter John Henry Mackay, befürwortete eine Strategie der Gewaltlosigkeit. So schreibt er z.B.: "Ich hasse die Gewalt in jeder Form!... Es gilt, die Gewalt unmöglich zu machen. Dies geschieht aber nicht, indem man ihr ebenfalls Gewalt entgegensetzt: der Teufel lässt sich nicht mit Beelzebub austreiben... Der passive Widerstand gegen die aggressive Gewalt ist das einzige Mittel, diese Gewalt zu brechen." (6)
Aus all dem bisher Gesagten dürfte wohl deutlich hervorgehen, wie aktuell die Stirnerschen Ideen auch heute noch sind, obgleich der Grundstein zu diesen Ideen schon in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts, der Entstehungszeit der Marxschen Frühschriften, gelegt wurde. Die Idee der Gewaltlosigkeit z.B. entspricht den zeitgenössischen revolutionären Bestrebungen, die auf einen sozialen Wandel mit gewaltfreien Mitteln hinarbeiten, wie etwa die Graswurzelbewegung. Die Grundidee des Werkes aber ist die Freiheit der Persönlichkeit, und die ist wohl zu allen Zeiten aktuell, solange es noch irgendwo Herrschaft von Menschen über Menschen gibt.
Es war nicht meine Absicht, eine unkritische Stirner-Apologie zu schreiben; meine persönlichen Überzeugungen liegen eher auf der Linie der Ideen William Godwins, mehr noch würde ich mit Tolstoi und Gandhi übereinstimmen, obgleich ich mich zu einem so hohen Mass an Religiosität, wie jene es hatten, noch nicht erheben konnte. Aber es war meine Absicht, auf einen revolutionären Denker hinzuweisen, der heute in fast völlige Vergessenheit geraten ist, und zwar ganz zu Unrecht.
Fußnoten:
(1) Daniel Guerin, Anarchismus - Begriff u. Praxis,S.30
(2) R.Steiner, Fr.Nietzsche - Ein Kämpfer geg. s. Zeit
(3) Max Stirner, D. Einzige u. s. Eigentum, S.5 RUB-Ausg.
(4) Stirner, a.a.0., S.323, 324.
(5) Stirner, a.a.O, S.214
(6) John Henrv Mackav. Die Anarchisten. S.257,259.
Originaltext: Akratie Nr. 9, Sommer 1977. Korrekturen von Ue zu Ü etc. Digitalisiert von www.anarchismus.at