Erich Mühsam - Die deutsche Revolution

Vor wenigen Tagen erhielt ich von der bayerischen Justizbehörde den größten Teil der Tagebücher, Manuskripte, Drucksachen, Briefe und Aufzeichnungen zurück, die mir im Laufe der 68 Monate, in denen mich die Mauern bayerischer Kerker umschlossen hielten, weggenommen waren.  Bei der Durchsicht fiel mir ein Aufsatz in die Finger, den ich vor genau 9 Jahren in der Festungsanstalt Ansbach geschrieben habe und der die Öffentlichkeit damals nicht erreichte. Er trug die Überschrift: „Ein Jahr Revolution.“

Ich glaube, daß ich den zehnten Jahrestag der deutschen Revolution nicht besser würdigen kann, als durch die nachträgliche Veröffentlichung dessen, was mir im November 1919 zu sagen notwendig schien. Die Nutzanwendungen auf die gegenwärtigen Zustände ergeben sich von selbst. Wieder ist die Gefahr eines europäischen Krieges drängend nahe. Die Kommunistische Partei, der unter dem Eindruck der Heidelberger Beschlüsse die Warnung im Schlußabsatz meines Aufsatzes galt, wandeit genau die gleichen Wege, die die Sozialdemokratie in den Sumpf geführt hat. Aus der russischen Räterepublik ist ein Staat geworden, der zu den andern Staaten unendlich engere Beziehungen unterhält als zum revolutionären Weltproletariat, der statt zum Sozialismus zu neuen Formen des Kapitalismus schreitet, der die revolutionstreuen Räterepublikaner im eigenen Lande härter anpackt und grimmiger verfolgt, als seine sowjetfeindlichen Bürger und demokratischen Völkerbunds-Sozialisten. Die deutschen Revolutionäre, die nichts preisgegeben haben von den Forderungen, welche von 10 Jahren den kampfwilligen Teil des Proletariats zu engem Bündnis vereinigten, sind zersplittert, schwach an Zahl und den rüden Beschimpfungen derer ausgesetzt, die mit radikalen Worten gute Klassenkämpfer einzufangen wissen und ihnen mit reformistischen und opportunistischen Taten den Willen zum Handeln und den Glauben an den Sieg brechen. Die Macht der ausbeutenden Klasse ist. äußerlich gesehen, stärker denn je. der Druck auf die arbeitende Klasse finsterer und erbarmungsloser als selbst zur Zeit Bismarcks.  Große Wirtschaftskämpfe sind im Gange und stehen bevor, und die revolutionären Arbeiter werden ermahnt, sie in den Reihen der alten gelben kapitalstreuen zentralistischen Gewerkschaften auszukämpfen. Ein trostloses, jammervolles Bild. Der Faschismus rüstet, gefördert von höchsten amtlichen Stellen und immun gegen die Drohungen einer nur gegen Proletarier gerichteten Strafjustiz, zu entscheidenden Schlägen, während sich die Arbeiterschaft gegenseitig die marxistische Bibel auslegt und im Dreckwerfen auf die andersmeinenden Klassengenossen fast ihre gesamte Kampfkraft erschöpft. Die Sozialdemokratie, geleitet von denselben Leuten, die vor 10 Jahren entblößt und erkannt vor den aufgewachten Augen ihrer betrogenen Gefolgschaft standen, lenkt den Staat im Geiste des vertrusteten und völlig rationalisierten Kapitalismus und lenkt zugleich den größten Teil der sich sozialistisch nennenden Arbeiterschaft, deren Klassenbewußtsein in Staatsverknechtung und Gesetzlichkeit aufgeweicht wird.

Aber zugleich treiben die Blasen der Verwesung im Zuber der bürgerlichen Gesellschaft hoch. Die Phrase, die dem Proletariat das Denken verklebt, ist zugleich der Nebel, den die Bourgeoisie um sich ausbreitet, um ihre sittliche Fäulnis zu bemänteln. Der Kampf, der kommen wird, wenn das Proletariat zu der Erkenntnis gelangt sein wird, daß nur Phrasen seine Kräfte noch lähmen, wird den Nebel zerreißen und nackt wird die Morschheit und innere Haltlosigkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung vor den Blicken der Erneuerer hegen, die zugleich erkennen werden, von wem sie sich haben führen und um ihr Selbstbewußtsein prellen lassen. Sie werden sehen, daß der Sumpf ihrer Organisationen nichts anderes ist, als eine Erscheinung des bürgerlichen Verfaulungszustandes.

Die kommende Revolution wird gründlich ans Werke gehen müssen, will sie nicht wieder um alles betrogen werden. Sie wird aufräumen müssen mit allen Überresten dessen, was vom Feudalismus überkommen ist, sie wird durchführen müssen alles, was vor 10 Jahren in der Hoffnung der revolutionären Arbeiter auflebte; sie wird dazu zerstören müssen alles, was Vorurteil und angelernter Aberglaube vor dem Feuer früherer Revolutionen bewahrt hat: den Staat und jeglichen Obrigkeitsappatat, auch die Führerapparate der proletarischen Parteien und Gewerkschaften. Den besten Teil der Revolution hat die deutsche Arbeiterschaft noch vor sich. Sie muß ihn gewinnen, sonst ist ihr Untergang in Sklaverei und Barbarei gewiß.

E. M.


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Zur Abwertung eines Ereignisses ist es so lange zu früh, wie nicht seine Auswirkungen den Abschluß seines Verlaufs deutlich machen. Bis dahin ist die Kritik dem Temperament vorbehalten, das keine Leichenreden hält, sondern zum Leben aufruft. Die Aufweisung der natürlichen Notwendigkeit, mit der alles so und nicht anders kommen mußte, dient zu gar nichts. So gescheit ist der Dümmste, daß er ins Gewesene zurück die Folgen aus den Ursachen, das Mißlingen aus den Fehlern, die Irrtümer aus den Trugschlüssen ableiten kann, wenn er mit der Nase draufgestoßen wird. Aber das Überflüssige wird bedenklich, wenn der von der Vergangenheit zur Gegenwart geflochtene Faden mit geschichtlicher Denktechnik in den Nebel der Zukunft hinein weiter geknotet werden soll. Wer Geschichte erlebt und sein Erleben die Geschichte befruchten lassen will, darf kein automatisches Werkeln der Zeit gelten lassen, muß bewußten Willen, treibende Energie, Impuls der Persönlichkeit als Wichtigste bewegende Kraft ins Zeitgeschehen einsetzen. Die Kenntnis der Geschichte und seine Erfahrungen sind sein Rüstzeug, sie bestimmen die Art, aber nicht den Zweck seiner Arbeit.

Wer heute behauptet, das Versagen der deutschen Revolution sei die unabwendbare Folge ihres Entstehens gewesen, die Frucht sei unreif vom Baum gefallen, die Voraussetzungen hätten nicht gestimmt, kurz die Revolution sei durch ihren Verlauf widerlegt worden, der wird den Beweis mit offenkundigen Tatsachen so schlüssig führen können, daß ihm jede historische Akademie zustimmen wird, - aber das revolutionäre Proletariat wird seine Weisheit in die Grube stoßen, in der er die Revolution bestatten will und wird ihn durch ganz andere als historisch-dialektische Logik überzeugen, daß zur Leichenfeier kein Anlaß ist.

Natürlich hat das ganze Volk und haben wir Hunderte, die wir durch Gitterfenster ins Dorado des neuen Deutschlands hinausschauen, Grund genug, uns den Schaden eindringlich zu besehen, zornig zu fragen: Wer hat uns das Gefäß unserer Sehnsucht verbeult, daß aus einem Flammenkelch ein Nachttopf geworden ist? Aber wir haben die üble Verwandlung unseres Revolutionswerkes nicht gefühlvoll zu begreifen oder wissenschaftlich zu erklären und dabei das nun entstandene Geschirr für seine Nutznießer gehorsam auszuleeren, sondern wir haben zu überlegen: Wie setzen wir uns wieder in den Besitz unseres Werkes? Wie desinfizieren wir es, daß jede Spur seiner Entweihung daraus getilgt wird? Wie hauen wir es wieder zurecht und sichern es vor Mißbrauch und Schändung?

Wo sitzt also der Schaden und wie hat er geschehen können? Krieg und Niederlage waren die Ursachen: jawohl, das wissen wir. Nur wäre es der Revolution zuträglicher gewesen, sie hätte die Niederlage verursacht, statt umgekehrt sich von der Kriegskatastrophe ans Licht befördern zu lassen. Die letzten Anlässe sind ja gar nicht wichtig. Die Revolution wurde gezeugt am 1. August 1914. Die Frage, warum der Säugling gerade am 7. November 1918 den Mutterleib verließ (die bayerische Revolution brach zwei Tage vor der norddeutschen aus), braucht uns nicht zu beschäftigen. Bedeutungsvoll ist jedoch die Frage, warum er trotz des Geschreies, mit dem er in die Welt trat, so kümmerlich gedieh, so bald zusammenschrumpfte und jetzt scheintot auf dem Kehricht liegt, während die Leute, die ihn nähren und päppeln möchten, das nur unter Gefahr für Leben und Freiheit tun können.

Der Grundfehler, der sich heute so verhängnisvoll rächt, liegt in der verkehrten vorgeburtlichen Erziehung. Mutter Germania sollte einen Sieg gebären, keine Revolution. Ihr Leib und alle ihre Glieder waren nur darauf vorbereitet, dereinst einem Siege das Leben zu geben. Dazu war der Drill dem deutschen Volke angewöhnt, die in aller Welt nie geschaute Disziplin, die Präzision in jeder Bewegung, die automatische Richtigkeit alles Tuns, mit einem Wort der Militarismus: damit der Sieg vorschriftsmäßig gezeugt werde, sich vorschriftsmäßig zum Embryo entwickle und das Kind endlich im Stechschritt den Mutterleib verlasse, eine Kokarde als Nabel, und zum starken Manne gedeihe, der, Europa unter dem Stiefel, den Dreizack in der Faust, der Welt seinen Willen diktiere und die Völker der Erde für sich arbeiten lasse.

Alles was seit 50 Jahren in Deutschland geschah, geschah im Hinblick auf die Geburt des deutschen Weltsieges. Das ganze Reich wurde zur Kaserne eingerichtet. Exerziert wurde in den Familien und auf der Straße, in der Kirche und in der Küche, im Theater und in den Zeitungen, im Kontor, in der Werkstatt und am Pfluge. Die allgemeine Schulpflicht lehrte die Kinder fürs Herrscherhaus beten, die Jahreszahlen der vaterländischen Siege auswendig hersagen, auf der Landkarte die Grenzen gegen den Erbfeind nachzeichnen, Deutschland und Belgien addieren, Marokko von Frankreich subtrahieren, Preußen mit Polen multiplizieren, die Zinsen aus dem Kolonialkapital berechnen, die Lügen der Presse glauben, Hohenzollern groß schreiben und singen: das Vaterland muß größer sein! Von den Kanzeln wurde Gehorsam gegen die Obrigkeit gepredigt, in Kriegervereinen das Gedenken vergangener Heldentaten gepflegt und die Hoffnung auf künftige genährt, im Turnsaal, auf Spielplätzen, bei Bergpartien, im Ruderklub und auf der Kegelbahn das Volk körperlich ertüchtigt. Kadavergehorsam hieß Disziplin und Strammstehen Liebe des freien Mannes.

Die Folge war eine Autoritätsentfaltung und Autoritätsanhimmelung, die ohne Beispiel ist. Selbst der deutsche Kapitalismus, dem zuliebe dieser erstaunliche Tüchtigkeitsdrill geübt wurde und der sich mit den Formen seines Konkurrenzkampfes in der Volksausbeutung bei den anderen Ländern höchst unbeliebt gemacht hatte, geriet allmählich ganz in die Abhängigkeit von den Mitteln, die seinem Vorteil dienen sollten, im Kriege aber Selbstzweck wurden und gerade dadurch das völlige Mißlingen der Kriegsabsicht herbeiführten. Die Strategie kollidierte mit den Börsenwünschen, fand kein Ende ihres Siegens und verteidigte schließlich die Grenzen Deutschlands in Flandern, der Champagne, in Polen, Wolhynien, in Italien, Rumänien, Mazedonien, Syrien, in der Krim und in Palästina. Die Kapitalisten sahen aus der wohlkalkulierten Spekulation von 1914 ein Risikounternehmen werden, in das man die letzten Reserven der Volkskraft einsetzen mußte, ohne vom eigenen Gut die letzten Reserven des moralischen Kredits sparen zu können. So kämpften die Militärs für ihr Prestige, die Ausbeuter für ihren Spieleinsatz mit U-Booten und Giftgranaten, mit Zeppelinbomben und Gelbkreuz und waren so lange guten Mutes, wie sie sahen, daß bei Heer und Volk die Lebensnotdurft an Nahrung, Kleidung, Gewohnheit und Bequemlichkeit durch unentwegt stramme Haltung ersetzt werde.

Mit den Friedensschlüssen in Rußland und Rumänien gewannen sie noch einmal das große Los, aber Brest-Litowsk und Bukarest waren in Wirklichkeit die fürchterlichsten moralischen Katastrophen für die „Sieger“, die sich der Welt jetzt nackt präsentierten in ihrer abenteuerlichen Raubgier und damit die Kräfte der Gegner zu Verzweiflungsanstrengungen steigerten. Es folgte mit den im Osten frei gewordenen Streitkräften im März 18 die Generaloffensive gegen Paris. Sieg über Sieg bis zum Vorstoß über die Marne. Die zweite Marneschlacht am 15. Juli entschied das Fiasko. Am 8. August der Zusammenbruch in der Champagne, überstürzter Rückzug zur Hindenburglinie, über sie hinaus; Abbau der Stellungen von Flandern bis zu den Argonnen.  Ungeheurer Materialverlust, entsetzliche Menschenopfer, riesenhafter Gefangenenabgang. Im September Rückzug der Österreicher aus dem Piavegebiet, Vernichtung der Türken in Palästina, Durchbrechung der bulgarischen Front, Kapitulation Manilows. Am 5. Oktober bekennen sich die Erpresser von Brest-Litowsk zu Wilsons Weltanschauung des friedlichsonnigen Ringelreihtanzes der versöhnten Völker ums goldene Kalb des demokratisch gesalbten Kapitalismus.

Wer war schuld? Die Generäle und nationalen Herrgötter haben es uns verraten: die im Heere eingerissene Disziplinlosigkeit und die Hetzer im Hinterland, die den Heroismus der Kriegstreiber als Imperialismus, Despotismus und Militarismus denunzierten. Und Rußland war schuld: das Beispiel der bolschewistischen Revolution verschimpfierte die stramme Haltung in Armee und Marine und erst recht beim Proletariat in der Heimat.

Wahr ist's: die russische Revolution, ihr moralischer Triumph in Brest-Litowsk hat der deutschen Siegerei den Rest gegeben. Als Trotzki mit abgewendetem Blick unter dem Pallasch des Generals Hoffmann Herrn v. Kühlmanns Diktat unterzeichnete, da war die Weltrevolution besiegelt, da verpflichtete das revolutionäre Rußland das deutsche Proletariat zur Gewissenseinkehr und erschütterte die stramme Haltung unter den deutschen Uniformen. Die russischen Arbeiter und Bauern haben den deutschen Militarismus besiegt, den Größenwahn des deutschen Imperialismus gebrochen. Daher die Wut unserer Bourgeoisie gegen den im Anfang so gehätschelten Bolschewismus, daher der tobsüchtige Noskiden-Vandalismus gegen alles was russischer Sympathien verdächtig ist.

Die deutsche Novemberrevolution war zunächst eine Militärrevolte. Der militärische Zusammenbruch an der Front hatte das Gerüst der ganzen Organisation, die unvergleichliche Disziplin der Soldaten, zum Einsturz gebracht. Die Einsicht war in die Kasernen gedrungen, daß alles, was zum Ansporn der Tapferkeit und der Opferwilligkeit in 4 ½ Jahren von Fürsten und Offizieren, von Kapitalisten und Beamten, von Parteibonzen und Gewerkschaftsstrebern erzählt worden war, Verrat und Schwindel war. Der Glaube, der von Kanzeln, Kathedern und Zeitungspulten täglich und stündlich gefüttert worden war und der vorwärts geholfen hatte, war als Lüge erkannt. Die Wut der Betrogenen entlud sich, die Throne barsten, die Begeisterung war groß.

Das Proletariat - es hat keinen Zweck es zu vertuschen - ließ sich von der Revolution überraschen. Nur ein geringer Bruchteil der Arbeiterschaft hatte aktiven Anteil an der Erhebung des 7. und 9. November. Wohl gaben sich die Massen willig der Freude hin, die das neue Geschehen in ihnen erweckte, aber sie waren nicht revoltiert in sich selbst. Sie hatten noch zum geringsten Teil abgeworfen, wessen das Militär sich entledigte: die Disziplin, den Glauben an die Unfehlbarkeit der Oberen, das stumpfe Mitsichgeschehenlassen, das Vertrauen auf irgendwann irgendwie einmal gewählte Führer, - die stramme Haltung. Denn wie Drill und Gehorsam, Vormundschaft und Entpersönlichung seit 50 Jahren das ganze deutsche Volk erzogen hatten, so war auch aus den Organisationen des Proletariats mehr und mehr ein Kasernenhof geworden, in dem etliche Unteroffiziere alles, die Massen nichts zu sagen hatten. Sie waren trotz aller demokratischen Umgangsformen, trotz aller sozialistischen Parolen Rekruten, die anzutreten hatten, wenn die Führer kommandierten, die alle 5 Jahre einen Stimmzettel in die Hand bekamen, um den im Büro nominierten, von ihnen nur pflichtschuldig bestätigten Bonzen ins Bürgerparlament zu wählen. Sie lernten ein paar Schlagworte und klebten Marken. Sie durften die Forderungen an die Unternehmer stellen, die ein Konventikel besoldeter Beamter formuliert hatte. Sie durften - sehr selten - streiken, wenn jener Klüngel die Mittel dazu bewilligte und mußten den Streik verloren geben, wenn die Führer ihn abbremsten. Sie zahlten in die Gewerkschaftskassen unermeßliche Summen. Durchschnittlich noch nicht 3 Prozent davon dienten der Speisung wirtschaftlicher Kämpfe, ein riesiger Teil ging für Beamtengehälter, ein Teil auch für Wohlfahrtseinrichtungen drauf, der noch gewaltigere Rest wurde als ausbeutendes Kapital auf Zinsen gelegt und wanderte, als das Vaterland der Kapitalisten rief, zur Kriegsanleihe, um „durchhalten“ zu helfen. Die für Lebenszeit gewählten Führer schlossen Tarifverträge mit den Ausbeutern ab, möglichst langfristig, so daß die Arbeiter keine Kämpfe führen konnten, wenn die Zeit dafür günstig war, und der Unternehmer jahrelang vorher wußte, wann neue Forderungen der Arbeiter zu erwarten waren und durch Preisaufschläge und andere Mittel, mit denen er den produzierenden Arbeiter auf Kosten des konsumierenden einseifte, vorbeugen konnte. Die Organisationen wuchsen ungeheuer in die Breite, ihre Kassen in die Höhe, aber in die Tiefe wuchs nur die Disziplin, das blinde Vertrauen, der Verzicht auf Initiative und Kampf.

Diese traurige Entwicklung darf nicht übersehen werden, will man den Jammer, den uns Partei und Gewerkschaften von 1914 ab erleben ließen, recht verstehen. Die Führer waren durch die parlamentarische Taktik, die sie in Jahrzehnten gewöhnt hatte, sich an der Verwaltung des kapitalistischen Staates, der doch gestürzt werden sollte, zu beteiligen und durch die Behandlung der Wirtschaftsfragen als Gegenstand der Beratung zwischen Ausbeuter und Ausgebeuteten jeder kämpferischen Haltung innerlich fremd geworden. Die Beurteilung politischer und ökonomischer Probleme nach grundsätzlich-sozialistischen Gesichtspunkten gab es kaum mehr. Alles entschied sich nach opportunistischen Erwägungen und die Begriffe des Sozialismus, des Klassenkampfes und der Revolution wurden aus dem Utensilienkasten der deutschen Arbeiterbewegung entfernt und nur an Feiertagen zum Anschauen in die Auslage gestellt. Als die Führerschaft des Proletariats am 4. August vor der Entscheidung stand, war es für den links außenstehenden Beobachter längst nicht mehr zweifelhaft, wie sich die Herren entschließen würden, - hatten sie doch schon im Sommer 1913 die Milliardenabgabe für den Wehrfonds bewilligt und hatten sie ja auf allen internationalen Kongressen die Forderung der Franzosen, Engländer, Schweden und Russen, jede Mobilmachung durch Proklamierung des Generalstreiks zu verhindern, niedergestimmt.

Die Massen aber waren zu stumpfem Autoritätsglauben erzogen worden. Der Partei- oder Gewerkschaftssekretär, der die Verbürgerung der proletarischen Interessen als Profession betrieb, gab einen von klassenbewußten Schlagworten tropfenden Bericht über seine erfolgreiche Tätigkeit, erhielt einmütige Zustimmung, Vertrauensvotum und das Mandat zur weiteren Vertretung der Arbeiter im gleichen Sinne. Revolutionäre Kritik von außen her stieß immer auf dieselben Abwehrbeschwörungen: Laßt euch nicht provozieren! Vertraut euren bewährten Führern! Unsere altbewährte sieggekrönte Taktik zeugt für sich selbst! Also Steuern zahlen, stramm stehen und Maul halten - hier wie im Staat. Der Geist des Militarismus und des vernagelten Bonzentums war ganz der gleiche, zwei Stämme aus derselben Wurzel.

Die Haltung der Scheidemann und David, Legien und Bauer während des Krieges, ihre Lakaienbeflissenheit gegen Hohenzollern und Junker, gegen Industriekapital und Imperialismus war nur die Konsequenz der Grundsatzverlassenheit ihres früheren Gebarens. Die Massen fanden sich nicht zurecht, weil sie den Sozialismus nur dem Wort nach kannten, und weil sie nichts anderes gelernt hatten, als in ihren gewählten Vertretern den Inbegriff aller Proletarierweisheit zu verehren. Sie zweifelten um so weniger an der Richtigkeit der von den offiziellen Größen befolgten Methoden, als sich die Opposition innerhalb der Parlamente - mit der Ausnahme Karl Liebknechts, den man überschrie - auf eine gefühlsmäßige und durch das Hinneigen zum westlich-demokratischen Sozialpatriotismus erst recht verdächtige, prinzipienlose Anbelferei der Kaisersozialisten beschränkte. Wahrhaft revolutionäres Aufbegehren war kaum bemerkbar, bei den Unabhängigen so wenig wie bei den auf Magenbedürfnisse abgelenkten Arbeitern. Wo einzelne leitende Persönlichkeiten bewußt auf Revolution hinarbeiteten, geschah es unter pazifistischen wilson-demokratischen Gesichtspunkten. Lenin hatte keinen erbitterteren Gegner als Kurt Eisner.

Die Revolution kam. Sie fand die Verhältnisse überreif vor. Nicht reif zur Revolution aber war das Gros der deutschen Arbeiterschaft. Die hatte trotz allem Hungern und Schimpfen die stramme Haltung noch nicht verloren. Ihr genügte es, daß die bewährten Führer sich mit beweglichem Zungenschlag zur Revolution bekannten, die rote Fahne in ihrem Winde flattern ließen und sich's in den schnell gezimmerten Direktionssesseln bequem machten. Sie vergnügte sich an der Erlaubnis Räte zu bilden und ließ sich dabei das Versprechen, demnächst werde zur Nationalversammlung gewählt, köstlich munden.

Wenn irgendetwas bei der rückschauenden Betrachtung des ersten Revolutionsjahres aus der trübseligen gegenwärtigen Situation heraus Trost und Mut gibt, so ist es die Erinnerung an die verblüffend rasche Radikalisierung des deutschen Proletariats durch die Revolution selbst. Der Rätegedanke, den die gewandten Usurpatoren der Revolution als Spielzeug kindlicher Phantasie angesehen und den Massen nachsichtig lächelnd für's erste überlassen hatten, füllte sich plötzlich mit lebendigem Inhalt. Der Ruf: Alle Macht den Räten! zündete und gab der bislang immer mißbrauchten Forderung nach der Diktatur des Proletariats revolutionär greifbare Gestalt. Damit setzte aber auch die Kritik ein. Plötzlich erkannte das Volk, wie hundsföttisch es betrogen und genasführt war. Das Wort Bonzen stieg auf, der Name jener chinesischen Pagodenpfaffen, die der urteilslosen Masse mit abergläubischem Hokuspokus die Ohren voll litaneien und sich dabei dick und satt mästen. Karl Liebknecht, der verachtete Landesverräter und verbohrte Querkopf, wurde der Träger des reinen Volkswillens; Agitatoren, die früher als Anti-Parlamentarier nicht einmal zum Wort zugelassen wurden, wuchsen in höchste Popularität; die russische Revolution wandelte sich im Bewußtsein des Proletariats aus zügellosem Desperadotum zur vorbildlichen Menschheitssache, - die Musik aber, die die Drahtzieher der Partei und der Gewerkschaften ihrem alten Leierkasten entlockten, fand bei der revolutionierten Arbeiterschaft keine mitschwingende Saite mehr. Gelächter und Zorn übertönte sie.

So wurde aus der Novemberharmonie Kampfgeschrei und Haßgesang. Die Schlacht entbrannte auf der ganzen Linie, die Schlacht zwischen den ehemaligen Geführten und ihren ehemaligen Führern. Im Kriege jedes Restes von Scham und Ehre entwöhnt, warben die angeblichen Sozialisten bei denselben Kapitalisten und Militaristen um Hilfe gegen das Proletariat, denen sie zum Verrat des Volkes in den Kriegsjahren willfährig die Servierkellner gestellt hatten. Die Fehler, die bei Beginn der Revolution gemacht waren, rächten sich jetzt an den Revolutionären. In jenen Tagen, da jede Waffe nur der Revolution dienstbar war, da das Volk neugierig und lerneifrig dem Werden des Neuen zusah, da das von der Niederlage und der politischen Umwälzung total vertatterte Bürgertum dermaßen eingeschüchtert war, daß es würdelos feige auch den bittersten Tropfen ohne Widerstand geschluckt hätte, da war das Wichtigste verabsäumt worden. Man hatte der Konterrevolution nicht den Kopf zertreten, sondern sie sich unterirdisch entwickeln und kräftigen lassen. Nicht die Konterrevolution ist gemeint, die damals in aufgeregten Köpfen spukte und in unmittelbar bevorstehenden Generalsinsurrektionen befürchtet wurde, sondern die, die in Ämtern und Behörden latent wirkte, indem die Träger des alten Systems an ihren Posten blieben und den Apparat der öffentlichen Macht in den Händen behielten. Offiziere und Assessoren, Regierungsräte und Bürgermeister, alle blieben an ihren Wirkungsstätten, beschützt von den neuen Machthabern mit der roten Schärpe und der kapitalistischen Bedientenseele, und waren klug genug, sich zunächst einer bewaffneten Macht zu versichern.

Statt daß Emissäre zu den Truppen hinausgeschickt wären, die aufklärend über Kommunismus und Rätewesen gesprochen hätten, wurden die Truppen, die, fern vom Herde der Revolution, das Ziel der Umwälzung im Abschluß des Waffenstillstandes und in der Firmenänderung des Staatskörpers erblickten, ganz dem Einfluß reaktionärer Intriganten überlassen. Waren die ersten heimkehrenden Formationen mit roten Kokarden und erfüllt von erregten Zukunftsideen zurückgekommen, so zogen schon im Dezember die Regimenter mit patriotischen Fähnchen und unter den Klängen vaterländischer Märsche in die Städte ein. Der Keim weißer Garden war gepflanzt. Das übrige tat die nichtswürdige Balten- und Polenpolitik der „sozialistischen“ Regierung. Unter dem Lockruf „Grenzschutz Ost“ sammelte man mit unerhörter Geldverschwendung aus den Taschen des arbeitenden Volkes die verwilderten und entwurzelten Reste der Armee, füllte ihre Reihen auf mit abenteuersüchtigen erwerbslosen Offizieren und nationalistisch besessenen Studenten und Bourgeoissöhnchen: das Landsknechtsheer gegen Sozialismus und Welterneuerung war fertig; Noske konnte seine blutige Arbeit beginnen.

Die Besten blieben am Platz: Liebknecht, Luxemburg, Jogisches, Dorrenbach, Landauer, Levine, - die Liste ist unendlich lang und die Namenlosen, die Hunderte von Arbeitern, Soldaten und Matrosen, die Tausende, die ihr Leben für die Befreiung des Proletariats gaben, nimmt keine Liste auf. Die Festungen, Gefängnisse, Zuchthäuser bersten von revolutionären Insassen. Dabei täglich neue Verhaftungen, Knebelungen, Schreckensurteile. Die Bestie wütet weiter.

Sie wird aufhören zu wüten. Eines Tages wird ihr die Zunge lefzend aus dem Maule hängen und sie wird sich erschrocken umringt sehen von denen, die sie entseelt und für immer von Kräften glaubte. Nicht weil die wirtschaftliche Entwicklung den Umschwung naturnotwendig herbeiführen müßte, werden wir siegen, sondern weil die Idee nicht stirbt und weil das Proletariat, einmal von der Wahrheit einer Idee erfaßt, nicht nachlassen wird, bis ihr Ziel erreicht ist. Wehe dem Volk, das sich auf den natürlichen Lauf der Dinge verläßt und die Hände in den Schoß legt, bis ihm die reife Frucht hineinfällt. Die Frucht reift nicht, wenn nicht der Baum gepflegt wird, von dem sie gepflückt werden soll. Wehe auch der revolutionären Partei, die nachläßt im Eifer um die Revolution!

Kommunismus und Freiheit! Das ist die Forderung, keine andere gilt. Der Weg zum Kommunismus und zur Freiheit geht über die Räterevolution, es gibt keinen anderen Weg. Die Schwätzerei von Parlamentarismus, Gewerkschaftskrempel, Lohnsystem, Preisabbau und allem reformerischen Tageskram mag anderen überlassen bleiben. Sache der revolutionären Arbeiter ist Arbeit an der Zukunft, nichts anderes: Sammlung der Kräfte, unduldsam nach rechts, - links darf es nicht geben; Aufklärung der Massen, Lernen von den eigenen Fehlern und denen der anderen, Zusammenschluß zum Kampf.

Ein Jahr revolutionären Kampfes liegt hinter uns. Wir haben geopfert, wir haben gelitten, wir haben Erfahrungen gesammelt. Die Revolution steht bevor. Ans Werk!

Aus: Fanal, 3. Jahrgang, Nr. 2, November 1928. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand des Nachdrucks aus dem Impuls Verlag (bearbeitet, Ue zu Ü usw.)


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