Erich Mühsam - Aufstieg und Niederlage der Räterepublik

Am 4. April nachmittags fand im Ministerium des Äußern unter Niekischs Vorsitz die erste offizielle Beratung über die zu ergreifenden Maßnahmen statt. Es nahmen daran etwa dreißig Personen teil, darunter fünf Mitglieder des siebenköpfigen Ministeriums, nämlich der Herr Minister des Innern Segitz (SPD), der Handelsminister Simon (USP), der Militärminister Schneppenhorst (SPD), der Minister für soziale Fürsorge Unterleitner (USP) und der Landwirtschaftsminister Steiner (Bayrischer Bauernbund). Ferner waren zugegen Dr. Neurath und andere Mitglieder der Regierung, Vertreter des Soldaten- und Bauernrats (darunter Sauber und Gandorf er) und Mitglieder des revolutionären Arbeiterrats (Landauer, Mühsam, Hagemeister und andere).

Auf Niekischs Bericht hin wurde vorgeschlagen, daß sich provisorisch ein Rat von Volksbeauftragten, der sich paritätisch aus Sozialdemokraten, Unabhängigen und Kommunisten zusammenzusetzen hätte, konstituieren sollte. Am nächsten Tage sollten die Massen zusammengerufen werden, es sollten sofort neue Betriebsratswahlen stattfinden, und ein neuer Rätekongreß sollte dann die Räterepublik definitiv machen und ihr die Verfassung geben. Ein Widerspruch gegen diese Vorschläge wurde von keiner Seite erhoben. Keiner der anwesenden Minister (wie gesagt, war die Mehrheit des Ministerrats beisammen) gab mit einem Wort zu erkennen, daß er grundsätzlich etwas gegen die Neugestaltung einzuwenden habe. Im Gegenteil beteiligten sich die Herren eifrig an der Diskussion, und das einzige Bedenken, das laut wurde, betraf die Frage, ob Herr Segitz für seine Person den ihm angetragenen Posten eines provisorischen Volksbeauftragten übernehmen könne. Herr Segitz machte das abhängig von der Zustimmung seiner Partei, erhob jedoch grundsätzlich keinen Einspruch und gab auch nicht mit einer Andeutung zu verstehen, daß das, was hier in seiner Gegenwart und mit seiner Teilnahme vor sich ging, als Hochverrat angesehen werden könne. Im Gegensatz zu Herrn Segitz stellte sich sein Parteigenosse Herr Schneppenhorst für den Volksbeauftragten des Militärwesens bedingungslos zur Verfügung. Er ging darin so weit, daß er die von mir gegen seine persönliche Zuverlässigkeit geäußerten Zweifel mit den lebhaftesten Beteuerungen seiner Loyalität zurückwies.

Der weitere Verlauf der Ereignisse, die in der Nacht vom 6. auf den 7. April zur Ausrufung der bayerischen Räterepublik führten, ist in der Folge besonders durch die Beweisaufnahme in zahlreichen Hochverratsprozessen bekannt geworden. Ich verzichte in diesem Zusammenhang auf eine detaillierte Darstellung, verweise aber auf meinen persönlichen Rechenschaftsbericht, den ich im Herbst 1920 über die Vorgeschichte der bayerischen Räterepublik für die russische Sowjetregierung verfaßte. Ich stelle anheim, sich die Abschrift des aus der Ansbacher Festungshaftanstalt hinausgesandten Manuskripts von der Verwaltung der Festungshaftanstalt Niederschönenfeld aushändigen zu lassen, die die für mich hereingesandte Schreibmaschinenkorrektur beschlagnahmte und zu den Akten nahm.

Es genügt hier, an folgende weitere Tatsachen zu erinnern: An der in der Nacht zum 5. April im Kriegsministerium veranstalteten großen Aussprache, bei der die Vertagung der Proklamation um achtundvierzig Stunden beschlossen wurde, nahm zwar nicht Herr Minister Segitz, wohl aber - wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt - der sozialdemokratische Justizminister Herr Endres teil. Eine persönliche Ansicht gab er im Gegensatz zu Schneppenhorst und zahlreichen anderen Partei- und Gewerkschaftsführern bei dieser Gelegenheit nicht kund, unterließ es also auch, gegen das später von ihm als Hüter der Rechtspflege als Hochverrat verfolgte Unternehmen Einspruch zu erheben, seine Gesinnungsfreunde vor der Teilnahme an dem Verbrechen zu warnen oder auch nur durch demonstratives Verlassen der Sitzung sein eigenes Mißvergnügen zum Ausdruck zu bringen.

Es ergibt sich somit, daß von sieben Mitgliedern des Ministeriums mindestens fünf an den Vorbereitungen zu unseren angeblich gegen sie gerichteten hochverräterischen Unternehmungen persönlich teilgenommen haben. Vier von ihnen haben sich ausdrücklich zur Mitwirkung bereit erklärt. Herr Schneppenhorst hat seine Zustimmung dazu erteilt, daß er in der ersten Proklamation als provisorischer Volksbeauftragter benannt werde. (Seine späterhin vor Gericht aufgestellten Behauptungen, er habe unter Druck gestanden und eine gewisse Bereitwilligkeit nur vorgespiegelt, ändern nichts an den Tatsachen, noch daran, daß schon die Vortäuschung seiner Bereitwilligkeit vollständig gelang.) Der Landwirtschaftsminister Steiner ließ sich nicht nur in der ersten provisorischen Liste als Volksbeauftragter benennen, sondern er übernahm auch bei der definitiven Ausrufung der Räterepublik tatsächlich die Leitung des Volkskommissariats für die Landwirtschaft.

Einzig der Ministerpräsident Herr Hoffmann war in keinem Moment der Vorbereitung oder Ausführung des Unternehmens an der staatsrechtlichen Umwälzung beteiligt. Doch unterließ auch er es, bevor die entscheidenden Tatsachen vollzogen waren, in seiner Eigenschaft als repräsentierender Leiter der Staatsregierung, öffentlichen Protest zu erheben. Daß er von den Vorgängen Bescheid wußte, geht aus seinem eigenen Bericht hervor, in dem er später die von ihm ergriffenen Maßregeln zur Kenntnis brachte. Herr Hoffmann begab sich, während sich in München die bekannten Ereignisse abspielten, nach Bamberg. Dorthin berief er die ihm erreichbaren Mitglieder des Landtags sowie seine Ministerkollegen, soweit sie ihre bis zum 7. April bekundete Haltung zurückrevidiert hatten. Erst nach der Ausrufung der Räterepublik verkündete Herr Hoffmann, daß er die revolutionäre Regierung in München nicht anerkenne, daß er sich und die übrigen in Bamberg versammelten Minister als die rechtmäßige Regierung Bayerns betrachte und daß der Sitz der Regierung und des Landtags bis auf weiteres in Bamberg aufgeschlagen sei.

Herr Segitz und Herr Endres waren dem Ministerpräsidenten sofort nach Bamberg gefolgt. Herr Schneppenhorst fuhr dorthin von Nürnberg aus, wohin ihn die erwähnte Versammlung im Kriegsministerium mit der von ihm feierlich beschworenen Verpflichtung gesandt hatte, dort das Militär für die Neuordnung der Dinge im Sinne der Räterepublik günstig zu stimmen. Die Herren Unterleitner und Simon lehnten es ab, weiterhin der Regierung Hoffmann anzugehören, deren Absetzung sie anerkannten, indem sie sich der Räterepublik auch dann noch zur Verfügung hielten, als der Rat der Volksbeauftragten ohne ihre Personen konstituiert war. Herr Steiner jedoch fand es möglich, den ihm auf Empfehlung des revolutionären Bauernrats übertragenen Posten als Volksbeauftragter der Räterepublik zu besetzen und gleichzeitig auf der Ministerliste des Herrn Hoffmann als Vertreter der Landwirtschaft verzeichnet zu sein. Der Zentralrat in München erhielt von dieser merkwürdigen Doppelfunktion des Herrn Steiner erst Kenntnis, als dieser nach mehrtägiger Ausübung seines Amtes als Volksbeauftragter nach Bamberg verreist war und von dort aus mit den übrigen Ministern zusammen sowie auch in Einzelkundgebungen an die Landbevölkerung Proklamationen der aufreizendsten Art erließ, in denen die bekannten Mitglieder des Rates der Volksbeauftragten und des Zentralrates verleumdet und verdächtigt wurden und der Appell zu den Waffen gegen den „Roten Schrecken“ in München erging. Mitunterzeichner dieser Proklamation war unter anderen auch der zweite Vorsitzende des Landessoldatenrats, Herr Simon, ein Mann, der sich zuvor der Räterepublik nicht nur zur Verfügung gestellt hatte, sondern der, wie er später als Zeuge im Hochverratsprozeß Mühsam-Wadler selbst zugeben mußte, dem Volksbeauftragtenrat am Tage nach der Proklamation der Räterepublik den von ihm selbst ausgearbeiteten Plan zur Aufstellung einer Roten Armee unterbreitet hatte.

Die Umwälzung vollzog sich vollständig gewaltlos. Fast ganz Südbayern schloß sich der Räterepublik sofort an. In Nordbayern war die Stimmung geteilt. Die Münchener Militärformationen, insbesondere die republikanische Schutztruppe, stellten sich ausnahmslos der neuen Gewalt zur Verfügung. Ich bemerke das, um die Unterstellung der Stand- und Volksgerichte, es sei ein gewaltsamer Umsturz erfolgt, von vornherein zu widerlegen.

Die regierende Gewalt lag nunmehr in den Händen des provisorischen Zentralrats, der den Rat der Volksbeauftragten einsetzte. Der Zentralrat setzte sich zusammen aus Mitgliedern der SPD, der USP, des revolutionären Arbeiterrats, des Landesarbeiterrats, des Soldaten- und Bauernrats und Vertretern der Gewerkschaften. Die Kommunisten standen vorerst abseits, hauptsächlich, weil sie der Ehrlichkeit gewisser Teile der Mitwirkenden mißtrauten. In der Nacht zum 13. April (Palmsonntag) veranstalteten einige von Bamberg gedungene militärische Kräfte in München unter Leitung des Bahnhofskommandanten Aschenbrenner einen Aufstand gegen die Räteregierung. Dreizehn Personen, darunter der Volksbeauftragte Soldmann, und die Mitglieder des Zentralrats Dr. Wadler, Mühsam und Kandlbinder wurden von Bewaffneten verhaftet und nach Nordbayern verschleppt. Die an dem Putsch beteiligten Soldaten handelten keineswegs aus politischer Überzeugung, sondern um die Geldprämien zu erhalten, die die Bamberger Regierung im Betrag von 1500 Mark für jedes Mitglied der zu dem Unternehmen ausersehenen republikanischen Schutztruppe und mehreren tausend Mark für jeden ihrer Führer ausgesetzt hatte. Meines Wissens haben nur zwei Mitglieder der Schutztruppe der Versuchung widerstanden, die Brüder Wittmann, deren einer während der Maikämpfe standrechtlich erschossen wurde während der andere zur Zeit noch die ihm wegen Beteiligung an diesen Kämpfen zudiktierte Festungsstrafe abbüßt (wurde inzwischen entlassen).

Das Signal zur Gewaltanwendung war also nicht von den Organen der Räterepublik, sondern von der Regierung Hoffmann gegeben worden. Der Palmsonntagsputsch mußte bei den niedrigen Motiven, von denen die ausführenden Truppen geleitet waren, gegenüber dem mächtigen Impuls der von Idealen bewegten Arbeiterschaft selbstverständlich zusammenbrechen. Das Münchener Proletariat eroberte am Nachmittag unter Brechung des äußerst heftigen Widerstandes der Wache und unter Verlust zahlreicher Toter und Verwundeter im Sturm das Bahnhofsgebäude, dessen Kommandant Aschenbrenner auf einer Lokomotive flüchtete.

Die Wirkung des Putsches war die, daß die Kommunisten aktiv in die Bewegung eingriffen und unter Zustimmung der in der ständigen Betriebsräteversammlung repräsentierten Gesamtarbeiterschaft die Regierungsgewalt übernahmen. Der Rücktritt des bisherigen Zentralrats und der provisorischen Volksbeauftragten und die Machtergreifung der neuen Räteregierung erfolgte also auch jetzt ohne gewaltsamen Umsturz und in den legalen Formen, die nach der Ermordung Eisners durch die Desertion der Regierung und des Parlaments, womit alle Macht den Räten zufiel, geschaffen und durch den Bruch des Nürnberger Abkommens durch den Landtag automatisch wieder in Geltung gesetzt waren.

Erst als von der Regierung Hoffmann die Reichsexekutive alarmiert worden war und zur Unterstützung des Bamberger Rumpfkabinetts mit großer Truppenmacht und allem modernen Kriegsgerät in Bayern einrückte; erst als das Proletariat vor der erdrückenden Übermacht der von Generalstabsoffizieren befehligten Reichswehr Position um Position, Stadt um Stadt preisgeben mußte; erst als die junge, aus dem Boden gestampfte, ohne strategische Leitung auf sich selbst gestellte Rote Armee in heroischem Abwehrkampf gegen die landfremden Angreifer verzweifelte Straßenschlachten in München schlug; erst als das Blut von Hunderten und aber Hunderten von Feldgerichten standrechtlich geopfert war, als die entfesselte, durch Lügen und Verleumdungen in besinnungslosen Haß gepeitschte Freikorps-Soldateska viele der besten, dem Ideal ergebenen Revolutionäre ohne irgendwelches Verfahren entsetzlich hingeschlachtet hatte und München der Schauplatz ungeheuerlicher Plünderungen und zügellosester Landsknechtsverwilderung geworden war - erst da sah die Arbeiterschaft ein, daß ihr nichts anderes übrigblieb, als sich mit der Rückkehr der tiefgehaßten Bamberger Regierung und eines Parlaments abzufinden, das am 21. Februar in wilder Flucht, ohne irgendwen zu beauftragen, dem durch die Mordtat des Grafen Arco geschaffenen Chaos zu steuern, den Räteorganen des Proletariats die Interessen des Landes überlassen hatte.

Wenn das Münchener Proletariat nach seiner Unterwerfung durch die Reichstruppen die Rechtmäßigkeit der Regierung Hoffmann nicht mehr bestritt, so lag darin nicht die Anerkennung, daß diese Regierung auch vorher und ohne Unterbrechung im Besitz der Legitimität gewesen wäre. Herr Hoffmann und der ihm wieder zugelaufene Teil seines Ministeriums hatten einfach bei der Ausfechtung bewaffneter Kämpfe, bei der sie die Angreifer waren und die für sie ohne Zusicherung überlegener außerbayerischer Militärkräfte niemals zu gewinnen gewesen wären, den physischen Sieg davongetragen. In einem Zeitpunkt höchst akuter Kämpfe, als es galt, die durch die Revolution geschaffenen Verhältnisse überhaupt erst zu stabilisieren, und als zwei grundsätzlich verschiedene Verfassungstendenzen um die endgültige Staatsform in Bayern rangen, erlitt die Richtung, der die bayerische Arbeiter- und Bauernschaft bereits den Erfolg gesichert hatte, durch das Eingreifen landfremder Elemente die schließliche Niederlage.

Originaltext: Erich Mühsam: Das Standrecht in Bayern. Berlin 1923

Aus: Viesel, Hansgörg (Hg.): Literaten an der Wand. Die Münchener Räterepublik und die Schriftsteller. Büchergilde Gutenberg 1980. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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