Erich Mühsam - Heroenkult und Selbstkritik. Anmerkungen zur bayrischen Räterepublik

Wer geschichtliche Vorgänge miterlebt, an ihnen mitgewirkt, ihren Verlauf beeinflußt hat, muß sich zur Kritik stellen und sich, ist das von ihm verantwortete Unternehmen mißlungen, in die Rolle dessen fügen, der sich zu verteidigen hat. Leider ist diese Selbstverständlichkeit in unserer Gegenwart mit vielen anderen moralischen Verpflichtungen, die früher niemals zweifelhaft gewesen sind, stark außer Geltung geraten. Die Unterlegenen in den revolutionären Kämpfen des letzten Jahrzehnts spreizen sich wie Sieger auf den Trümmerhaufen ihrer Hoffnungen, Bemühungen und Taten und glauben, daß es nur noch darauf ankomme, den eigenen Namen in möglichst eleganten Schnörkeln in die ehernen Tafeln ruhmvoller Unsterblichkeit eingekratzt zu wissen. Zu diesem Zweck wird der Kampfgenosse, der im einzelnen oder im allgemeinen abweichende Meinungen vertrat, Beschlüsse durchsetzte, Handlungen veranlaßte, mit der Schuld an jedem Fehlschlag belastet und die eigene Haltung nicht nur gerechtfertigt, sondern im Selbstlob der Unfehlbarkeit bespiegelt.

Man fragt nicht: Wo steckte der entscheidende Irrtum?, wo die Sünde gegen die Idee?, worin erwies sich die angewendete Taktik verhängnisvoll? - man fragt: Wie richte ich es ein, daß mein und meiner Schar Verhalten in allem fehlerfrei befunden, daß die Nachbargruppe mit Schmach bedeckt der Verachtung der Künftigen preisgegeben wird? So kommt statt der Wahrheit, die geistige Kraft ist, Fälschung und Kränkung heraus, die lähmend und zerstörend auf jede Entschlußfähigkeit wirkt.

Wer mit seiner Beteiligung an einer mißlungenen Aktion nichts Besseres anzufangen weiß, als um Ruhm für sich zu werben und sich in dem erbettelten Ruhm zu sonnen, von dem ist für kommende Ereignisse kein Heldentum mehr zu erwarten; er hat das seinige ausgegeben und ist mit sich zufrieden. Aufgabe dessen, der der Idee dient und nicht dem Glanz seines Namens oder seiner Partei, ist schonungslose Wahrheit, die allein Dienst an der Zukunft ist.

Sowenig es die Sache Überlebender ist, ihre eigene oder die Rolle ihrer Organisation in einer niedergebrochenen revolutionären Erhebung zu beschönigen, so wenig darf ihr Pietätsgefühl gegen die Toten der Revolution sie zu Lügen oder Verfälschungen veranlassen. Heroenkult verträgt sich nicht mit der Förderung geschichtlicher Tatsachenerklärung. Es ist sehr töricht zu meinen, das Andenken dessen, der in Größe für seine Idee gefallen ist, würde dadurch entweiht, daß sein Wollen und Tun kritisch am Ergebnis seines Wirkens abgemessen wird. Der tote Revolutionär gehört der Revolution, für die er starb, wie er für sie gelebt hat. Seine Verdienste - darauf hat er Anspruch - sollen gewürdigt und gefeiert werden, damit sie denen, die berufen sind, sein Werk zu vollenden, als Vorbild dienen; aber seine Irrtümer - auch darauf hat er Anspruch - sollen erkannt und kritisiert werden, damit die Zukunft vermeiden lernt, was in der Vergangenheit geschadet hat. Indem wir die Bilder unserer Gefallenen bekränzen, bekennen wir uns zur Reinheit ihres Wollens und geloben ihrem Geiste Treue; aber wir verpflichten uns nicht zu ihren Fehlern.

Die Art, wie manche Revolutionäre aus ihren Toten unkritisierbare Autoritäten machen, ist keine Ehrung der Gestorbenen, sondern Mißbrauch mit ihrer Erbschaft. Der Idee, der Marx oder Lenin ihre Kräfte gaben, wird dadurch nicht gedient, daß man aus ihren Schriften Evangelien macht, um nach Bedarf einzelne Sätze daraus zur Rechtfertigung des eigenen Gebarens, zur Verächtlichmachung jeder Handlung eines Rivalen zu benutzen. Das Andenken Lenins zumal wird nicht von denen geschändet, die bei aller Anerkennung seiner revolutionären Energie die von ihm aufgestellten Lehren und die davon abgeleiteten politischen Maßnahmen verneinen, sondern von denen, die aus seinen Behauptungen und Anordnungen Dogmen machen und, während sie seinen Körper zur Schau stellen, seinen Geist zerstückeln und einander mit den einzelnen Fetzen Gesinnung und Ehrlichkeit verwüsten.

Das furchtbare Unglück, in dem vor jetzt zehn Jahren der einzige in Deutschland unternommene Versuch endete, den Einsturz der im scheußlichsten, in seiner Entfesselung wie in seinem Verlauf unsittlichsten Kriege der Weltgeschichte geborstenen Staatsherrschaft durch den Umsturz ihrer Fundamente für die Befreiung des Proletariats zu nutzen - die Katastrophe der bayrischen Räterepublik ist bisher dem revolutionären Bewußtsein ebenfalls kaum anders dargestellt worden als unter dem Gesichtspunkt der Rechthaberei, der Schuldüberbürdung auf andere beteiligte Gruppen und der kritiklosen Glorifizierung des standrechtlich ermordeten Führers der Münchener Parteikommunisten. Meine eben erscheinende Broschüre „Von Eisner bis Leviné“ beansprucht keineswegs, die Verantwortlichkeit für die Niederlage der Arbeiterschaft in vergleichender Prüfung festzustellen. Sie wird aber, wie ich hoffe, als Material für ein objektiv kritisches Werk, das einmal geschrieben werden muß, von Wert sein, da die darin mitgeteilten Vorgänge ausnahmslos beweisbare Tatsachen sind und ihre kritischen Betrachtungen zwar betont persönlichen Charakter haben, aber bemüht sind, frei von Liebedienerei gegen tote und lebende Freunde, frei von posierender Selbstgefälligkeit und frei von Ungerechtigkeit und Gehässigkeit gegen die Kameraden zu urteilen, die unsere Taktik angriffen. Immerhin handelt es sich um eine Verteidigung und um die Zurückweisung falscher Unterstellungen, deren Zweck von vornherein bestimmt war in Parteiinteressen. Daher konnte auch meine Arbeit nicht um den polemischen Grundzug herumkommen, und noch ein weiterer Umstand bedingte die Vernachlässigung der wichtigen Pflicht, als Anarchist das Verhalten der Anarchisten, somit auch das eigene Verhalten, unter anarchistischen Gesichtspunkten zu kritisieren. Die Broschüre von Paul Werner „Die bayerische Räterepublik“, die den Anlaß zu meinem knapp eineinhalb Jahre nach den Ereignissen verfaßten „persönlichen Rechenschaftsbericht“ gab, war gedacht und wurde wirksam als geschichtliche Unterlage der Auffassung, von der aus die damals von uns allen als maßgebliche Kritiker anerkannten russischen Sowjetorgane die bayerische Revolution beurteilten. Mir lag daran, meine Darstellung denselben Persönlichkeiten zur Kenntnis zu bringen, deren Urteil auch Werners Schrift vornehmlich unterbreitet war. Es war die stillschweigende Übereinkunft gültig, Lenin den Schiedsrichter darüber sein zu lassen, ob in den entscheidenden Tagen vom 4. bis 12. April 1919 das Verhalten der von Leviné geleiteten Parteikommunisten oder das der Anarchisten, also das von Landauer und mir geübte, revolutionär ratsamer war. Daher trägt mein Rechenschaftsbericht an der Spitze den Vermerk: „Zur Aufklärung an die Schöpfer der russischen Sowjetrepublik, zu Händen des Genossen Lenin“. Von den inneren Kämpfen zwischen den Revolutionären in Rußland selbst war 1920 noch kein Schatten in meine Kerkerzelle gefallen, so daß mir zu jener Zeit die Anerkennung Lenins als Repräsentanten des stürmisch bejahten Sowjetsystems, von dessen Verfälschung zur Parteidiktatur ich ebenfalls noch keine Ahnung hatte, ganz selbstverständlich war. Übrigens hat Lenin - ob durch meine Schrift oder durch andere Mitteilungen unterrichtet - sich bayerischen Kommunisten gegenüber mit deren Taktik durchaus nicht einverstanden erklärt.

Die zehnte Wiederkehr des Tages, an dem in München die Räterepublik ausgerufen wurde, wird ohne Zweifel von neuem in allen revolutionären Lagern die Frage nach den subjektiven und objektiven Gründen lebendig machen, die den Zusammenbruch verschuldeten. Wenn dabei in parteikommunistischen Kreisen die Albernheiten wiederholt werden sollten, mit denen man seit Erscheinen der Wernerschen Broschüre uns Anarchisten als verwirrte Schöngeister, die sich von Sozialdemokraten und Unabhängigen vorschieben ließen, hinzustellen beliebt, während die Kommunisten alle Weisheit, Voraussicht und Grundsatzfestigkeit allein verkörperten, so genügt es, auf die in meiner Rechtfertigungsschrift festgestellten Tatsachen zu verweisen; sie zeigen, daß auf allen Seiten Fehler gemacht wurden und daß die Uneinheitlichkeit der Aktion an den entscheidenden Tagen, das verhängnisvollste aller Verhängnisse, ganz zu Lasten der Kommunisten ging. Erst recht erübrigt sich eine Zurückweisung des demagogischen Kniffs, der die erste Periode der bayerischen Räterepublik bis zum Palmsonntagputsch der Konterrevolution als „Scheinräterepublik“ in Gegensatz stellt zu der echten Räterepublik, die mit der Übernahme der Vollzugsgewalt durch die Kommunistische Partei am 13. April erst geschaffen worden sein soll. In Wahrheit unterschied sich die Art der öffentlichen Verwaltung unter der Parteileitung in nichts Grundsätzlichem von der von uns verantworteten. Von einer Räterepublik im eigentlichen Sinne des Wortes allerdings waren beide Perioden gleich weit entfernt, und wenn schon das Wort „Scheinräterepublik“ Verwendung finden soll, so käme es der Gründung vom 6. April ebenso zu wie ihrer Fortsetzung vom 13. April, ebenso aber auch der ungarischen Räterepublik, und nur das Sowjetrußland vom Oktober 1917 bis zum April 1918 könnte für sich den Charakter einer unverfälschten Räterepublik in Anspruch nehmen. Das Rußland von heute hingegen, das die freie Rätewahl unterbindet und die Rechte der Räte einengt, hat nicht einmal mehr den Schein, sondern nur noch das Wort Sowjetrepublik bewahrt.

Nicht gegen die Parteikommunisten ist also heute das Verhalten der Anarchisten in Bayern zu rechtfertigen, sondern gegen die Einwendungen, die anarchistische Genossen selbst unter Hervorhebung unserer allgemeinen freiheitlichen Grundsätze erheben mögen. Um eines vorwegzunehmen: in meiner Schrift finden sich Ausdrücke, die sehr befremdend wirken können. Meine eigenen Auffassungen werden da mit der selbstverständlichsten Leichtigkeit bald kommunistisch, bald spartakistisch, bald bolschewistisch genannt. Es wäre gut, an Worten gar keinen Anstoß zu nehmen, sondern nur immer die Sache zu prüfen. In der Revolutionszeit vermischen und verwischen sich die Begriffe. Die Bezeichnung „kommunistisch“ hatte damals noch gar keine parteimäßige Bedeutung, und ich denke, ein kommunistischer Anarchist hört auch jetzt noch deswegen nicht auf, Kommunist zu sein, weil eine marxistische Partei den Namen für sich beschlagnahmt hat. Das Wort „bolschewistisch“ hatte 1919 erst recht noch keinen organisatorisch abgegrenzten Wert; es bezeichnete für uns einfach das Bekenntnis zu der Forderung „Alle Macht den Räten!“, die seit der Oktoberrevolution 1917 als die bolschewistische Grundforderung galt und zu der wir Anarchisten alle uns bekannten und noch bekennen. Heute gehört das Wort „bolschewistisch“ freilich unbestritten wieder denen, die es als Parteibezeichnung führen; es sind gerade die, die von der verbindenden Revolutionsformel „Alle Macht den Räten!“ nichts mehr wissen wollen und statt ihrer die Fahne einer „Arbeiter- und Bauernregierung“ über der proletarischen Zukunft schwenken. Was endlich den Namen „Spartakisten“ anlangt, so war das seit dem November 1918 die zusammenfassende Charakteristik des konsequenten Aufrührertums in Deutschland. Ursprünglich die Bezeichnung der Liebknecht-Gruppe und der revolutionären Unabhängigen während des Krieges, die die ganz lockere Organisation des Spartakus-Bundes geschaffen hatten, benutzten die Bürger und Sozialdemokraten den Ausdruck für alles, was ihnen ungemütlich war. Spartakus war der Bürgerschreck und damit der Ehrenname des Revolutionärs. Daran muß angesichts der Tatsache erinnert werden, daß man heutzutage sowohl bei Anarchisten als auch bei Parteikommunisten versucht, Abgrenzungen der Begriffe in die Vergangenheit zu übertragen, die erst lange nachher Unterscheidungsmerkmale erhielten. In der erregten Zeit entbrannter Revolution sagt man Spartakist, Bolschewist, Kommunist, Anarchist, um Revolutionär zu sagen, und das ist gut so, denn Revolution einigt.

Anders mag es sich mit dem Ausdruck „Diktatur des Proletariats“ verhalten. Hier wird nicht ein bloßes Wort ausgesprochen, in das man irgendeinen Sinn hineinlegen kann, sondern hier wird etwas Programmatisches ausgedrückt. Wir Anarchisten haben uns in früheren Jahren, als die Sozialdemokraten bei März- und Maifeiern ihren revolutionären Drang in das Bekenntnis zur Diktatur des Proletariats ausklingen ließen, mit aller Heftigkeit gegen die Aussicht gewehrt, das Bürokratenregiment ihrer Partei- und Gewerkschaftssekretäre als unentrinnbare Herrschgewalt über Tun und Lassen der Gesamtheit walten zu sehen. Denn etwas anderes konnten wir uns angesichts der Propagandisten dieses Diktaturprinzips nicht wohl darunter vorstellen. Auch heute wieder können wir uns nicht scharf genug lossagen von dem, was die legitimen Nachfolger der alten Sozialdemokratie, die Parteikommunisten, unter der von ihnen als revolutionäres Ziel erstrebten proletarischen Diktatur verstehen. Die Stalin-Herrschaft in Rußland, die sich zwar in der sozialen Tendenz, nicht aber in den politischen Diktaturmethoden vom Faschismus unterscheidet, wird uns ja von den Anhängern dieses Systems ausdrücklich als Diktatur des Proletariats angepriesen. Hätten Landauer, ich oder die übrigen an der bayerischen Revolution beteiligten Anarchisten dies oder etwas Ähnliches verkündet, gebilligt oder auch nur widerstandslos geschehen lassen, so wäre der Vorwurf begründet, wir hätten allen Grundsätzen der anarchistischen Gedankenwelt ins Gesicht geschlagen. Wir haben nicht entfernt daran gedacht, unter Diktatur des Proletariats jemals die Regierungsgewalt eines Klüngels zu verstehen. Wir haben das Wort gebraucht und mit de Inhalt gefüllt, der sich aus der Forderung „Alle Macht den Räten!“ von selber ergibt. Auf das Wort aber konnten wir nicht verzichten, weil die revolutionären Massen es als Formel ihres Klassenrechtes im Munde führten und wir ihnen einfach nicht mehr verständlich gewesen wären, hätten wir es ihnen ausreden wollen.

Als Landauer einmal im Rätekongreß klare Forderungen zur Sicherung des revolutionären Weges aufstellte, rief ihm ein Sozialdemokrat zu: „Das ist ja die reine Diktatur!“, und Landauer entgegnete: „Jawohl, das ist die Diktatur der Revolution!“ Nichts anderes hat uns je das Wort „Diktatur des Proletariats“ bedeutet als die gewaltsamen Sicherungen der Revolution gegen Anschläge, das Niederhalten der bezwungenen Gewalt, zu der die proletarische Klasse genötigt ist, will sie ihren Sieg nicht kampflos preisgeben. In diesem Sinne habe ich das Wort auch später noch gebraucht, auch noch in Artikeln des „Fanal“, und das hat mich leider wertvolle Freundschaften gekostet. Aber ich erkläre, daß ich in der Sache meine Ansicht in nichts geändert habe. Ich glaube noch heute an die Notwendigkeit revolutionärer Dekrete, erlassen von den Räten des Proletariats, um der Bourgeoisie die Lust zur Gegenrevolution zu nehmen. Ich glaube noch heute an die Notwendigkeit revolutionärer Komitees, die, wie es in Bakunins für die Kommune von Lyon vorbereitetem Aufruf vom 26. September 1870 hieß, „alle Macht ausüben unter der unmittelbaren Kontrolle des Volkes“. Diesen Zustand wollten wir Anarchisten 1919 herbeiführen, als wir die Räterepublik, die „Rätediktatur“ proklamierten, die wir in Übereinstimmung mit dem proletarischen Sprachgebrauch „Diktatur des Proletariats“ nannten. Nachdem unglücklicherweise die Entwicklung in Rußland allen Befürchtungen recht gegeben hat, die von den Anarchisten in früheren Jahrzehnten bei der sozialdemokratischen Agitation für die Diktatur des Proletariats ausgesprochen worden sind, und nachdem auch im Bewußtsein weiter Kreise des revolutionär gestimmten Proletariats diese Bezeichnung wieder die Bedeutung einer Parteidiktatur erlangt hat, unter deren Obrigkeit sich das Proletariat zu ducken hat, ist es klar, daß der Ausdruck „Diktatur des Proletariats“ die Sache nicht mehr deckt, die wir damit benennen wollten.

Die Formen allerdings, in denen die Ausrufung der Räterepublik geschah, und mehr noch die Konzessionen, die wir als Anarchisten an revolutionäre Gegebenheiten machten, werden wahrscheinlich vor der späteren Kritik unserer Genossen noch reichliche Beanstandungen erfahren. Hierin ging Landauer noch viel weiter als wir anderen, aber es wäre wohl ratsamer, darüber nachzudenken, warum Menschen, die mit ihrer ganzen Person, mit Fühlen, Denken und Erleben in den Strudel einer Revolution gerissen werden, immer die Möglichkeit des Handelns und Wirkens suchen und um des Handelns und Wirkens willen gar nicht davor zurückschrecken, ein ganzes Bündel das Leben hindurch treu gehüteter Weltanschauungsgesetze beiseite zu werfen. Fragt die anarchistischen Genossen in Rußland, in Ungarn, sie haben genau dieselben Bocksprünge über die anarchistischen Grundsätze weg gemacht, wie wir und wie alle Revolutionäre aller Richtungen Bocksprünge über ihre Doktrinen weg gemacht haben, sofern ihr Wille zu handeln stärker war als ihr Hang, vor der idealen Forderung Schildwache zu stehen.

Unser alter Freund Fritz Oerter, einer der Anarchisten, die die bayerische Räterepublik als aktive Kämpfer miterlebt haben, wird mir nicht böse sein, wenn ich ungefragt ein paar Sätze aus seinem letzten Brief an mich mitteile. In Ausführungen, die wohl oder übel das eigene Verhalten vor der Geschichte klarstellen sollen, läßt man gern einen anderen Genossen reden, der selbst dabei war und nun, nach zehn Jahren, das Bedürfnis fühlt, in einem nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Brief die Erinnerung aufzufrischen. Genosse Fritz Oerter hat in so hohem Maße das Vertrauen und die Liebe aller Anarchisten, daß ich glücklich bin, ihm da das Wort geben zu können, wo es mir schwerfällt, es zu nehmen.

Er schreibt: „… Es sind ja über die bayerische Räterepublik soviel Lügen verbreitet worden! ... Aber nicht nur er (Eisner), auch Landauer, Toller, ja auch wir alle haben Konzessionen gemacht, das heißt machen müssen, um wenigstens unseren Ansichten einigermaßen Gehör zu verschaffen. Wir alle täuschten uns in der Psychologie der Massen. Wir glaubten sie fähig, sozialistisch zu denken und zu handeln. Ich glaube, ein von der Sozialdemokratie noch unverbildetes und ursprüngliches Volk wäre vielleicht zu besseren Resultaten gelangt. Aus der Perspektive von heute gesehen, war die Räterepublik ein Versuch am untauglichen Objekt. Immerhin offenbarte sich bei dieser Gelegenheit ein beispielloser Heroismus. Man macht einem Dichter seine Ekstasen nicht zum Vorwurf, sondern freut sich ihrer. Die Räterepublik war ein kühner Aufschwung, der, weil er wenig oder keine Stütze fand, wieder zusammenbrechen mußte, ein Epos mit tragischem Ausgang, blutiger fast als das deutsche Nationalepos: die Nibelungen!

Auch wir in Fürth hatten vier Tage Räterepublik. Bekannte Arbeiter fielen mir damals auf der Straße vor Freude fast um den Hals. ,Fritz, denk nur, wir haben die Räterepublik!' - ,Kinder', sagte ich, ,wir haben bis jetzt nur den Namen, die Räterepublik müssen wir erst schaffen.' Es ist nichts daraus geworden, und am vierten Tage wurden die Räterepublikaner von den Sozialdemokraten im Arbeiterrat überstimmt. Damit wurde die Räterepublik in Fürth höchst gemütlich begraben. Du siehst, was in München sich zu fürchterlicher Tragödie entwickelte, ward in Fürth zur Posse.
 
Unser Landauer kam mir in jener erregten Münchener Epoche anders vor als in früheren Zeiten. Einerseits hatte er sich erfreulicherweise, was mir sehr an ihm gefiel, jenes Distanzgefühls entledigt, das in den Jahren vor dem Krieg manchen ehrlichen Kämpfer und Wohlgesinnten vor den Kopf stieß, andererseits aber schien er mir jetzt viel mehr zu Konzessionen geneigt zu sein als früher. Am weitesten ging er mir damals, als er mit Eichenmüller die bekannte Resolution abfaßte, gegen die außer Dir nur noch elf Mann stimmten, worunter auch ich mich befand. Gustav Landauer hat die Revolution nach meiner Auffassung damals viel zu sehr vom einseitigen geistigen Standpunkt aufgefaßt, wie Eisner zu sehr das einseitige Politische betonte, während bei einer Revolution mit sozialistischem Einschlag doch vor allem die wirtschaftliche Seite hätte betont werden müssen. In dieser Beziehung ist aber in Bayern sowohl wie im Reich verdammt wenig geschehen. Und darum ist alles gescheitert. Du hast recht, es ist vor zehn Jahren vieles gemacht worden, was falsch war. Aber ich habe den Trost, daß sich Größere und Bessere als ich geirrt haben ... Die Bewegung vom Jahre 1919 war ein erster Anhieb. Aber auf den ersten Hieb fällt kein Baum, selbst wenn er durchmorscht und verfault ist. Die großen Opfer, die gebracht wurden, können nicht umsonst dargebracht worden sein.“

Nein, die Opfer einer Revolution sind nie umsonst gebracht. Das Blut derer, die für die Zukunft der Menschheit starben, verpflichtet die Überlebenden, ihren Kampf weiterzuführen und siegend zu vollenden. Ihr Kampf aber soll nicht fortgesetzt werden, indem man ihre Fehler wiederholt, sondern indem man in Ehrfurcht prüft, worin sie recht, worin sie unrecht hatten. Die Frage, die der Untergang der bayerischen Räterepublik auf wirft, heißt nicht: für Leviné oder für Landauer? Sie heißt: Wie ergänzen sich die Tugenden und Fähigkeiten dieser beiden großen revolutionären Kämpfer so, daß die Vorzüge eines jeden von ihnen die Mängel des anderen aufheben? Aber nicht auf die zwei herausragenden Gestalten der Revolution kommt es an, sondern darauf, daß ihr Geist, ihr Blut, ihr Leben erkannt werde als Geist und Blut und Leben aller, die der Revolution ergeben sind. Kritik üben, auch an denen, die für ihre Sache das Leben opfern mußten, ist Pflicht gegen die künftige Revolution. Aber Kritik üben bedeutet alles andere als die Schwächen des Andersdenkenden sammeln und sich an ihnen weiden, sondern Wollen und Handeln, Wirken und Geschehen vergleichen und von Erfolg und Verlust jedem Beteiligten gerecht sein Teil zumessen.

Wenn wir dahin gelangen sollten, daß so von allen revolutionären Geschichtsschreibern Kritik geübt wird, dann wird die bayerische Räterepublik ihre historische Aufgabe erfüllen: neben der Pariser Kommune, neben der ungarischen Räterepublik und den Machnoschen Bauernsowjets mit dem düsteren Feuer ihres heroischen Untergangs die proletarische Zukunftsrevolution zu erhellen, in der ihre ewigen Gedanken der Gerechtigkeit und der Freiheit zur Wirklichkeit der menschlichen Gemeinschaft erstehen werden.

Originaltext: Fanal, 3. Jahrgang (1929), Nr. 7

Aus: Viesel, Hansgörg (Hg.): Literaten an der Wand. Die Münchener Räterepublik und die Schriftsteller. Büchergilde Gutenberg 1980. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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