Erich Mühsam - Lügen um Landauer
Es ist notwendig, deutlich zu reden.
Die Erinnerung an die Ereignisse vor zehn Jahren regt viele Leute an, ihr Gedächtnis anzustrengen und mit dem Anspruch des Beteiligten oder doch des Augenzeugen, der damals schon alles richtig vorausgesehen hat und an dessen Verhalten kein Fehlerchen auszusetzen war, Geschichte zu schreiben. Die geistige Verwahrlosung unsrer Zeit wird durch nichts besser gekennzeichnet als durch die Beobachtung, daß bei dieser Geschichtsschreibung in den seltensten Fällen das Bestreben bemerkbar wird, zur künftigen Feststellung der Wahrheit beizutragen. Fast überall ist der Wunsch zu erkennen, durch Kneten der Wahrheit Geschichte zu machen.
Gewöhnlich geschieht die Geschichtsfälschung durch Aussortierung der nachweisbaren Tatsachen. Man läßt Unbequemes aus der Darstellung heraus, ordnet das Übrige so an, daß der bestellten oder genehmigten Auffassung gemäß das zu Lobende in Weihrauch, das zu Tadelnde in Kloakendunst gehüllt scheint und alle Kritik so eingerichtet wird, daß das eigne Programm nur von Heroen, das Programm der Nachbarschaft nur von Trotteln oder Schurken verfochten wurde. Am 2. Mai 1919 wurde Gustav Landauer als Opfer der schwarzen Listen, die die nach Bamberg geflüchtete Gegenregierung gegen die bayerische Rätegewalt unter den Weißgardisten hatte verbreiten lassen, im Stadelheimer Gefängnis ermordet. Es versteht sich, daß sich am 2. Mai 1929 die Freunde Landauers verpflichtet hielten, die große Bedeutung des Mannes aus seinen Schriften, Briefen, Reden und Handlungen für die Mit- und Nachwelt aufzuzeigen. Ein Toter, dessen Walten und Wollen starke Lichter auf das Bild seiner Zeit setzte und der als Märtyrer für sein Walten und Wollen starb, hat Anspruch auf hohe Ehrung zu seinem zehnjährigen Todestage.
Niemandem, der aus anderm Denken zu andern Schlüssen kam als der Tote, kann aber das Recht bestritten werden, selbst in der Gedächtnisstunde Kritik zu üben und sich gegen die Auffassungen des Gefeierten abzugrenzen. Doch muß Verwahrung dagegen eingelegt werden, wenn die Kritik die Wahrheit verbiegt, sei es, um den zum eignen Bundesgenossen zu machen, der gar kein Bundesgenosse war, sei es gar, um sich selbst auf Kosten des Kritisierten in vorteilhafter Stellung vorzuführen.
So kraß es ist: die sozialdemokratische Presse hat Landauer Nachrufe gewidmet, in denen sie ihn beinahe für sich in Anspruch nimmt. Sie muß daher daran erinnert werden, daß Landauers ganzer politischer Lebenslauf ein einziger leidenschaftlicher und empörter Kampf gegen die Sozialdemokratie war, gegen ihre unsozialistische Theorie, gegen ihre unproletarische Politik, gegen ihre gegenrevolutionäre Gesamthaltung. Aber sie haben ja auch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die Opfer ihres Ordnungsdranges, mit sabberigen Nachrufen zum Zehnjahrestage ihrer Ermordung nicht verschont, und mit Eugen Leviné, den eine in der Mehrheit sozialdemokratische Regierung standrechtlich ermorden ließ, werden sie es, fürchte ich, auch so machen. Der „Vorwärts“ bestritt mir sogar das Recht, bei einer Landauer-Gedächtnisfeier die Maiopfer des Zörgiebel in die Trauer um die Toten der deutschen Freiheitssehnsucht mit einzubeziehen, in deren vorderste Reihe Gustav Landauer gehört. Es sei billig, von einem Toten zu behaupten, er hätte, wenn er lebte, dies oder jenes „angestellt“. Der „Vorwärts“ wird nicht in der Lage sein, in Landauers Leben auch nur eine Andeutung davon zu finden, daß er je seine Sympathie der „Staatsautorität“ statt ihrem Jagdwild zugewendet hätte. Ich aber bin in der Lage, aus dem stenographischen Bericht über die Tagung des Kongresses der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte in München (Seite 81) folgendes Intermezzo mitzuteilen. Am 1. März stellte ein Sozialdemokrat namens seiner Freunde im Kongreß den Antrag, die vom Revolutionären Arbeiterrat in den Zentralrat delegierten drei Mitglieder zu entfernen. Er holte sich von Landauer diese Antwort: „Hier redet einer, der sein Recht, unter Ihnen zu wirken, nur daher hat, daß der Revolutionäre Arbeiterrat ihn hierher delegiert hat. Und in diesem Augenblick geschieht der Antrag, wir sollen von der Mitarbeit ausgeschlossen sein. Genosse Niekisch, wollen Sie die Liebenswürdigkeit haben, mich zur Ordnung zu rufen; denn ich muß, ich kann nicht anders, etwas sagen, was sehr unparlamentarisch ist: In der ganzen Naturgeschichte kenne ich kein ekelhafteres Lebewesen als die Sozialdemokratische Partei.“ Hoffentlich genügt das, um den Ermordeten ein für alle Male vor der posthumen Freundschaft von Leuten zu schützen, für die er niemals etwas empfunden hat, was der Freundschaft entfernt ähnlich sähe.
Immerhin mag die Reklamation eines großen Toten für die Sache kleiner Lebender aus einem löblichen Schamgefühl oder doch aus einem verständlichen Alibistreben erklärlich sein und somit als fromme Lüge anerkannt werden. Was soll man aber dazu sagen, wenn das Andenken einer bedeutenden Persönlichkeit am Jahrestage der Ermordung mit schmutzigen Lügen besudelt wird, um ihre Bedeutung aus teils politischen, teils persönlichen Gründen vor der Nachwelt herabzuwürdigen? Das Mitglied der Kommunistischen Partei Otto Thomas hat das getan. Mir gebietet Freundschaft und Verehrung, nicht nur die Wahrheit festzustellen - das ist an dem Orte geschehen, wo die Lästerung verübt wurde-, sondern den Verleumder vor die Schranken zu fordern, seine Motive aufzuklären und sein Gesicht aufzudecken.
Thomas wagt es, außer andern falschen Darstellungen des Verhaltens Landauers bei der Ausrufung der bayrischen Räterepublik, die Beschuldigung gegen den Toten zu erheben, er habe „aus maßloser Eitelkeit“ dieses Ereignis geschoben, um sich zu seinem Geburtstage am 7. April eine private Überraschung zu arrangieren. Wahr ist, wie ich in meiner Broschüre „Von Eisner bis Leviné“ und jetzt auf Thomas' Frechheit von neuem nachgewiesen habe, daß Landauer derjenige war, der der Hinauszögerung der Ausrufung, die am 5. April erfolgen sollte, am heftigsten widersprochen hat. Jetzt zieht sich sein später Angreifer darauf zurück, ihm selbst habe ein Privatbrief Landauers vorgelegen, worin er das Zusammentreffen im Datum als Geburtstagsgeschenk bezeichnet. Das hätte freilich auch meinem toten Freund Hagemeister passieren können, der am 5. April, oder mir selbst, der ich am 6. April zur Welt kam. Die Entschuldigung macht Thomas' Behauptung noch viel abscheulicher, da sie klarlegt, wie er mit einem elastischen Hysteron proteron aus der Feststellung der Gleichzeitigkeit nach vollzogenem Ereignis in einer ganz intimen Auslassung die vorbedachte Herbeiführung eines außerordentlich bedeutungsvollen politischen Aktes zum Zwecke der Befriedigung einer lächerlichen Privatmarotte machte.
Diese Lüge, die den Gegner der offiziellen kommunistischen Parteipolitik jener Tage als Musik zu seiner Totenfeier verächtlich machen soll, ist nicht mehr und nicht weniger wert als die andre, die Otto Thomas den Arbeitern von 1929 vorsetzt, es habe „ein merkwürdiger Konkurrenzkampf zwischen Landauer und dem heutigen Sozialfaschisten Niekisch um das Amt des Volksbeauftragten für Volksbildung“ stattgefunden. Also Postenstreberei auch noch! Nicht nur hat da kein Konkurrenzkampf stattgefunden, sondern Landauer war derjenige, der nach der Ermordung Eisners die Anregung gab, Niekisch im neuen Ministerium das Kulturressort zu übertragen. Bei der Proklamierung der Räterepublik aber ist der Vorschlag, Landauer das Kommissariat für Volksaufklärung anzuvertrauen (den formellen Antrag dazu habe ich gestellt), der einzige gewesen, um den von Anfang an kein Streit entstanden ist. Also Verleumdung um der Verleumdung willen.
Otto Thomas war noch Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, als die Räterepublik in Bayern entstand. Er hatte als Arbeitersekretär dieser Partei den ganzen Krieg hindurch angehört, hielt bis zuletzt patriotisch durch, stand gegen Eisners Versuche, den Widerstand der Arbeiter zu wecken, und gegen den Munitionsarbeiterstreik im Januar 1918 stramm an der Seite Erhard Auers, bekämpfte im Provisorischen Nationalrat innerhalb der sozialdemokratischen Fraktion alle Bestrebungen, die Novemberrevolution im Geiste des Sozialismus vorwärtszutreiben, blieb auch nach Eisners Ermordung Freund der Auer, Roßhaupter und Endres und Feind derer, die in den freien Räten des Proletariats die Organe des Fortschritts sahen, und nahm noch als Delegierter der Sozialdemokratie an den Vorbereitungen der Neugestaltung der Dinge teil, die sich aus der Zusammenballung der Ereignisse entwickelt hatten. Ob er damals gegen die Räterepublik war oder zu denen gehörte, die Eugen Leviné mit seiner leidenschaftlichen Warnung meinte, die Sozialdemokraten machten nur mit, um uns zu verraten, mag Thomas selber entscheiden.
Noch die Ausrufung der Räterepublik selbst sah Landauers Entlarver als Abgesandten der Sozialdemokratischen Partei anwesend. Plötzlich aber, als die Kommunisten sich in bitterster Gegnerschaft abseits stellten, entdeckte Thomas sein revolutionäres Herz und schwenkte mit kühnem Salto über die Unabhängigen Sozialisten hinweg zu den Kommunisten hinüber. Am 11. April fand im großen Hofbräusaal in München eine Riesenversammlung der Betriebsräte statt, und dort griff Landauer den anwesenden Otto Thomas hart an und illustrierte an seinem Beispiel, daß man nicht grade uns die Gemeinschaft mit unsicheren Kantonisten vorzuwerfen brauche. Solange ich Thomas am Werke sah, war er nicht eben ein feuriger Räterepublikaner. Sein Verhalten nach dem Palmsonntagsputsch, bei dem ich gefangengenommen wurde, und nach dem die Kommunistische Partei die Räterepublik tapfer und entschlossen gegen die Partei verteidigte, der Thomas noch eine Woche zuvor angehört hatte, kenne ich nicht. Ich weiß nur, daß er nicht unter den vielen Hunderten war, die dabei wie Landauer und Leviné ums Leben kamen, und auch nicht unter den Tausenden, die von den Stand- und „Volks“gerichten abgeurteilt wurden. Als seine früheren Parteigenossen mit Hilfe der Monarchisten über seine neuen Gesinnungsgenossen restlos gesiegt hatten, wurde Otto Thomas Redakteur der kommunistischen „Neuen Zeitung“ in München.
Er blieb es bis Anfang 1921. Ich habe vor kurzem meine Gefängnistagebücher aus Niederschönenfeld zurückerhalten. Da finde ich unter dem 9. Februar 1921 folgende Aufzeichnung: „... In einer Versammlung im Zirkus Krone haben Otto Graf und Otto Thomas begeisterte Kriegsfanfaren geblasen, die nationalen Studenten zur Bildung einer gemeinsamen Front gegen das Ententekapital aufgerufen und damit den Enthusiasmus der ,kommunistischen' Arbeiter erweckt. Ja, als Gareis (USP) sehr vernünftig den Klassenstandpunkt vertrat, wurde er niedergeschrien und ihm während der Rede - ganz wie bei der alten Sozialdemokratie - das Wort entzogen.“
Thomas wurde damals, mit Graf zusammen, aus der KPD ausgeschlossen. Später, als man den Nationalbolschewismus („Sozialfaschismus“ nennt es heute, da Niekisch ungefähr dasselbe propagiert, derselbe Otto Thomas) schon liebevoller beurteilte, durfte er wieder eintreten, während Graf den Weg zu der Partei fand, aus der Thomas gekommen war. (Wie weit die Behauptung begründet ist, die Redaktion der „Neuen Zeitung“ habe damals unter dem materiellen Einfluß des Bundes Oberland gestanden, soll in diesem Zusammenhang unerörtert bleiben.) Am 9. August 1923 aber schrieb ich in mein Tagebuch: „... In der ,Roten Fahne' umarmen sich Radek und Reventlow, in Jena wird vor den versammelten Völkischen neben Artur Dinter unser ehrenwerter Otto Thomas angehört und angejubelt...“
In der Entgegnung auf meine Zurückweisungen seiner Unwahrheiten aber zieht sich Otto Thomas auf die Beschwichtigung zurück, er habe nur klarstellen wollen, „daß die Politik nicht Landauers Gebiet“ war. Da sind wir einig: eine Politik, die sich redlich und klug dünkt, wenn sie sich leichter mit dem Blutsünden-Dinter im Hurraschreien verbindet als einem großen ermordeten Revolutionär, der anders dachte, als die Parteiparolen der Auftraggeber opportun finden, die Reinheit der Persönlichkeit zu belassen - eine solche Politik war nicht Landauers Gebiet.
Originaltext: Weltbühne, 25. Jahrgang (1929), I. Band
Aus: Viesel, Hansgörg (Hg.): Literaten an der Wand. Die Münchener Räterepublik und die Schriftsteller. Büchergilde Gutenberg 1980. Digitalisiert von www.anarchismus.at