Die freie Consumption (1886)

Alles auf Erden Vorhandene ist theils Naturprodukt, theils das Produkt menschlicher Arbeit; letzteres theils von Generation zu Generation übertragen, theils von der bestehenden Gesellschaft herrührend. Selbst der Mensch, wie er sich heute darstellt, ist das Produkt continueller Arbeit, denn ohne jegliche Arbeit wäre er nie von seinem Urzustande abgewichen, er wäre heute noch dem Arten gleich, oder vielleicht im Kampf ums Dasein elend zu Grunde gegangen. Nur durch die wechselseitige Rückwirkung seines Gehirnes und dessen Arbeitserzeugnisses hat sich der Mensch auf die heutige Kulturstufe emporgeschwungen.

Da nun kein Mensch heute mehr im Stande ist, alles zu seinem Lebensunterhalt Nöthige selbst zu produzieren und da wie aus Obigem hervorgeht, Rohmaterial und Werkzeuge theils Naturprodukte, theils Produkte gesellschaftlicher Arbeit sind, endlich er selbst seine Fertigkeiten nur der Gesellschaft zu danken hat, so folgern wir, dass sich ein Jeder an der Gesamtproduktion zu betheiligen und sein Produkt der Gesellschaft zur freien Verfügung zu überlassen habe: wogegen er alles zur Befriedigung seiner Bedürfnisse Nöthige von der Gesellschaft erhält. Wenn es heute möglich ist, sich alle möglichen Genüsse zu verschaffen, weil man dafür bezahlen kann, so wird in einer anarchistischen Gesellschaft diese unbeschränkte Freiheit und Theilnahme an den Genüssen von Allen ohne Ausnahme geübt werden können. Man wird nicht mehr; wie gegenwärtig, ein Aequivalent in irgend einem Tauschmittel, in Metall oder Papier zu geben haben, für das, was man braucht, noch, wie die Völker des grauen Alterthums, Waare gegen Waare, in welcher die zu deren Herstellung nöthige Arbeitszeit als Werthmesser gelten soll, sondern man wird sich gegenseitig alle Produkte zur freien Verfügung stellen.

Es ist nicht wahrscheinlich, wenn man die Gewohnheiten der Menschen in der heutigen Generation und den Drang nach Unabhängigkeit und Freiheit, der ihnen — mehr oder weniger — innewohnt, in Betracht zieht, dass sie Consumptionsgruppen bilden werden, sondern ein Jeder wird sich mit allem Nöthigen versorgen, wo er Lust hat.

Erkennen wir nun obiges Prinzip als das unserige an, so müssen wir dasselbe naturgemäss mit dem Ausbruch des allgemeinen Kampfes, ohne welchen es überhaupt nicht abgeht, zu verwirklichen suchen. Es wird die erste Aufgabe der Anarchisten sein, die vorhandenen Reichthümer der Gesellschaft zum freien Genüsse zu übergeben. Selbstverständlich wird dadurch das Geld, welches, solange es als Eigenthum anerkannt wird, ein Hauptmachtmittel der herrschenden Klasse bildet, ganz von selbst werthlos und die Masse des Volkes wird für die Revolution gewonnen: denn alle vorhergegangenen Revolutionen sind zum Theil daran gescheitert, dass man das Eigenthum für “heilig” erklärte und das Volk nach wie vor hungerte.

Man komme uns nicht: das Volk sei noch nicht reif oder zu egoistisch eine solche Idee zu realisiern, es wird viele Faullenzer geben u.s.w., sondern man bedenke, dass während einer Revolution ein Volk oft in einem Tage grössere Fortschritte macht, wie in einer ruhigen Zeit in mehreren Jahren. Vielleicht, schon in den ersten Tagen der Revolution hat der Indifferenteste von heute, nachdem ihm durch die Realisierung dieser Idee die Augen geöffnet, uns Alte, die wir dieselbe heute schon begriffen haben, an Ideen sowohl als auch an Eifer und Thatkraft überholt.

Und sind es denn nicht gerade die heutigen Arbeitsverhältnisse, welche den Egoismus erzeugen? Ist es nicht der Arbeitszwang und der Stempel der Sklaverei, welchen die Arbeit trägt, welche den Widerwillen gegen dieselbe hervorrufen? Wer heute kein Eigenthum besitzt, ist gezwungen, entweder seine Arbeitskraft zu verkaufen, sich “zu vermiethen,” wie man an vielen Orten Deutschlands sagt, oder zu verhungern, wenn er nicht das nöthige Talent besitzt sich durch Diebstahl, Schwindel und drgl. von der Arbeit zu drücken. Aber die Arbeit, das Aschenbrödel von heute, wird in Zukunft den höchsten Rang einnehmen. Man wird nur Denjenigen achten, welcher sich der Gesellschaft nützlich macht, während Derjenige, welcher nichts thut, sich in jeder Beziehung zurückgesetzt fühlen wird. Und müssen nicht andere Verhältnisse nothgedrungen auch andere Ansichten und Eigenschaften zeitigen? Ist das Eigenthum abgeschafft, die Consumption und die Arbeit frei, so ist die Existenz eines Jeden gesichert. Der Gedanke an die Zukunft, an das Alter — wie wird es mir noch gehen — der heute Jedem, wie das Alpdrücken auf der Brust liegt, welcher unser ganzes Thun und Denken beeinflusst, wird schwinden. Der unglückliche, dem Elend preisgegebene Mensch wird in einen wahrhaft glücklichen verwandelt. Selbst Denjenigen, welche heute zu den Glücklicheren zählen, ist ein solches Glück fremd; denn das wahre Glück des Einzelnen kann nur in dem Glück Aller bestehen. Und das Gefühl des Glückes verdrängt den Egoismus. Es wird ein Zustand eintreten, wie er, solange es Menschen gibt, noch nie dagewesen ist. Die Menschen werden zum ersten Male wirklich frei sein — die freie Consumption ist, so zu sagen, die Rechtsverfassung, welche die individuelle Freiheit garantirt — in Folge dessen werden sie eine andere Anschauung vom Leben erhalten und anders denken und handeln.

Wenn wir zurückblicken in der Geschichte, so sehen wir, wie in jeder Revolution die Völker ihre Grossherzigkeit gezeigt haben, ja oft bis zum Verbrechen, denn sie waren zu grossherzig gegen ihre Feinde. Wir sehen, wie der Egoismus der Aufopferung und das Laster der Tugend Platz machten. Sie fühlten sich glücklich, weil sie die Stunde ihrer Befreiung geschlagen wähnten, weil sie nie zu den äussersten Consequenzen schritten. Die wirkliche Befreiung wird nur dann möglich, wenn jede Autorität vernichtet und, wie schon erwähnt, das Privat-Eigenthum abgeschafft ist. Darum nieder mit jeder Autorität! nieder mit Geld und Privat-Eigenthum! Hoch die freie Consumption!

Aus: Die Autonomie. Anarchistisch-communistisches Organ. No.2, 1. Jahrgang, 20. November 1886

Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/die-freie-consumption


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