Centralismus (1887)

Die centralistische Organisation hinsichtlich des Kampfes wird von vielen Sozialisten als unumgänglich notwendig erachtet, und ehe eine solche genügend hergestellt sei, wird jede gewaltthätige Handlung gegen die Gesetze als Provokation oder als “Unklugheit” verdammt.

Als z.B. am 8. Februar d. J. bei der Trafalgar-Square-Demonstration der Arbeitslosen aufreizende Reden gehalten worden (man sprach von Ausbeutern, Laternenpfählen. Aufknüpfen u.s.w.) und die Arbeiter ihrem berechtigten Zorn durch Einwerfen einer Anzahl Schaufenster und Ausräumung einer Anzahl Läden Luft machten; die verzweifelte Menge mit einigen “Lady’s” — von denen eine ihrem Kutscher befahl: “die Hunde zu überfahren”— und in Pelz gehüllten “Gentlemen” nicht all zu zart verfuhr, wodurch sie ihre Meinung über “Eigenthum” und “Eigentümer“ verständlich machten, sagten die sozialdemokratischen Führer nach ihrer Ankunft im Hyde Park zu der Menge:

“Diejenigen, welche Ladies molestirten, sind Feiglinge! Erlaubt euch keine weiteren Ausschreitungen mehr, sondern geht ruhig nach Hause und organisirt euch, denn ohne Organisation könnt ihr nichts ausrichten;” anstatt sie zur sofortigen Bewaffnung aufzufordern.

Oh! die Worte eines Camille Desmoulin oder Danton wären hier zur Grabrede der ganzen Ausbeuterschaft geworden.

Als ob es, wenn Tausende von Menschen ein und dasselbe Ziel verfolgen, noch einer weiteren Organisation bedürfe! Ist denn eine organisirte, von einem Centralpunkte aus geleitete Menge fähiger, der Militärmacht zu widerstehen, als eine unorganisirte aber gleich begeisterte? — Beide können beim ersten Anprall zurückgeschlagen werden, aber durch den Kampf wird ihr Muth gestählt und ist dieser vorhanden, so hat die Erstere nichts vor der Letzteren voraus.

Waren die Bastillestürme von 1789 organisirt? Sie hörten auf kein Commando, aber voll von Opfermuth und Begeisterung waren sie. Alle von dem einen Gedanken durchdrungen, Alle von dem einen Wunsche beseelt, die Bastille in ihre Hände zu bekommen. Die Ereignisse jener Zeit hatten sie in ein Ganzes zusammengeschmolzen.

Jene Pariser Frauen, welche die Initiative zum Aufstand ergriffen, indem sie bewaffnet nach Versailles marschirten, Volk und Militär mit sich fortreissend — hatte zur Folge, dass der König und die Nationalversammlung nach Paris unter Aufsicht des Volkes kamen — sie wussten nichts von Organisation. Die Macht der Verhältnisse trieb sie zusammen, ihr Opfermuth und ihre Begeisterung führten sie zum Sieg. Aber sind denn die englischen Arbeiter von heute weniger opfermuthig als die Franzosen jener Zeit? Mag sein! Allein es wurde im Hyde Park der Ruf laut: “Jetzt ist es Zeit loszuschlagen, führet uns und wir folgen” — Den “Führern” galt dies als Provokation. — Man wollte also kämpfen und es war die Zeit loszuschlagen. Denn, um mit Gewalt seine Menschenrechte gegen das herrschende Gewaltsystem zu vertheidigen, ist es immer Zeit. — Die Regierung war nicht vorbereitet, die Bourgeoisie und Aristokratie in einem panischen Schrecken; sie waren geradezu überrumpelt. Anstatt die Bewegung im Sand verlaufen und jene sich von ihrem Schrecken erholen zu lassen, musste man zu den Waffen greifen und sie zu vernichten suchen. Die Arbeiter mehrerer Provinzstädte standen sogar auf nach diesem schmählichen Rückzüge. Von welcher Wirkung hätte erst ein siegreicher Kampf sein müssen? Er wäre der Blitz, welcher ganz Europa entzünden musste, gewesen.

Bangte es den Führern vielleicht um ihr Leben oder um das der Arbeiter? Je nun, wer nicht bereit ist sein Leben auf dem Altar der Freiheit zu opfern, dessen Platz ist hinterm Ofen und nicht vor dem Volke, denn ohne Kampf keine Freiheit. Und ist denn nicht das Leben der Arbeiter ein förmliches Dahinsiechen? Sterben nicht auch jährlich Tausende auf dem Schlachtfelde der Industrie, in den Rädern der Maschine, im tiefen Schacht, in den Fluten des Meeres in Folge verrotteter Schiffe u.s.w.? Wer kann angesichts solcher Thatsachen noch vor dem Kampfe zurückschrecken? Nur Verräther, nur kurzsichtige Schwachköpfe können da zur Ruhe auffordern. “Gehet ruhig nach Hause und opfert euch dem “Moloch” Kapital. Verhungert, lasst euch zermalmen, verschütten, ersticken durch giftige Gase, findet euren Tod in Meereswellen, aber kämpft nicht, denn ihr seid nicht organisirt. Gehet und organisirt euch!“

Organisirt euch! Ja, wären der Verräther und Unfähigen nicht so viele! Napoleons grosse und wohlorganisirte Armeen anno 70, geführt von Dummküpfen und Verrätern, wurden eingefangen wie Heerden Schafe, während man der winzigen Zahl von “Franc-Tireurs,” welche den Feind beständig beunruhigten und keine Kriegsregel beobachteten, und dadurch dessen grösste Erbitterung hervorriefen, nicht habhaft wurde.

Im belagerten Paris lagen organisirte Armeen, stark genug den Feind in's Weite zu treiben, jeder Soldat und jeder Nationalgardist war sich dessen bewusst, aber Verräther an der Spitze leiteten die Verteidigung und leiteten sie zur Kapitulation.

Die Commune-Revolution konnte, wenn man Thiers und Consorten entweder in Paris gefangen nahm oder sie sogleich auf ihrer Flucht verfolgte, gerettet werden; aber Unfähige in der Majorität leiteten dieselbe, und leiteten sie in’s Grab.

Diese Beispiele beweisen zur Genüge, dass eine centralistische Organisation eher nachtheilig wie vortheilhaft ist. Zudem wird sich die Masse nie zum Zweck einer Revolution organisiren, denn dazu gehört Klarheit und ihr diese beizubringen, erschweren uns die vielen Verdummungsapparate der herrschenden Klasse. Aber Sache der bewussten Sozialisten ist es, bei solchen Gelegenheiten wie am 8. Februar, der Masse Muth einzuflösen, sie für unsere Ideale zu begeistern und nicht abzuwiegeln. Abwiegelei ist Verrätherei!

Y.

Aus: Autonomie. Anarchistisch-communistisches Organ. No.5 2. Jahrgang, London, 1. Januar 1887

Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/centralismus


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