Haben die Arbeiter Forderungen an die heutige Gesellschaft zu stellen? (1886)

Jeder zur Selbsterkenntniss gelangte Mensch muss diese Frage entschieden mit „nein“ beantworten. Ist doch schon die blosse Benennung (Arbeiter) in der heutigen Gesellschaft eine Entwürdigung! Heute sind wir „Arbeiter“ weil wir für Andere arbeiten, die nichts thun, aber dennoch geniessen, d.h. weil es auch Nichtarbeiter gibt. In einer Gesellschaft von gleichen kann von „Arbeitern“ im heutigen Sinne des Wortes keine Rede mehr sein.

Sind denn nicht die Arbeiter um ihr ganzes Leben betrogen? Oder ist das Leben des Arbeiters ein dem Menschen würdiges? Dem Menschen, als das vollkommenste lebende Wesen, für den Alles da ist, was die Natur und seine Arbeit hervorbringt; was jedoch der Majorität vorenthalten ist und was sich eine kleine Minorität unrechtmässig, gewaltsam und betrügerischerweise angeeignet hat — dem Menschen, der sich nur den Genüssen hingeben könnte, weil ja in einer freien Gesellschaft selbst die Arbeit zum Genusse wird, denn was der Mensch aus freiem Antrieb thut, gereicht ihm immer zum Genusse?

Was ist hingegen das Leben eines Arbeiters?

Während der Eine durch seine Arbeit, deren Entlohnung oft kaum hin reicht, sein und seiner Familie naktes Leben zu fristen, an einem bestimmten Orte festgehalten ist, einem Gefangenen gleich auf dieser grossen Erde, irrt ein Anderer rastloss in der Welt umher Arbeit suchend; d.h. er bittet Andere, welche die Natur auf gleiche Stufe mit ihm selbst gestellt hat: „Lasse mich für dich arbeiten, mache mich zu deinem Sclaven, damit ich nicht verhungere.“ Ist das nicht haarsträubend? Nicht allein, dass wir gezwungen sind, für Andere zu arbeiten, um weitervegetiren zu können, nein, man zwingt uns auch noch vorerst allerunterthänigst darum zu bitten.

Das heisst doch thatsächlich: der Eine hat über Leben und Tod des Anderen zu verfügen; die Besitzenden über Leben und Tod der Nichtbesitzenden. Und wie Viele sterben nicht den langsamen Hungertod, weil es keine Arbeit für sie gibt. Was sollen diese Armen beginnen? Betteln ist ihnen bei Strafe verboten, Stehlen ist ein noch grösseres Verbrechen, werden sie beim Selbstmordversuch ertappt, so werden sie bestraft. Sollen sie in’s Arbeitshaus gehen? Dort werden sie erst recht herabgewürdigt, denn ein „Pauper“ ist nicht mehr geachtet als ein Hund.

Wem, der sich diese grässlichen Zustände vor Augen führt, geräth das Blut nicht in’s Kochen? Wer kann mit Menschen, die ein solches, der ganzen Menschheit zur Schande gereichendes System aufrechthalten wollen, noch Kompromisse schliessen, wer noch mit ihnen parlamentiren, noch mit ihnen Reformen drechseln wollen? Gehen sie ja doch, wie die Erfahrung lehrt, nur auf solche Reformen ein, welche zu ihrem eigenen Vortheil ausfallen; selbst wenn dieselben scheinbar zu Gunsten der Arbeiter gemacht werden. In solchem Falle ist die schlaue Berechnung nur die, die Arbeiter zu beruhigen, ihnen neue Hoffnung einzuflössen, um sie desto besser im Zaume halten zu können. Nein! Solche Menschen, die jede Entwickelung hemmen, die die grosse Mehrzahl der Menschen zum Thier herabzuwürdigen suchen, auszurotten, sie von der Erde zu vertilgen, sind wir der Menschheit, der Nachwelt schuldig.

Leider aber gibt es doch noch Tausende von Arbeitern, welche die ganze Scheusslichkeit ihrer Lage erkannt, die gleiches Recht für Alle auf ihre Fahne geschrieben haben, und sich doch noch herbeilassen, Vertreter in’s Parlament zu schicken, um mit jener Ausbeuterklasse zu unterhandeln. Mit jener Klasse, die uns offen erklärt: „Wenn Ungleiches Recht für Alle, an den Genüssen dieser Welt theilzunehmen beansprucht, dann seid ihr Umstürzler und Verbrecher an der „göttlichen“ Weltordnung, denn dieses Recht haben nur wir. Es hat immer Arme und Reiche gegeben und den Armen ist das Reich Gottes. Das ist die göttliche Weltordnung. Wir werden desshalb kein einziges unserer Privilegien, nicht den geringsten Bruchtheil unserer Schätze abtreten, es sei denn, ihr nehmt sie mit Gewalt!“

Und hiermit ist uns unser Weg genau vorgezeichnet. Entweder wir lassen uns schinden und plagen bis in alle Ewigkeit, oder wir nehmen den Kampf auf. Wohl an denn, wir wählen das Letztere, denn nur durch den Kampf für unsere Menschenrechte voll und ganz, erheben wir uns zum wahren Menschenthum. Gehen wir aber auf die Kompromisse ein, dann gebührt uns, wie dem Karrengaul, mit dem uns die heutige Gesellschaft auf gleiche Stufe und vielleicht noch darunter stellt, — die Peitsche!

Aus: Autonomie. Anarchistisch-communistisches Organ. 6. November, 1. Jahrgang, 1886.

Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/haben-die-arbeiter-forderungen-an-die-heutige-gesellschaft-zu-stellen


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