Erziehungsprinzipien der Modernen Schule
Vorbemerkung: Nachfolgender Aufsatz unseres gemordeten Vorkämpfers Francesco Ferrer zeigt nicht nur in klarster Weise seine Strebensziele, sondern, was vielleicht wichtiger, den großen Unterschied zwischen dem, was Ferrer unter einer freien Schule verstand und dem, was unsere hiesigen, geistig armselig beschränkten Vertreter dieses Prinzips, die Hock und Hartmänner, darunter verstehen wollen. Eigentlich sind es sie, gegen welche Ferrer in seiner vorzüglichen Prinzipienerklärung seiner Modernen Schule polemisiert. Die Redaktion
Als wir vor sechs Jahren die große Freude erlebten, die Moderne Schule von Barcelona eröffnen zu können, haben wir mit Nachdruck hervorgehoben, daß das Unterrichtssystem derselben vernunftgemäß und wissenschaftlich sein wird. Unser Hauptbestreben war, vor allem, das Publikum darauf aufmerksam zu machen, daß, da wir die Vernunft und die Wissenschaft als das Gegenmittel für alle Dogmen ansehen, in unserer Schule keinerlei Religion unterrichtet werden wird. Wir wußten, daß wir mit diesem Entschluß den Haß der Priesterklasse gegen uns heraufbeschworen, und daß dieselbe uns mit allen Mitteln bekämpfen wird, welche gewöhnlich von jenen angewendet werden, die ausschließlich von der Lüge und dem Betrüge leben und es so gut verstehen, den Einfluß, den ihnen die Unwissenheit ihrer Getreuen und die Macht des Staates verschafft, zu mißbrauchen. Je mehr man uns die Waghalsigkeit zeigt, welche darin lag, sich so offen der herrschenden Kirche entgegenzustellen, desto mehr Mut fühlten wir in uns, um in unserem Unternehmen auszuharren; denn wir waren überzeugt, daß je größer ein Übel und je mächtiger eine Tyrannei ist, umso mehr Kraft nötig ist, dieselbe zu bekämpfen, umso mehr Energie man daran wenden muß, um sie zu zerstören.
Das allgemeine Wutgeschrei, das sich in der klerikalen Presse gegen die Moderne Schule erhoben hat — und dem ich wahrscheinlich ein Jahr Gefängnis verdanke — hat uns bewiesen, daß, vertrauend auf die Vortrefflichkeit dieser Unterrichtsmetode, wir alle freiheitlich Denkenden mit neuer Begeisterung erfüllen müssen, um das Werk mit größerer Entschlossenheit als je fortzusetzen, um es, so weit nur unsere Kräfte reichen, zu vergrößern und zu verbreiten.
Wir müssen aber bemerken, daß die Aufgabe der Modernen Schule nicht auf den Wunsch beschränkt ist, aus den Gehirnen die religiösen Vorurteile zu entfernen. Es ist wahr, daß dieselben vielleicht am meisten der geistigen Befreiung der Menschen im Wege stehen, aber ihre Zerstörung kann nicht genügen, um uns die Vorbereitung einer freien und glücklichen Menschheit zu sichern; denn man kann sich ein Volk ohne Religion, aber gleichzeitig auch ohne Freiheit, vorstellen.
Wenn sich die Arbeiterklasse vom religiösen Vorurteil befreit, aber das Vorurteil des Privateigentums, so wie dasselbe heute besteht, bewahrt; wenn die Arbeiter die Erzählung anerkennen, welche behauptet, daß es immer Reiche und Arme geben wird; wenn sich der freigeistige Unterricht damit begnügen muß, Kenntnisse über Hygiene und Naturwissenschaften zu verbreiten, und einzig und allein gute Lehrlinge, gute Handlungsgehilfen, gute Angestellte, gute Arbeiter, gute Bürger in allen Arbeitszweigen zu erziehen, können wir ganz gut Atheisten sein, und können, soweit es die kärgliche Nahrung, die wir mit unseren elenden Löhnen beschaffen können, es erlaubt, ein mehr oder weniger gesundes und kräftiges Leben führen — aber wir werden immer die Sklaven des Kapitals und des Staates bleiben.
Die Moderne Schule will alle Vorurteile bekämpfen, welche die vollständige Befreiung des Menschen verhindern. Deshalb wendet sie sich an die menschliche Vernunft, das heißt, sie will den Kindern den Wunsch einimpfen, den Ursprung aller gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten zu erkennen, damit sie dieselbe dann ihrerseits bekämpfen und ihnen widerstehen können. Unser Freidenkertum bekämpft die brudermörderischen Kriege, die inneren so wie die äußeren; der Freiheitsbegriff, den die Moderne Schule lehrt, bekämpft die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; die Knechtschaft des Weibes; er bekämpft alle Feinde der menschlichen Harmonie: die Unwissenheit, die Schlechtigkeit, den Hochmut und andere Laster und Fehler, welche die Menschen in Unterdrücker und Unterdrückte teilen.
Der vernunftgemäße und Wissenschaftliche Unterricht der Modernen Schule umfaßt, wie man sieht, das Studium all dessen, was die Freiheit jedes Einzelnen und die Harmonie der Gesamtheit fördert zur Erreichung eines Gesellschaftszustandes des Friedens, der Liebe und des Wohlstandes für Alle, ohne Unterschied der Klassen oder Geschlechter.
Francesco Ferrer.
Carcel Mod lo de Madrid, den 1 .Juni 1907
Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 22 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.