Sinn und Bedeutung des 1. Mai (1909)

Erwachen in der Natur; überall lugt froh-lockend Sommergrün hervor, während die letzten Spuren des frühjährigen Winters sich nach den Alpengipfeln und Gletschertürmen der Gebirgswelt zurückziehen müssen. Überall ersteht der Frohsinn des Vollreifen Lebens, Wärme, Glut und duftende Naturschönheit vereinigen sich zum freudigen Werden der besten Reifezeit im Jahre — sie sind die Verkünder, die Herbeiführer des 1, Mai.

Wie schön und beglückend wäre es, wenn alle Menschen mit Freuden dem Sommer entgegen sehen könnten, als der Zeit der Rast und des frohgemuten Tollens in lauschigem Waldesgrün und auf breiter Feldesweite. Wie erhaben wäre es, wenn die ganze Menschheit unseres europäischen Kontinents und Amerikas diese Zeit der Landarbeit widmen könnte, aus den stickigen Städten hinaus dürfte und in freier Gemeinschaft da mithülfe unseren Brüdern, den Bauern, in ihrer wichtigsten Arbeit für die Gesellschaft.

Eine natürlich lebende Menschheit würde es als Selbstverständlichkeit auffassen, den Sonnenteil des Jahres in freier Natur zu verbringen und in ihrer Arbeitswahl sich nur unter freiem Himmel zu betätigen. Im Sommer, ja schon im sprossenden Frühjahr müßten die Fabriken still stehen, müßten die Maschinen ruhen, müßte alles das, was in des Winters eisiger Kälte ja noch einigermaßen erträglich, alles das müßte ruhen und alle sollten im Sommer das genießen, was sie im Winter erzeugt an Hand der Technik und maschinellen Beschleunigung. Denn der Sommer sollte immer sein die Feiertagsperiode des ganzen Jahres, und der 1. Mai wird in einer zukünftigen freien Gesellschaft der Anarchie und des Kommunismus der Tag sein, an dem die Menschen hinauswandern werden in die weiten, dichten Wälder, um in natürlicher Ungebundenheit und Freudesgenuß das wahre Leben zu leben, ganz abgesehen davon, daß die kommunistische Anarchie ja überhaupt keine Fabriken und keine Maschinenarbeit im heutigen, vertierenden, versklavenden und schmutzigen Sinn des Wortes kennen wird. Aber sogar die unumgänglich nötige Beschränkung auf das Hausleben im Winter wird dann, in jener Zeit der wirtschaftlichen Freiheit und Gleichheit fallen und hinaus werden die Menschen strömen in langen Scharen, um zu leben am Busen der Natur, in wirklicher Natürlichkeit und allgemeiner, befreiter Liebe.

Freilich, heute ist der 1. Mai nicht ein solcher Tag. Heute ist er ein anderer Tag, denn auch Sommer und Winter haben in der Zeit gegenwärtiger Lohn- und Staatssklaverei eine andere Bedeutung, als sie in einer Gesellschaft haben werden, in der jede Herrschaft des Menschen über den Menschen und jede Ausbeutung des Menschen durch den Menschen verschwunden. Heute bedeutet der Winter die grause Periode der Kälte und des Mangels an Geld, um sich Heizmaterial zu beschaffen, bedeutet der Sommer die noch schwierigere, drückendere Arbeit, verschärft durch die Ungunst einer schweißtreibenden Sonnenglut. Und die Menschen arbeiten im Sommer oftmals schwerer, als im Winter, keuchend geht ihre Brust und Dunst steigt aus den gepeinigten Körpern, die nach Kühlung und Linderung schmachten, sie aber nicht haben können; denn es mangelt an Geld, um leben zu können. Und wieder Andere durchstreifen hungrig und durstig die breiten, sonndurchglühten Pflasterstraßen, es sind die arbeitslosen Männer, Frauen und Kinder, bis ein mitleidiger Schlagfluß ihnen diejenige Ruhe gewährt, die die bestehende Gesellschaft versagt.

Heute ist der 1. Mai kein Tag der Freude, kein Jubeltag, kein Festtag. Er ist und muß sein ein Tag des Trotzes, der Entschlossenheit, ein Tag, an dem es gilt, Waffen zu schmieden, um zur Freiheit zu gelangen! Ein Tag der Waffenschmiede — das ist uns der 1. Mai. Das wenigstens müßte er sein, um wirklich einmal in voller Freiheitspracht erstehen zu können, als großer Welträcher- und Richter, der mit einheitlich geschlossener Solidaritätsmacht des Proletariats die Banden und Trugfesseln der Ausgebeuteten zerschlägt, um in freier Gemeinschaft die Grundlagen einer neuen Gesellschaft zu legen.

Und einmal wird ein Morgenrot aufsteigen, das solchen 1. Mai uns kündet! Das ist gewiß. Denn die Ideen, die in den Köpfen jener amerikanischen Arbeiter wirbelten, die in den Achtzigerjahren uns den 1. Mai als Kampftag und Zielbewußtseinstag gaben, diese Ideen waren rebellische Gedanken, die alle Joche der Welt brechen wollten. Ideen können aber, wenn sie wahr gedacht und gefühlt werden, nie sterben; sie ringen sich immer wieder durch, mochten sie auch noch so verdrängt oder in ihr Gegenteil verkehrt worden sein. Auch der Gedanke des 1. Mai bestätigt diese alte Erfahrung. Lange war er nichts als ein parlamentarischer Schnorrertag, obwohl die damals revolutionären Arbeiter Amerikas sich ihn ganz anders gedacht hatten; heute ist er wieder zu seinem Ausgangspunkte zurückgekehrt und, wenn auch noch nicht Tat geworden, so doch der Idee treu geblieben: Der 1. Mai ist der Tag der wirtschaftlichen Generalstreikidee!

War sie es doch, die an der Wiege des großartigen Gedankens stand, den achtstündigen Arbeitstag durch die eigene Kraft des Proletariats zu erkämpfen! Denn alles, was das Proletariat besitzt — wie wenig es auch sei — es hat es sich selbst erkämpft und errungen, nur durch die eigene Kraft. Und für diesen Generalstreikkampf für den Achtstundentag gingen edle Männer in den Tod, wie es die Chicagoer Anarchisten 1887 taten, die nur für diesen Gedanken, der sich durch solch heroischen Kampf schließlich auch größtenteils durchgesetzt hat, gestorben sind. Wenn es den Politikern auch gelang, sich zwischen Kapital und Arbeit zu stellen und mit ihren Körpern jenes zu schützen, indem sie das Proletariat auf die Gutwilligkeit des Staates verweisen, der sie dafür ganz schön und vornehm bezahlt — dennoch, trotz alledem: der 1. Mai hat aufgehört, in der Brust des rebellischen Proletariats ein Bittgang zu Staatspotentaten zu sein. Diejenigen, die ihn noch immer als solchen begehen — die Sozialdemokraten — verlieren rapide das Vertrauen des Volkes, das doch endlich einsieht: seit dem Tag, da der Achtstundentag in die Hände der Politiker gelegt ward, um ihn durch staatliche Gewährung herbeizuführen, ist der Achtstundentag tot; seit dem Tag, da am 1. Mai 1906 das französische Proletariat sich wieder auf die Bedeutung des 1. Mai besonnen und in einem großartigen dreitägigen Generalstreik für 11 Gewerbe teils den Achtstundentag, teils namhafte Arbeitszeitverkürzungen und Lohnsteigerung erzwang — seit diesem 1. Mai 1906 ist der Achtstundentag wieder lebendig geworden, und in hunderttausenden Köpfen aller Länder wird es bald zu hämmern beginnen: Weg mit dem unfruchtbaren Bitten, Betteln, Fordern und Resolutionieren; Staat und Politiker werden euch Proletariern niemals helfen, wenn ihr euch nicht selbst helft; und eure Selbsthilfe bedeutet in diesem Fall, daß ihr den 1. Mai als den großen Generalausstandstag zu betrachten habt, der der ganzen kapitalistischen Welt zu verkünden hat: von morgen an arbeiten wir nicht länger als acht Stunden!

Das allein ist der großartige fruchtbare Gedanke, der der 1. Maibewegung zu Grunde liegt. Und dorten, wo man noch nicht an die Ausführung dieses Gedankens schreiten kann, obwohl man hunderttausende Organisierter hinter sich stehen zu haben vorgibt — wie es mit der Sozialdemokratie Deutschlands und Österreichs ist —, dort ist der lebendige Beweis dafür erbracht, daß die Grundlage solcher Organisation, die Lehre solcher Prinzipien und solcher Taktik eine durchaus falsche sein muß. Eins ist gewiß: wenn hunderttausende von organisierten Männern und Frauen wirklich nicht imstande sein sollten, sich gegenüber der bestehenden Welt durchaus notwendige, soziale Besserstellungen zu erringen, dann wäre diese bestehende Ausbeutungsordnung unerschütterlich und für ewig gesichert. Aber die Wahrheit ist, daß schon heute das Proletariat fast aller Länder — vornehmlich in Deutschland und Österreich — sich bedeutende wirtschaftliche Verbesserungen erkämpfen könnte und würde — wenn es von den bürokratischen und parlamentarischen Führern nicht gefesselt und gelähmt werden würde, indem diese dem Proletariat jede selbständige Schlagkraft der direkten Aktion benehmen, diese Hunderttausende von kampfesfähigen Enterbten und Ausgebeuteten auf die Bahn "friedlicher", "gesetzlicher", "parlamentarischer" Reform verweisen, die allerdings stets und immer ein Betrug ist und bleibt.

Durch die Sozialdemokraten ist der 1. Maigedanke entehrt und entwürdigt geworden. Er ist für sie einerseits ein Bitt- und Bettelgang zu den Staatsbehörden — die doch nichts zu tun haben können mit echt befreienden Zielen des Volkes, da sie von dessen Versklavung leben! — anderseits ein Trink- und Festgelage für die an diesem Tage phrasenberauschten Arbeiter, die aber am nächsten Tag wieder ins alte und gleiche Joch hineinschlüpfen. Früher, als man in Österreich das Wahlrecht noch nicht besaß, bediente man sich des 1. Mai — also einer wirtschaftlichen Aktion! — dazu, um jenes zu erringen; nun, da man dieses, im heutigen Staatswesen, wo der Ausgebeutete immer der Abhängige des Produktionsmittelbesitzers ist, lächerlich wertlose "Recht" dem Proletarier gegeben, sieht dieser schon ein, daß ihm dieses ganze "Wahlrecht" auch nicht einen Heller mehr Brot einbringt, wohl aber viele Heller und Kronen mehr an Steuern und Verteuerung eingetragen hat, da doch die nun unheimlich vermehrten Politiker darauf achten müssen, daß der Militärstaat ihnen ihre Diäten eintreiben soll.

Und heute wird der 1. Mai in Deutschland und Österreich, soweit er überhaupt begangen wird, abermals als ein Tag betrachtet, der dazu dienen soll, die politische Ohnmacht von rund 90 sozialdemokratischen Abgeordneten zu vertuschen, damit eben der Staat da oben denn doch "etwas" fürs Proletariat tun möge; was natürlich nie geschehen wird. Heute ist der 1. Mai wieder dazu, um dem Volke allerlei hypokritische "Sozial"-Versicherungspläne mundgerecht zu machen, an denen nur das eine wirklich sozial, daß sie alle, die sie belasten, auch tatsächlich ungeheuer besteuern, dadurch das Proletariat wieder hinters Licht führend. Und wie niedrig belügen diese Politiker aller Parteien doch das Volk! Unlängst, es war am 17. April, schrieb die Wiener "Arbeiter-Zeitung" in einer Besprechung dessen, was der 1. Mai ihr ist, die wie ein blutiger Hohn klingende Schwindelei, daß nun, durch das allgemeine Wahlrecht, die österreichischen Arbeiter freie und gleiche Bürger geworden seien! Nur einige Seiten weiter in derselben Nummer dieses erzdemagogischen Schundwisches war aber zu lesen, wie die ausgesperrten Metallarbeiter der "Alfa-Separatorfirma" von brutaler Polizeiwillkür niedergeritten, geschlagen und zu Dutzenden verhaftet wurden. Das ist gleiches und freies Bürgerrecht, das dir dein Papierrecht — das Wahlrecht — gebracht hat, österreichisches Proletariat! Und für solches Recht haben dich deine Führer zwanzig Jahre lang an der Nase herumgeführt, hast du dich heiser geschrien mit dem idiotischen Bourgeoisie-Rufe: "Hoch das Wahlrecht!"

Wahlrecht, politische Bettelei und parlamentarische Gaunerei haben nichts zu tun mit dem Gedanken des 1. Mai. Dieser ist ein Bewußtseinsruf der Erkenntnis, der aus den unterdrückten Klassen erschallt und zu verstehen gibt, daß das Proletariat es weiß, daß es sich selbst zu befreien hat, wenn es jemals befreit sein will. Der 1. Mai ist der Gedanke, daß es die wirtschaftliche Arbeitswilligkeit der Arbeitenden ist, die das bestehende System erhält, und er muß wertden, die Tat der Entschlossenheit, die da besagt, daß der 1. Mai der Tag sein soll, an dem vorläufig diese wirtschaftliche Arbeitswilligkeit des Proletariats aufhört zwecks Erringung sofortiger materieller Besserstellung; aber der 1. Mai wird und muß schließlich werden der Tag, an dem durch den Entzug der Arbeitskraft und die Massendesertion der Persönlichkeiten, die dem Neuen, dem Befreienden der Herrschafts- und Ausbeutungslosigkeit gehören, von dem wirtschaftlichen und sozialen Gebiet ihre kapitalistischen Betätigung — an dem mit der Arbeit des Aufbaues der neuen Gesellschaftsorganisation begonnen wird, die bedeutet: Beseitigung des monopolistischen Privateigentums an Grund und Boden, Werkzeugen, Fabriken Bergwerken, kurz alldem, was zum gesellschaftlichen Leben für Alle notwendig ist, Übergang all dieser Arbeitsmittel in die Hände der kommunistisch wirtschaftenden Menschengruppen, denen sich frei nach Belieben jedermann an schließen kann; und auf sozialem Gebiete: Beseitigung jeder politischen Herrschaftsautorität, um wirklich die freie Vereinigung der Menschen, die Freiheit des Individuums und der Gruppe zu gewährleisten, kurz, um endlich die wahre und einzige Freiheitsmöglichkeit für die Menschheit zu begründen, die in der staats-und herrschaftlosen Ordnung in Freiheit, in der Anarchie, gelegen ist.

Das sind die Gedanken und Ideale, die dem 1. Mai zu Grunde liegen. Nur wir kommunistischen Anarchisten und revolutionären Sozialisten verkünden sie in ihrer vollen Reinheit und Wahrheit, indem wir uns mit nichts anderem begnügen wollen, denn mit dem materiellen Wohlstand Aller und der ganzen ungeschmälerten, durch keinerlei anarchistische Herrschaftsform — und sowohl Monarchie wie Demokratie sind Herrschaft! — vernichteten Freiheit für Alle.

Deutsch sprechendes Proletariat, der 1. Mai, den wir heute feiern, ist noch nicht der jenige 1. Mai, den wir in der Zukunft zu feiern berufen sein müssen. Durch die Abwendung der Sozialdemokratie von jedem sozialistischen Prinzip, sind wir gezwungen, von vorn anzufangen und so kann uns der 1. Mai heute notwendig nur ein Proklamationstag, ein Verkündigungstag unserer Lehren sein, dessen, was wir wollen.

Aber er wird nicht immer dies bleiben. Das Proletariat wird zum Bewußtsein seiner Ideale erstarken und ward durch den Generalstreik, die direkte Aktion, den Antimilitarismus, den 1. Mai zu dem gestalten, was er ist und sein soll: ein Kampftag der wirtschaftlichen Lohn- und Arbeitsverbesserung, ein Aktionstag des sozialen Ringens gegen jede Ausbeutung und Unfreiheit, ein Tag der internationalen Verbrüderung, die kein Vaterland kennt, die sich gegen jeden Krieg auflehnt und empört, und die das Fundament legt für den erhabenen Solidaritätsbau des international, sich befreienden, seine Fesseln brechenden Proletariats.

In diesem 1. Maitag liegen, wie wir sehen, mehrfache Gedankengänge. Aber sie alle sind ursprünglich sozial und sich gegen das Bestehende kehrend, nirgends ein Kompromiß, nirgends ein Anschmiegen an das Schmachunrecht der bestehenden Gewaltsunterdrückung. Der 1. Mai ist ein Tag der prinzipiellen Aufklärung; dorten, wo das Proletariat bereits rebellisch empfindet, ist er der Ausbruchstag des unversöhnlichen Kampfes um soziale Gerechtigkeit; und wenn diese dritte Phase des 1. Maigedankens sich einmal nachhaltig genug betätigt haben wird, dann wird der 1. Mai der Herold der vollständigen sozialen Befreiung, der Vernichtung der Lohnsklaverei und jeder autoritären Büttelei. So weit wir den 1. Mai sehen, ist er bisher stets der Tag des Ringens, des großen Massenwallens der proletarischen Heerscharen — der Zukunft entgegen, dem Glück Aller entgegen, der Wohlfahrt und Gedeihlichkeit aller entgegen!

Aber auch in anderer Gestalt, denn in der des gerüsteten Ritters und Kämpfers werden wir den 1. Mai einst sehen. Denn, wenn die Kämpfe seines Werdeganges geschlagen, seine Siege eingeheimst sein werden; wenn ein geläutertes Proletariat als Gesellschaftsklasse sich selbst aufgehoben und durch ein geistig allgemein adeliges Menschengeschlecht ersetzt haben wird; wenn der 1. Mai der große historische Gedenktag der Weihe einer neuen Zeitrechnung geworden ist, dann wird uns der 1. Mai entgegentreten als das erhabene Füllhorn der menschlichen Freiheit, als eine Ära der neuen, herrschaftslosen Kultur, aus der es vieltausendstimmig hervorklingen soll: Wohlstand und Freiheit sind die Grundpfeiler der neuen Menschheit, der Maienmenschheit!

Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 9 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email