"Sozialisten" morden Proletarier

"Linz, 12. Mai. Auch der heutige Tag ist unter dem Standrecht in vollster Ruhe verlaufen. Die Zahl der Todesopfer hat sich um zwei vermehrt und beträgt nunmehr neun Personen. Unter den Toten und Verwundeten befinden sich auch Leute, die gar nicht an der Demonstration beteiligt waren ..."

Es scheint, als ob die urteilende und rächende Geschichte die Schnelligkeit ihres Laufes verzehnfacht habe. Voraussagungen, die wir Anarchisten machen konnten, weil wir nicht nur mit äußeren Umständen und Verhätnissen, sondern auch mit der Natur des Menschen rechnen, sie treffen ein, früher als man es erwartet.

In Nr. 19 Von "E.u.B." schrieb Ramus: "Wir haben es also in der Errichtung dieser Söldnerarmee ausgesprochenermaßen mit der Gründung einer Schutzgarde für das bestehende kapitalistische System im Innern zu tun." "Selbst die bewährten sozialdemokratischen und "kommunistischen" Arbeiter, die dem Söldnerheer beitreten werden, ... sie sind (dann) bewaffnete Menschen, können durch diesen der Regierung verdankten Umstand besondere Begünstigungen genießen, dürfen ein Schmarotzerleben führen, wissen aber auch, daß a1les dies ein Ende hat auf disziplinarischem Wege, wenn sie auch nur im Geringsten ihre beschworene, eidlich auf sich genommene Pflicht vernachlässigen: ein Instrument der herrschenden Machthaber zur Aufrechterhaltung der kapita1istischen Staatsform wie des Kapitalismus als eines Wirtschaftssystems des Staats- und Privatmonopols zu sein."

Und was erlebten wir eben jetzt in Linz?

Die "Rote Fahne" flunkert verlegen über die Frage herum, ob "Kommunisten" oder keine Kommunisten den Anlaß zu dem Blutbad gegeben hätten. Die "Arbeiterzeitung" benutzt freudig die Gelegenheit, die "Kommunisten" wieder einmal ordentlich mit Kot zu bewerfen, Verleumdungen und Lügen über sie auszustreuen. In Linz geht's außerdem den Kommunisten wie dem Kameraden Ramus auf der ersten Reichskonferenz der Arbeiterräte, wo Sozialdemokraten und "Kommunisten" in holder Gemeinschaft ihn ausgeschlossen haben, weil sie seinen Geist fürchteten; nun entrevolutionieren die Sozialdemokraten den Arbeiterrat durch Ausschluß der "Kommunisten".

Uns ist es ganz gleichgültig, wie die Zusammensetzung und Führung der Demonstrierenden in Linz beschaffen war. Es werden wohl kommunistische und sozialdemokratische Bauarbeiter gewesen sein, die gemeinsami die ehrenhafte, lobenswerte Initiative ergriffen, ihren Gewerkschaftsvertrauensmann aus dem Gefängnis zu befreien. Die "revolutionäre" Sozialdemokratie, die so gerne die Nachfolgerin der Pariser Bastillestürmer von 1789 sein mochte, sollte doch durchaus keinen Anstoß an solchem Willen nehmen. Aber sie ist ja jetzt Koalitions-Regierungspartei! Und die "Kommunisten"? Auch sie ziehen sich feig aus der Schlinge und schimpfen auf eine unbestimmte "undisziplinierte Masse" — genau so wie in den Neunzigerjahren des verflossenen Jahrhunderts die Sozialdemokraten bei ähnlichem spontan-revolutionären Vorgehen der Volksmasse —, die doch wohl kaum aus Deutschnationalen und Christlichsozialen bestanden haben dürfte.

Aber über eines finden beide kein vernichtendes Urteil: Die Volkswehrmänner, auf deren sozialistischen, klassenbewußten Charakter sich beide Parteien soviel zugute taten, die "Proletarier im Waffenrock", haben auf Proletarier geschossen! Wo blieb da die proletarische Solidarität der "sozialistischen" Volkswehrmänner? Was die Masse — ob diszipliniert oder nicht, ist jetzt Nebensache — tun wollte, war einen Bruder aus dem Gefängnis zu befreien, war also ein eminent revolutionärer Akt. Und die "revolutionären" Volkswehrleute?

Wir werfen ihnen keinen Verrat an ihrer Klasse vor. Sie mußten auf die Arbeiter schießen. Als Volkswehrsöldner standen sie eben im Dienste des Staates. Seine Interessen zu verteidigen, hatten sie geschworen. Revolutionär, solidarisch mit dem Volke handeln, das Gefängnistor öffnen und dem Burgstaller die Freiheit geben, das hätte für sie bedeutet, den Treueid brechen. Gelinde bestraft, hätten sie ihren Nichtstuer- und Schmarotzerposten bei der Volkswehr und die Aufnahme in die neue Söldnerarmee verscherzt, wenn ihnen nicht wegen Meineid, Hochverrat usw. Ärgeres widerfahren sollte. Und so mußten sie eben ihre "Pflicht" tun: Brudermord begehen, um auch später noch als wackere Republikaner das "Vaterland" gegen den inneren Feind verteidigen zu können. Man kann eben nicht revolutionärer Sozialist und zugleich bezahlter Verteidiger der kapitalistischen Staatsordnung sein! Klassenverrat — wenn auch nicht bewußter — war eben schon ihr Treueid, Klassenverrat das Ergreifen des Soldatenberufes. Proletariermord im Dienste des kapitalistischen Staates beging die "sozialistische Volkswehr".

Nun, werte Genossen Kommunisten und Sozialdemokraten, wo bleibt nun eure Phrase von der "Bewaffnung des Proletariats"? Glaubt ihr noch daran, daß eine Minorität von Parteigenossen es zustandebringen wird, die neue Wehrmacht in ähnlichen Fallen wie in Linz zu einem solidarischen Handeln mit den Proletariern zu bewegen? Glaubt uns, was wir prophezeien: "Nur ein Jahr militärischer Drill und die neue Wehrmacht ist ohne Widerspruch zum Schießen auf Streikende zu haben!" Versteht ihr nun unsere Warnung: "Meidet die Söldnerarmee!"? Dann beweinet wenigstens den Verlust eurer irregeführten, betörten Genossen, die dem Ruf eurer pseudorevolutionären Parteiführer gefolgt sind: "Hinein in die neue  Wehrmacht!"

Geht endlich daran, alte Fehler gut zu machen: Ohne Munition ist Militär und Polizei trotz ihrer Waffen ungefährlich; unterbindet die gesamte Munitions- und Waffenerzeugung! Vernichtet die erzeugten Mordmittel! Boykottiert das Militär! Verwendet die Rohstoffe der Sprengstoffabrikation, um Kunstdünger für die landwirtschaftlichen Siedelungen jener Genossen zu erzeugen, die nicht mehr menschen-mordende Geschosse drehen wollen. Sie werden euch überdies noch Lebensmittel dafür schicken. Beginnt endlich damit, das Mittel des Generalstreiks zur Entwaffnung aller Menschen zu gebrauchen, schaffet so den herrschaftslosen Sozialismus!

Arbeiter! Die Geschichte muß unsere Lehrmeisterin sein. Hören wir nicht auf sie, dann wird ihre Rache schrecklich sein. Im Kleinen hat das Linzer Blutbad gezeigt, daß der "revolutionäre Militarismus" eine gefährliche Phrase ist. Pflicht ist es nun, den konsequenten Antimilitarismus zu betätigen und uns vertraut zu machen mit den Mitteln der Gewaltlosigkeit, mit denen wir den Kapitalismus vernichten und die freie Gesellschaft herbeiführen werden.

Ernst Kerpen

Aus: "Erkenntnis und Befreiung", 2. Jahrgang, Nr. 26 (1920). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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