Der Syndikalismus und das österreichische Proletariat
Als in einem seiner letzten Vorträge Kamerad Rudolf Großmann den jüngst abgehaltenen Kongreß der deutschösterreichischen Gewerkschaften einer vernichtenden Kritik unterzog, fühlte ich als überzeugter Syndikalist aufs neue bitter die Absurdität, daß in unserem, von den Verheerungen des Hungers und der krassesten materiellen Not — der unmittelbaren Folge einer von dem sozialdemokratischen Patriotismus unterstützten Nachkriegspolitik — am meisten mitgenommenen Landesgebiet, kaum die Spur einer revolutionär-syndikalistischen Gewerkschaftsbewegung vorhanden ist.
In dumpfer, verzweifelter Agonie dahinlebende Menschen, die darum bangen müssen, ob sie morgen überhaupt noch ihr lächerlich kleines Stückchen Brot zur Verlängerung ihres Verhungerungsprozesses ausgefolgt erhalten werden, hausend in Heimstätten, aus denen längst alles halbwegs Entbehrliche im Austausche gegen Mehl und Kartoffeln aufs flache Land gewandert ist, in denen das Knurren ihres Magens nur von dem Frostgeklapper ihrer Zähne übertönt wird, neben einer monarchistisch tobenden, unter dem Schutze einer sozialdemokratisch-klerikalen Koalitionsregierung stehenden, überfütterten, frechen Schieber- und Schmarotzermeute; also Menschen, unter denen bereits das Vorbild afrikanischer und australischer Kannibalen Schule zu machen beginnt, zerquälte Proleten, deren etliche fast täglich von stürzenden Bäumen, die sie im Wienerwald, um daheim doch ihre Wassersuppen kochen zu können, zu fällen versuchen, verletzt und erschlagen werden und vor denen eine hochwohlweise Stadtverwaltung die Bänke der Gartenanlagen in Sicherheit bringen muß, um sie nicht der Gefahr auszusetzen, die Verwandlung in Brennholz durchzumachen; Menschen eines Staates, in dessen Gebäranstalten neugeborene Proletarierkinder erfrieren; Arbeiter, die einmal in der Brigittenau in Wien, ein andermal in Innsbruck oder sonstwo auf die Straße gehen, um ihren Hunger hinauszuschreien, was aber eine dickfellige Börsenjobbergesellschaft nicht hindert, ihren rasenden Tanz um das papierene Kalb fortzusetzen; — diese, dieselben Menschen lassen, dumpf und stumpf, ihr Schicksal in den Händen von politischen Geschäftsleuten, deren markanteste Eigenschaften ihre Unverfrorenheit, politische Verschlagenheit, Geriebenheit sind!
Auf dem jüngst abgehaltenen Gewerkschaftskongresse sprachen ihnen sozialdemokratische Regierungsmänner die Bewunderung für ihr geduldiges Sichducken unter der Hungerpeitsche aus und verschrieben ihnen platonisch als Mittel gegen den Hungertyphus — den Anschluß an das Noske-Reinhard-Deutschland. .... Und das österreichische Proletariat nimmt den Hohn ruhig hin und nimmt ihn am Ende noch als Lob auf! Es ist nicht meine Absicht, diese Affentragikomödie weiter auszuführen.
Mein tiefster Glaube ist, daß der eine Weg, der aus dem Chaos und der Vernichtung herausführen kann, der zum herrschaftslosen Sozialismus ist: und gangbar wird er für die Arbeiterschaft nur durch den Syndikalismus, die freie, föderative Vereinigung der Arbeiter der verschiedenen Berufszweige, zur Produktion der lebensnotwendigen Güter und zum Austausch derselben untereinander. Diesen Weg muß die soziale Revolution, die da erst kommen soll, gehen, um an das Ziel der sozialen Befreiung zu kommen. Revolution ist Befreiung im weitesten, höchsten menschlichen Sinne und erst Menschen, die die wirtschaftlichen Sklavenbande abgestreift haben, vermögen in diesem höchsten menschlichen Sinne frei zu sein. Der Weg zum freien Menschen geht für den Proletar über den ökonomisch befreiten Menschen.
Die Gewerkschaften, wie sie jetzt sind, gehen unbewußt oder halbbewußt den Weg der kapitalistischen Herrenmoral: ein Kreisel von Lohnbewegungen und Lohnerhöhungen der wirtschaftlich höher organisierten Schichten, deren preistreibende Resultate vervielfacht auf die organisatorisch weniger vorgeschrittenen breitesten Massen des Proletariats als Konsumenten abgewälzt werden, die immer mehr in die Gefahr geraten, am Ende erschöpft am Wege liegen zu bleiben... Und alles das, ohne den wirtschaftlich besser organisierten Arbeitern wirkliche Daseinserleichterungen verschafft zu haben.
Tolstoi sagt irgendwo in seinem Buche "Moderne Sklaven": "Es kommt ihnen gar nicht in den Sinn, daß ihre schlechte Lage nur von ihnen selbst abhängt und daß, wenn die Arbeiter wirklich die Verbesserung ihrer eigenen Lage und der Lage ihrer Brüder wünschen, und wenn nicht jeder nur seinen Vorteil erstrebt, sie vor allen Dingen selbst aufhören müssen, das Böse zu tun. Das Böse aber, das sie tun, besteht darin, daß die Arbeiter ihre materielle Lage durch dieselben Mittel verbessern wollen, wodurch sie in die Sklaverei gebracht sind".
Die syndikalistische Bewegung, die in Österreich zu schaffen unsere Pflicht ist, soll dem Proletariat die soziale Revolution unserer Auffassung begreiflich machen, das dem wahren Sozialismus Widernatürliche der gegenwärtigen gewerkschaftlichen Bewegung verdeutlichen, die Kampfschule für die soziale Befreiung sein.
Nur Tatsachen überzeugen; gehen wir darum daran, eine Tatsache zu schaffen: Die syndikalistische allgemeine Gewerkschaftsföderation Österreichs! Ich verweise auf meinen "Aufruf zum Syndikalismus", der vor kurzer Zeit in "E.u.B." erschienen ist und auf den sich bis heute nur wenige Kameraden zur aktiven Mitarbeit bereit erklärten.
In unserer Bewegung sind alte Syndikalisten, die vor dem Kriege in den schwierigsten Verhältnissen syndikalistische Propaganda betrieben: haben sie aufgehört, Syndikalisten zu sein? Es besteht in Wien bereits eine freie Gewerkschaft der Schuhmacher: will sie mittun? Die in der herrschaftslos-sozialistischen Vereinigung geistiger Arbeiter organisierten Angestellten, wollen sie sich zu Berufsgruppen zusammenschließen?
Der "Freie Arbeiter", die Zeitung der anarchistischen Föderation Deutschlands, der meinen "Aufruf zum Syndikalismus" abgedruckt hat, knüpft an ihn folgende Bemerkung: "Wir begrüßen diese Tat unserer österreichischen Genossen von ganzem Herzen. Ein schweres Stück Arbeit wird allerdings zu leisten sein, bis der syndikalistische Gedanke im gemütlichen Österreich Wurzel faßt, denn trotz der furchtbaren Zustände im Ernährungswesen, gegen die die unsern als glänzend angesprochen werden können, hat das österreichische Proletariat es heute stumpf und dumpf dahingelebt und sein Schicksal dem Ermessen seiner Führer überlassen. Hoffen wir, daß die Propaganda unserer Genossen für Syndikalismus und direkte Aktion hierin eine Wendung zum Besseren herbeiführen möge."
Manuelle und geistige Arbeiter, schaffen wir am Syndikalismus!
Benedikt Fantner
Aus: "Erkenntnis und Befreiung", 2. Jahrgang, Nr. 8 (1920). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.