Die Gewalt-Institution von Recht und Justiz
Wie ist das Recht entstanden? Die klassische Jurisprudenz hielt es für eine angeborene Idee des Menschen, für einen unverlierbaren Adelt seines Wesens, der ihn vom Tiere unterscheide. In dieser Anschauung ist die Nachwirkung des Bibelglaubens unverkennbar! Der Mensch hat vom Baume der Erkenntnis gegessen und kennt nun den Unterschied zwischen Gut und Böse.
Doch erwies sich die Lehre von der angeborenen Idee des Rechtes bald als fadenscheinig. Denn Recht und Unrecht sind ja relative, schwankende Begriffe; nach Zeit und Ort verschieden, wechseln sie beständig ihren Sinn und Inhalt; was hier verboten ist, das ist dort erlaubt. Der Indianer erschlägt seinen alten Vater und glaubt, dadurch eine verdienstliche Handlung zu begehen; bei uns würde er als Mörder hingerichtet werden. Dem Soldaten aber wird befohlen, wehrlose Gefangene niederzumachen, und er bekommt dafür die Tapferkeitsmedaille. Das Monopoleigentum ist dem Kapitalisten heilig; der Anarchist betrachtet es als frechen Raub. Nein, es ist keineswegs allen Menschen die gleiche metaphysische Idee des Rechtes angeboren.
Die historische Schule — mit Savigny an der Spitze — versucht das Problem von der Entstehung des Rechtes schon mit einer weit fruchtbareren, beinahe naturwissenschaftlichen Methode zu lösen: sie betrachtet das Recht eines Volkes als ein Produkt aus seiner Veranlagung und seiner Geschichte, — wie ja auch der Charakter eines Menschen ein Produkt aus seinen ererbten Anlagen und seinen Erlebnissen ist.
Mit einer geistvollen Wendung kam Ihering der Lösung des Problems näher. Er fragt nicht, warum und wieso, sondern wozu das Recht entstanden ist. Mit einem Scharfsinn ohnegleichen weist er in jedem einzelnen Rechtsinstitut, den Zweck als Triebkraft nach. Nun, als Zweck eines jeden Rechtsinstituts erweist sich ihm der Zwang, ohne den angeblich die soziale Mechanik nicht in Gang erhalten werden kann. Daß es ein Recht, also einen Inbegriff von Zwangsnormen, geben muß, steht für Ihering außer Frage. Er erkennt den Zweck im Recht und beugt sich willig diesem Zwecke. Hätte Ihering die Vernunftklarheit gehabt, den Zweck, den er durchschaut hat, zu verwerfen, so wäre sein scharfsinniges und geistvolles Werk statt einer Verherrlichung des Rechtes eine Anklage gegen das Recht, ein anarchistischer Protest geworden.
An der Wiege des Rechtes stehen Autorität und Zwang. Der beste Beweis für diese Behauptung ist die Kläglichkeit des Völkerrechtes, das ein Fetzen Papier bleibt, weil seine Erfüllung nicht erzwungen werden kann. Wenn ich einen Raubmord begehe, so bestraft mich die staatliche Justiz dafür. Wenn aber Deutschland völkerrechtswidrig mit Mord und Brand in Belgien einfällt, so kann durch keine höhere Instanz seine Bestrafung erzwungen werden und der Geschädigte wird durch das Völkerrecht auf die primitivste Form des Rechtsschutzes verwiesen: auf die Selbsthilfe, im Leben der Staaten Krieg genannt. Daran könnte auch das berühmte Schiedsgericht der bürgerlichen Pazifisten nichts ändern, da sich dessen nicht auf Waffengewalt gestützten Urteilen ein Staat, dessen Wesen ja eben die Gewalt ist, niemals willig beugen würde. Solange es Staaten gibt, muß es Kriege geben.
Das Recht ist also nichts anderes als ein heuchlerisch verklärter Zwang, ein Räuber mit einem Heiligenschein.
Allegorisch wird die Gerechtigkeit immer als eine Göttin mit Binde und Schwert dargestellt. Nun, die Binde ist ihr zu gönnen; wenigstens sieht sie nicht die Dummheiten und Schlechtigkeiten, die sie verübt. Aber das prahlerisch geschwungene Schwert sollte man ihr entwinden und zerbrechen. Auch sie täte gut daran, sich von der allgemeinen Abrüstung nicht auszuschließen ... Ein Recht, das zu seiner Verwirklichung des Schwertes, der Gewalt bedarf, ehrt den Menschen nicht, sondern es schändet ihn. Ja es bringt Schopenhauers pessimistische Rechtstheorie in Erinnerung, das Unrecht sei der primäre und das Recht nur der abgeleitete Begriff.
Bedarf das Recht zu seiner lebendigen Wirksamkeit der Gewalt, so ist es auch durch Gewalt entstanden. Die organisierte Gewalt ist der Staat. Wie das geschriebene Recht ohne den Staat ein Schatten wäre, so ist der Staat — wenigstens in seiner Hauptfunktion — nichts anderes als der Inbegriff sämtlicher Rechts- oder, besser gesagt, Zwangsnormen in der Gesellschaft. Darum ist die Frage, ob Recht oder Staat früher vorhanden gewesen sei, ebenso falsch gestellt wie die Frage, ob das Ei oder die Henne früher da sei. Recht und Staat bedingen einander, sind ein Begriff, von zwei Seiten betrachtet, sind Reflexe desselben Gewaltprinzips. Darum lehnen die Anarchisten logischerweise mit dem Staate zugleich auch sein geschriebenes Recht ab.
Es ist vielleicht nicht ganz überflüssig, an vereinzelten Gruppen von Rechtsinstituten — nicht systematisch, sondern nur beispielsweise den Gewaltursprung nachzuweisen. Der Staat, die Wurzel des Rechtes, ist bekanntlich nicht durch den idyllischen Akt des Rousseauschen Gesellschaftsvertrages, sondern unter Donner und Blitz kriegerischer Ereignisse entstanden. Er ist der unverfälschte Ausdruck von Machtverhältnissen, die durch seine Sanktion zu Rechtsverhältnissein werden. Dies zeigt sich brei allen Gruppen des Rechtes, z.B. beim Privatrecht und beim Strafrecht.
Das Privatrecht beruht auf dem Monopoleigentum. Alle privatrechtlichen Kategorien — etwa das so reich gegliederte Vertragsrecht, das eheliche Güterrecht, das Erbrecht — beruhen auf dem Monopoleigentum. Nun, daß das Monopoleigentum durch räuberische Gewalt entstanden ist und mit den schamlosesten und unsittlichsten Mitteln heuchlerisch verkleideter Gewalt — die Gewalt maskiert sich als "Recht" — gegen die soziale Revolution verteidigt wird, braucht Sozialisten wohl nicht erst bewiesen zu werden.
Daß auch im Strafrechte nicht etwa eine immanente Sittlichkeit, sondern die nackte Gewalt und Willkür triumphiert, mag durch die Widernatürlichkeit einzelner Strafbestimmungen gezeigt werden. Auch wer — im Gegensatze zu uns Anarchisten — das Recht grundsätzlich anerkennt, wird es auffallend finden müssen, daß Hochverrat mit dem Tode, Falschmünzerei mit schwerem Kerker und Kindesmißhandlung nur mit einem Verweise bestraft wird. Hier tritt das Gewaltprinzip des Rechtes klar zutage: gegen Hochverrat und Falschmünzerei schützt der Staat sich selbst, seine Integrität und Münzhoheit, — an dem mißhandelten Kinde aber ist ihm wenig gelegen, da ihm ja das Proletariat verschwenderisch Arbeiter und Soldaten liefert. Auch der Anhänger des Staatsprinzips kann also nicht leugnen, daß das Strafrecht den Interessen der Macht, der organisierten Gewalt, dient.
Wer als Anarchist das Strafrecht ablehnt, muß wohl kaum erst ausdrücklich seinen Abscheu gegen die Todesstrafe, diese scheußlichste, unabänderliche, mörderische Strafe aussprechen, die Menschen, fehlbare, schwache Menschen gegen ihre strauchelnden Brüder und Schwestern zu verhängen wagen. Aber nicht nur dem Galgen und dem Kerker, sondern jeder Art von Strafe gilt unser Protest. Denn wir wissen, daß die meisten sogenannten Verbrechen — etwa Diebstahl, Raub, Mord, Hochverrat — nur Begleiterscheinungen der kapitalistisch - autoritären Gesellschaftsordnung sind und mit ihr verschwinden. Wir wissen auch, daß sich die freie Menschheit vor ihren Schädlingen durch gewaltlose Mittel — etwa den sozialen Boykott — viel besser schützen wird. Aber noch wirksamer als der Boykott wird die Liebe, die Brüderlichkeit, das demütige Bewußtsein der eigenen Fehler sein: Herr, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigen.
Neulich besuchte ich ein Gefängnis, weil ich unsere Justiz nicht nur aus den Gesetzbüchern und Gerichtsverhandlungen, sondern auch aus dem Strafvollzuge kennen lernen wollte. Und als ich die verwahrlosten Gestalten der Häftlinge, ihre blassen Gesichter, ihre matten Augen sah, die sich vor uns Eintretenden scheu senkten, da war mir, als hatten wir vor ihnen die Augen niederschlagen müssen, und als tönte leise die beschwörende Stimme Jesu Christi: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!
Kurt Sonnenfeld
Aus: "Erkenntnis und Befreiung", 2. Jahrgang, Nr. 40 (1920). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.