F. Tarrida del Marmol - Anarchie ohne Adjektiv
Seinem Wortsinn nach bedeutet Anarchie ganz einfach die Freiheit des Menschen, der auf sich selber steht und sich jeder unterdrückenden Zentralgewalt entzogen hat. Anarchie ist kein gelehrtes System, das in der Studierstube ausgeheckt wurde, sondern das natürliche Ergebnis des menschlichen Trieblebens, das Freiheit und Glück verlangt.
Wer also ein Anarchist zu sein behauptet, darf sich nicht damit begnügen, in politischen und religiösen Dingen ohne Dogma zu sein. Er muss sich auch von der Herrschaft ökonomischer Dogmen befreien.
Die Organisation der freien Gewerkschaften der Zukunft wird in jedem Lande, in jeder Gegend von einer grossen Zahl sehr verschiedener Umstände abhängen. Die Wege, die man einschlagen wird, um Produktion, Verbrauch und Austausch zu regeln, werden das Ergebnis durchaus freier, aber nach der Lage der Sache verschiedener Konventionen sein, die natürlich immer wieder zurückgenommen und verändert werden können.
Es ist ganz gut wenn jeder das wirtschaftliche System, dem seine persönlichen Sympathien gelten, studiert und vor uns entrollt. Proudhon hat bewiesen, dass der Individualismus vollständig im Einklang ist mit der Anarchie, wir sind ihm dankbar dafür; Peter Kropotkin hat dasselbe für den Kommunismus bewiesen, wir sind ihm dankbar dafür; Ricardo Mella hat denselben Beweis für den Kollektivismus geführt, wir danken auch ihm.
Aber alle drei Arten sind nur dann gut, sind nur dann in keinem Punkt der anarchistischen Idee, der Freiheit entgegengesetzt, wenn sie uns nicht als etwas Absolutes auferlegt werden, wenn sie in jedem Augenblicke der freien verwandlungsfähigen Entschliessung der Individuen oder Gruppen
Aus diesem Grunde glaube ich, dass die Anarchisten aller Länder gut daran täten, dem Beispiel ihrer spanischen Genossen zu folgen, die sich entschlossen haben, die Adjektion wegzulassen. Vor 1880 nannten sich fast alle „kollektivistische" Anarchisten, ein kleinerer Teil führte den Namen „kommunistische Anarchisten". Die ersteren hielten den Kommunismus für ungerecht, weil sie von der Ansicht ausgingen, der Mensch werde von einem Willen bestimmt, und sie wollten demnach den Arbeiter und den freiwilligen Nichtstuer nicht in derselben Weise behandeln, weil sie fürchteten damit die Möglichkeit zu neuer Ausbeutung zu schaffen.
Die Kommunisten dagegen hielten den Menschen für das beinahe mechanische Resultat der Konstitution seiner Muskeln und seines Hirns und hatten daher gefürchtet ungerecht zu sein, wenn sie auch nur vorübergehende Vorteile zur Entlohnung besonderer Nützlichkeit des Starken oder Intelligenten geschaffen hätten.
Nach unendlich vielen Diskussionen sahen endlich beide Teile ein, dass keiner Recht hatte, indem nämlich beide vergessen hatten, dass man aus seiner Haut nicht heraus könne, dass man in der Gegenwart nicht sagen könne, was andere Menschen unter anderen Umständen tun werden, dass die Freiheit nicht das künstlich erzeugte Kind irgend eines sozialen Systems sei, sondern dass umgekehrt erst aus der Freiheit die neuen Einrichtungen erwachsen könnten.
So sahen denn endlich beide Teile ein, dass die eine wie die andere Gesellschaftsform sich in der Idee mit völliger Freiheit vertragen, dass es aber sinnlos sei, die Freiheitskämpfer um verschiedener Benennungen willen in getrennte Lager zu teilen, wo doch keiner dem anderen ein System aufzwingen wollte und noch weniger den freien Verbänden der Zukunft, die sich ohne Frage nach Massgabe der besonderen Umstände einrichten werden; so sah man aber ein, dass das Adjektiv nicht nur wertlos sei, sondern fast dem Hauptwort, der Anarchie, widersprach, da es sich anmasste einem Wort, das die Abschaffung aller Dogmen bedeutet, ein Beiwort anzufügen, das selbst wieder ein Dogma, eine ökonomische Doktrin aussprach.
Aus diesem Grund nennen sich die spanischen Genossen einfach Anarchisten (ohne Adjektiv), — soweit sie nicht durch den fast permanent gewordenen Belagerungszustand verhindert sind, diesen Namen zu führen. Dieses Verfahren empfehle ich auch den übrigen Ländern. Es entspricht erstens der Logik und zweitens erleichtert es die Verständigung unter den Freiheitskämpfern und verhütet Missverständnisse.
Anmerkung des Übersetzers:
Unser Freund Tarrida hat vergessen zu bemerken, dass er selbst dieses glückliche Schlagwort „Anarchie ohne Adjektiv" ausgegeben hat. Es scheint sich mir bei den Spaniern einfach darum zu handeln, dass sie des Freiheitsgeschwätzes müde geworden sind und sich entschlossen haben mit der Befreiung zu beginnen. Die gründlicheren Deutschen werden vermutlich vorziehen in den nächsten Jahrzehnten das neue Schlagwort zu diskutieren.
Aus: Der freie Arbeiter, 1. Jahrgang, Nr. 16, 1904. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.