Ravachol - Verteidigungsrede

Im Nachstehenden bringen wir die Rede Ravachols vor den Geschworenen, aus „La Révolte“ entnommen. Da der zum Tod verurtheilte Genosse, so oft er auf die anarchistischen Prinzipien eingehen wollte, vom Präsidenten unterbrochen wurde, so konnte er wohl nicht alles sagen, was er sagen wollte. Immerhin muss sich jeder konsequente Revolutionär mit ihm solidarisch erklären, da seine Handlungen alle der revolutionären Sache galten, wobei die Opfer von beiden Seiten nur wenig in Betracht kommen.

Wenn ich das Wort ergreife, so ist es nicht, um mich wegen der Akte, deren man mich anklagt, zu vertheidigen ; denn nur die Gesellschaft selbst, welche durch ihre Organisation die Menschen in beständigen Kampf miteinander stellt, ist dafür verantwortlich. Sehen wir denn heutzutage nicht in allen Klassen und Schichten Menschen, welche ihren Mitmenschen — ich will nicht gerade sagen den Tod, denn das klingt den Ohren hässlich — wohl aber das Unglück wünschen, sofern das für sie von Vortheil ist. Hat z. B. ein Arbeitgeber nicht den Wunsch, seinen Konkurrenten verschwinden zu sehen, und wünschen nicht alle Kaufleute im Allgemeinen dasselbe, um die Früchte dieser Art Beschäftigung allein zu geniessen? Wünscht der Arbeiter ohne Beschäftigung nicht, dass, damit er Arbeit bekomme, ein anderer auf’s Pflaster geworfen werde?

In einer Gesellschaft also, worin solche Fälle Vorkommen, hat man über Thaten, wie man sie mir vorwirft, nicht erstaunt zu sein, denn sie sind nur die nothwendigen Folgen des Kampfes um die Existenz, den die Menschen führen, dabei verpflichtet, jedes Mittel anzwuenden, um zu leben ; und, da „Jeder für sich“ ist, ist derjenige, welcher sich in Noth befindet, nicht gezwungen, so zu denken?

Und weil es nun einmal so ist, habe ich nicht zu zögern, wenn ich Hunger habe, alle mir zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden, um mir zu helfen, selbst auf die Gefahr hin, dadurch Menschenleben zu opfern.

Kümmern sich die Ausbeuter vielleicht darum, wenn sie ihre Arbeiter fortschicken, ob dieselben Hungers sterben? Beschäftigen sich die, welche im Ueberfluss leben, damit, dass es Menschen giebt, denen das Nöthigste fehlt?

Wohl giebt es Einzelne, welche Hilfe leisten würden, jedoch sind sie ohnmächtig, allen denen beizustehen, welche sich in bitterster Noth befinden und welche, in Folge von Entbehrungen aller Art, vorzeitig sterben, oder, getrieben durch Verfolgungen, freiwillig in den Tod gehen, um einer so miserablen Existenz ein Ende zu machen und nicht die Strenge des Hangers, Schimpf und zahllose Demüthigungen, ohne Hoffnung ein Ende davon zu sehen, ertragen zu müssen.

So schafft man die Familie Hayem und die Frau Souhein, welche ihren Kindern den Tod gab, um sie nicht länger leiden zu sehen, so zieht man alle die Frauen zur Rechenschaft, welche aus Furcht, kein Kind ernähren zu können, nicht zögern, ihr Leben und ihre Gesundheit zu untergraben, indem sie in ihrem Innern die Fracht ihrer Liebe zerstören. Und alles das passirt inmitten der Anhäufungen von Produkten aller Art!! —

Man könnte es vielleicht begreifen, wenn das in einem Lande vor sich ginge, in dem eine Hungersnoth grassirt, aber in Frankreich, wo Uebefluss herrscht, wo die Schlächtereien voller Fleisch, die Bäckereien angefüllt mit Brot, wo Kleider und Schuhe in Magazinen aufgespeichert sind und wo es unbenützte Wohnungen giebt!?

Wie kann man behaupten, dass es in unserer gegenwärtigen Gesellschaft gut sei, während sich das Gegentheil so klar zeigt?

Es giebt wohl Leute, welche alle diese Opfer bedauern, aber auch sagen, dass sie nichts dazu thun können, dass Jeder sich aus der Verlegenheit hilft, so gut er kann!

Was kann derjenige, dem das Nöthigste fehlt, während er arbeitet, machen, wenn er arbeitslos wir!? Es bleibt ihm nichts, als Hungers zu sterben. Dann wirft man einige Worte des Bedauerns auf seinen Kadaver. Das habe ich den Andern überlassen wollen. Ich habe vorgezogen Schmuggler, Falschmünzer, Dieb und Mörder zu sein.

Ich hätte betteln können, jedoch das ist erniedrigend und feige und selbst noch durch die Gesetze verboten, welche aus dem Elend Verbrechen machen.

Wenn alle Nothleidenden statt zu warten, nehmen würden, gleichviel wo und mit welchen Mitteln, so würden die Satten vielleicht schneller begreifen, dass es gefährlich ist, die gegenwärtigen sozialen Zustände, in denen beständige Unsicherheit besteht und das Leben jeden Augenblick bedroht ist, aufrecht erhalten zu wollen. Man würde ohne Zweifel diesen Zuständen schneller ein Ende machen, wenn man begriffe, dass die Anarchisten Recht haben, wenn sie sagen, dass, um moralische und physische Ruhe zu haben, es nöthig ist, die Ursachen zu zerstören, welche die Verbrecher und Verbrechen erzeugen, nicht aber, indem man denjenigen unterdrückt, der, statt in Folge der ausgestandenen Entbehrungen langsam Hungers zu sterben, es vorzieht, gewaltsam das zu nehmen, was ihm eine menschliche Lebensweise versichern kann, selbst auf die Gefahr hin, sein Leben dabei zu riskiren.

Das ist es, weshalb ich die Akte, die man mir zur Last legt, in Scene setzte, und die nur die logische Konsequenz eines barbarischen Zustandes sind, welcher die Zahl seiner Opfer durch die Schärfe seiner Gesetze nur erhöht, der Gesetze, welche blos die Wirkungen, nie aber die Ursache angreifen. Man sagt, man muss grausam sein, um seinem Mitmenschen den Tod geben zu können, aber sehen die, welche so sprechen, nicht, dass man es nur thut, um dasselbe von sich selbst abzuhalten?

Und Sie selbst, meine Herren Geschworenen, die Sie mich ohne Zweifel zum Tode verurtheilen werden, weil Sie glauben, dass es eine Nothwendigkeit und mein Verschwinden eine Genugthuung für Sie sei, für Sie, die es ihnen ein Greuel ist, Menschenblut fliessen zu sehen, es aber selbst vergiessen, wenn Sie glauben, dadurch die Sicherheit ihrer Existenz zu gewinnen, Sie selbst, sage ich, werden nicht zögern, mir dasselbe zu thun, nur mit dem Unterschiede, dass Sie mein Blut werden fliessen lassen, ohne irgend welche Gefahr für Sie, während ich im Gegentheil gehandelt habe, mein Leben dabei auf’s Spiel setzend.

Also, meine Herren, es gilt nicht, Verbrecher abzuurtheilen, sondern die Ursachen des Verbrechens zu zerstören. Indem die Gesetzgeber Gesetze machten, vergessen sie, dass sie nicht die Ursachen angriffen, sondern einfach die Folgen bestrafen, damit aber kein Verbrechen beseitigen. In der That werden die bestehenden Ursachen immer ihre entsprechenden Folgen nach sich ziehen.

Immer wird es Verbrecher geben ; denn, vernichten Sie auch heute einen, so werden morgen zehn andere erstehen. Was also thun? Das Elend, den Keim des Verbrechens beseitigen, indem man Jedem die Befriedigung seiner Bedürfnisse zusichert! Und wie leicht wäre das zu realisiren! Es genügte, die Gesellschaft auf einer neuen Grundlage aufzubauen, wo alle in Gemeinschaft lebten, wo Jeder nach Kräften and Neigungen produzirt und seinen Bedürfnissen gemäss konsumirt.

Dann würde man nicht mehr Leute, wie den Einsiedler von Notre-Dame- de-Grasse und andere Bettler Metall aufspeichern sehen, dessen Sklaven und Opfer sie werden. Man würde nicht mehr Frauen ihre Reize weggeben sehen, wie eine Handelswaare, für dasselbe Metall, welches nur zu oft verhindert, zu erkennen, ob die Zuneigung eine aufrichtige ist. Man würde nicht mehr Männer wie Pranzini, Prado, Berland, Anastay und andere sehen, welche, immer dieses Metalls wegens, zu Mördern werden. Das zeigt klar, dass die Ursache aller Verbrechen immer dieselbe ist, und man muss wirklich verrückt sein, um das nicht einzusehen.

Ja, ich wiederhole es, die Gesellschaft ist es, welche die Verbrecher schafft, und Sie, Geschworene, anstatt diese Verbrecher zu strafen, sollten Sie Ihre Intelligenz und Ihre Kräfte dazu anwenden, diese Gesellschaft umzuformen. Auf diese Weise würden Sie alle Verbrechen beseitigen und Ihr Werk würde viel grossartiger sein, wenn Sie die Ursachen der Verbrechen angriffen, anstatt sich darauf zu beschränken, die Folgen zu bestrafen.

Ich bin nur ein Arbeiter ohne Bildung, aber, weil ich das Leben der Verstossenen kennen gelernt habe, fühle ich mehr als ein reicher Bourgeois die Gemeinheit und Schändlichkeit Eurer Gesetze.

Woher nehmen Sie das Recht, einen Menschen zu tödten oder gefangen zu halten, der, mit der Nothwendigkeit zu leben, in die Welt gesetzt, sich gezwungen sieht, das zu nehmen, was ihm fehlt, um sich zu nähren?

Ich habe gearbeitet, um mit den Meinen leben zu können, and solange weder ich noch die Meinigen allzusehr litten, war ich das, was man einen ehrlichen Menschen nennt. Dann mangelte es an Arbeit und mit der Arbeitslosigkeit kam der Hunger. Es ist nun das grosse Naturgesetz, diese gebietende Stimme, welche keinen Widerspruch duldet, der Selbsterhaltungstrieb, welcher mich zu gewissen Verbrechen und Vergehen trieb, die Ihr mir vorwerft und als deren Urheber ich mich bekenne.

Verurtheilen Sie mich, meine Herren Geschworenen, aber, indem sie es thun, verurtheilen Sie auch, wenn Sie mich verstanden haben, alle die Unglücklichen, aus denen das Elend, gepaart mit natürlichem Stolze, Verbrecher gemacht hat, und die in Reichthum und Wohlstand zu rechtschaffenen Menschen geworden wären.

Eine intelligente Gesellschaft würde aus ihnen Menschen wie alle anderen machen.

Quelle: Entnommen aus „Die Autonomie“, Nr. 193, 1892, London.

Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/ravachol-verteidigungsrede


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