Moshe Starkman - Rocker über Juden und Wortkunst
Rudolf Rocker, der aus der deutschen Fremde in die Welt des jiddischen Alef Bet gekommen ist, brachte ihr die Schönheit seiner eigenen Welt und die Schönheit der Weltliteratur. Dies tat er als Verbreiter des Sozialismus, als Biograf und Memoirenschreiber, als Übersetzer und Redakteur, als Literaturkritiker und Essayist. Diese Leistungen waren durch drei Hauptziele motiviert, die ihn seit seiner frühsten Jugend inspirierten: dem ganzen menschlichen Geschlecht die Verbrüderung und die Erlösung nahe zu bringen; dem Verlangen und dem Traum, die in seinem Kopf, seinem Herzen und seiner Seele leuchteten und sangen, schreibend Ausdruck zu geben und den sehnsüchtigen, jüdischen, idealistischen, jugendlichen Immigranten zu dienen, unter denen er, zuerst in Frankreich dann in England, Liebe und Nähe fand, als er selbst noch ein einzelner, sehnsüchtiger und idealistische Kämpfer war.
Der Vater Rockers war von Beruf Notensetzer in der Stadt Mainz. Es ist möglich, dass Rocker, als er bereits in Paris in der Schneiderei und dem Heim der Famile Silberman lebte – Herr und Frau Silberman wurden in Jerusalem geboren – die hebräischen Buchstaben kennenlernte. Das breite ש (Schin) und die schlanken ף (Langer Fey), ך (Langer Kof) undץ (Langer Tsadik) erinnerten ihn vielleicht an die musikalischen Symbole auf den Notenblättern, die ihm von seinem früh verstorbenen Vater in Erinnerung blieben. Der junge Rocker war auch stark von den Töchtern der jüdischen Immigranten beeindruckt. Doch es war nicht das ordinäre Interesse „eines Nichtjuden, der von jüdischen Mädchen vereinnahmt wird.“ Rocker betont in seinen Memoiren, dass unter den immigrierten jüdischen Arbeitern die Position des „schönen Geschlechts“ auf ihn einen großen Eindruck gemacht hat: „In meiner Heimatstadt Mainz habe ich kein einziges Mal Frauen getroffen, die sich am politischen Leben beteiligten oder zur revolutionären Bewegung gehörten. [...] Aber im Kreis meiner neuen jüdischen Freunde in Paris haben die Frauen genauso häufig an den Versammlungen teilgenommen wie die Männer. Der Umgang zwischen den Geschlechter war viel freier und ungezwungener, so wie ich es in Deutschland nie gesehen habe. Mit den Frauen dort konnte man sich über alle möglichen Fragen unterhalten und vergaß dabei, dass man es mit Menschen vom „zarten“ Geschlecht zu tun hat und doch waren diese jüdischen Frauen und Mädchen – im Gegensatz zu gewissen weiblichen Kämpferinnen für die Emanzipation aus jener Zeit, die lediglich versuchten die Männer nachzumachen – durch und durch weiblich und sogar mütterlich veranlagt. Ihre Freiheit war sicherlich eine innerliche und hatte ihren Ursprung im Bewusstsein von der menschlichen Würde und der Gleichberechtigung von allem mit menschlichen Antlitz. Besonders diese Seite ihres Wesen verlieh ihnen eine besondere Anziehungskraft. Andere von ihnen, speziell jene mit einer gewissen revolutionären Vergangenheit, hatten sogar puritanische Eigenschaften an sich, was ihre Weiblichkeit jedoch nicht beeinflusste. “
Als Rocker bereits ein Einwohner Londons war, fing eine idealistische jüdische Tochter sein Herz. Sie hieß Milly Witkop, geboren in Slotopol in der Ukraine. Sie wurde seine Lebenspartnerin und inspirierte ihn zu gesellschaftlichen und schriftstellerischen Tätigkeiten unter Juden in ihrer Muttersprache.
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Rudolf Rocker war einer der begabtesten Essayisten in der jiddischen Literatur und historisch gehört er eindeutig zu den Klassikern der modernen jiddischen Literatur. Die von ihm editierte Zeitschrift Zsherminal gehört zu den zentralen Journalen in der Geschichte großer jiddischer, literarischen Errungenschaften. Es gibt etliche Gründe, warum man bis heute die Tatsache übersehen hat, dass er zu den Gründervätern des jiddischen Essay zählt: London war hauptsächlich ein Abstellgleis für jüdische Jugendliche auf ihrem Weg nach Amerika und wurde nie zu einem einflussreichen literarischen Zentrum; Rockers Schriften und Publikationen wurden nicht ins zaristische Russland gelassen, wo die jiddische Massenleserschaft damals lebte; zur Zeit seiner schreiberischen Tätigkeit brach der Erste Weltkrieg aus und die neue jiddische Leserschaft entwickelte sich insbesondere zwischen den beiden Weltkriegen; die Anführer des literarischen Kanons – Kritiker und Literaturhistoriker – machten Fehler in ihrer Einschätzung von Rockers Verdienst.
Als Essayist darf Rocker als Zeitgenosse des jungen Bal Makhshoves und H. D. Nomberg betrachtet werden und er war ein Vorgänger von Abraham Koralnik und Hayim Grinberg. Von seinen Ideen her, entsprechend seiner freiheitlich-sozialistischen Ideologie, war Rocker ein scharfer Kritiker des existierenden gesellschaftlichen Systems. Als Essayist war er jedoch ein lyrischer Prosaschreiber, der seine Spaziergänge in den Schöpfungen großer Autoren und die Eindrücke, welche ihre Werke auf ihn hatten, beschreibt. Er hat die besten Autoren vieler Länder und Generationen hervorragend charakterisiert und ihnen ethische und ästhetische Werte zugeordnet. Rockers Kenntnisse der Weltliteratur waren phänomenal. Durch die Form des Essay hat er sein eigenes Talent als schöpferischer Geist und als Wortkünstler aufgezeigt. Der Leser erfährt durch Rocker, ein Mensch mit hohen Ideen und tiefen Gefühlen, die Schwingungen der Emotionen des Autors. Jede Zeile Rockers trägt den Stempel seiner kämpferischen Persönlichkeit auf sich. Mit seiner geflügelten Feder hat er den geistigen Horizont seiner Leser erweitert und ihnen ein Fenster zur Weltkultur und zu den Schätzen triumphaler Kulturwerte geöffnet.
Wie viel Lyrisches in Rockers Essays enthalten ist, erkennt man an dem einführenden Paragraphen zu seiner Abhandlung über Cervantes Don kikhot.
„Don Quichotte, edler Ritter von La Mancha, Freund und Helfer der Leidenden, Geliebter der unsterblichen Dulcinea aus Tobosa, Besitzer des treuen Rosinante, verdeck dein Antlitz mit beiden Händen, damit man auf dir die Scham nicht erkennt, für das, was man dir angetan hat, denn nie hat man dich wie jetzt beleidigt, dreihundert Jahre nach dem unvergesslichen Tag, als du das erste mal dein Haus und deine Freunde verließest um über die Welt zu wandern, die Gerechtigkeit zu beschützen und den ewigen Ruhm des Ritterstandes zu erneuern.
Du hast einiges im Leben durchgestanden, großer Ritter von der traurigen Gestalt! Du hast einen verzweifelten Kampf mit Riesen geführt, doch dann stellte sich heraus, dass die Riesen Windmühlen waren, wofür du mit einem gespaltenem Kopf und etlichen zerbrochenen Gliedern bezahlen musstest. Gemeine Bauern schlugen dir deine ritterlichen Zähne aus. Hirten gewöhnlicher Schafe traten dich mit ihren Füßen. Undankbare Menschen, die deinen ritterlichen Großmut nicht verstanden, sperrten dich in einen hölzernen Käfig und redeten dir ein, dass du ein Zauberer bist... Doch du hast alles mit königlicher Geduld ertragen, denn dein Schild war stets blank und kein Fleck beschmutzte deine ritterliche Ehre: damals lachte eine ganze Welt über deine unsterblichen Taten. Doch was für einen Wert hatte das Gelächter der Welt? Du alleine hast in deiner eigenen Welt gelebt – eine Welt, die sich von der Welt der anderen gänzlich unterschied. Jede Erscheinung hatte für dich eine besondere Farbe und Gestalt und wer kann sagen, dass deine Vorstellungen schlechter waren als die Vorstellungen anderer. Du sahst Riesen, während Sancho Pansa Windmühlen sah – und weil es keine absolute Wahrheit gibt, da das, was wir Wahrheit nennen, stets von unserer eigenen individuellen Erkenntnis, von unserer innerlichen Überzeugung bestimmt wird, ist deine nicht schlechter gewesen als die des guten Sancho... Du hast auf die Welt mit den gleichen Augen geblickt wie alle anderen Menschen und hast doch nie das gleiche gesehen. Doch gerade indem du die Erscheinungen der Welt auf deine Weise ausgelegt hast, ist dein Namen unsterblich geworden und gerade dafür ist dein Bild heute genauso frisch und lebendig in unsere Herzen wie vor dreihundert Jahren. Da du anders gesehen und anders gefühlt hast als deine Zeitgenossen, kann dich nichts beleidigen. Sie haben dich ausgelacht, doch du hast es nicht gehört. In deiner Welt hat ihr Gelächter kein Echo gefunden.“
So wie der soziale Kritiker den Ästheten nicht störte, so wenig hat der Ästhet den sozialen Kritiker in Rocker gestört – sie ergänzten sich vielmehr. Rockers Essayistik bestätigt die Regel, dass in der wahren Wortkunst Moral, Ethik und Ästhetik miteinander verschmolzen sind, genauso wie Inhalt und Form. Das literarische Werk abschätzend, erinnerte er auch an andere Autoren und Werke um sie zu vergleichen und die Unterschiede zwischen ihnen herauszuarbeiten. In seinem Essay über Maeterlink, um nur ein Beispiel zu nennen, erscheint Rocker als Meister der kritischen Analyse indem er das Fehlerfreie, das Perfekte im literarischen Kunstwerk und die großen Wahrheiten in jedem Motiv des Inhalts hervorhebt. Mehr als nur eine Andeutung über Rockers „Credo“ als Kritiker findet sich in verschiedenen Essays , darunter auch in der Abhandlung über Pshebishevski. Seine Gegnerschaft gegenüber Dogmatismus hat Rocker in einem Essay über Louise Michel deutlich gemacht. Rockers Essays sind von bleibendem Wert, da sie uns in die Gedankenwelt des freiheitlichen Sozialismus und in Problematiken führen, welche auch die heutigen Generationen beunruhigen.
Nur ein Teil von Rockers jiddischer Essayistik wurde bislang in Sammlungen veröffentlicht, nämlich in dem 216 seitigen Buch Eseyen, welche die Yidishe ratsionalistishe gezelshaft in Buenos Aires im Jahr 1961 veröffentlicht hat. Der hundertste Geburtstag von Rudolf Rocker, der in diesen Tagen begangen wird, bietet die einmalige Gelegenheit, eine erweiterte Sammlung seiner Essays herauszugeben – eine Sammlung, die auch seine Abhandlungen über große Schöpfungen der jiddischen Literatur beinhaltet.
Quelle: Moshe Starkman. Rocker über Juden und Wortkunst. In: Fraye arbeter shtime (Mai 1973), New York: Free Voice of Labour, 1973. Aus dem Jiddischen von RockerRevisited
Originaltext: http://rockerrevisited.blogspot.de/2014/12/rocker-uber-juden-und-wortkunst.html