Rudolf Rocker - Um die Einheitsfront (1931)
Wenn die Einheit einer Bewegung nichts anderes bedeutet als ein mechanisches Zusammenfassen der Kräfte nach militärischem Muster, dann wären die famosen 21 Punkte Lenins vielleicht das Mittel, diesen Traum zu verwirklichen, da sie mit ihrer bis auf die Spitze getriebenen zentralistischen Fassung alles überbieten, was bisher auf diesem Gebiete geleistet wurde.
Diese mechanistische Auffassung der Dinge, die das bezeichnende Merkmal jeder militaristischen Denkart ist, zeugt von einer ungeheuren Verkennung der wirklichen Tatsachen, die letzten Endes noch jedem Napoleon zum Verhängnis geworden ist. Angewendet auf die sozialistische Bewegung, müsste sie zu vollständigen Erdrosselung aller freiheitlichen Bestrebungen und wahrhaft sozialistischen Grundsätze führen.
Man spricht von der Einheit der Arbeiterbewegung, aber man kann sich diese nur in den engen Grenzen einer Partei und eines festen, in sich geschlossenen Programms vorstellen. Doch der Sozialismus, der die Seele der Arbeiterbewegung sein muss, da er ihr allein die belebende Kraft eines neuen gesellschaftlichen Werdens einhauchen kann, ist kein in sich geschlossenes Gebilde mit starren, unbeweglichen Grenzen, sondern ein in steter Entwicklung begriffenes Erfassen und Erkennen der mannigfachen Erscheinungen des sozialen Lebens, das zum toten Dogma erstarren müsste, wenn er dieses, sein innerstes Wesen verleugnete und sich damit selber aufgäbe. Die erste Internationale konnte nur deshalb einen so machtvollen Zauber auf die geistige Entwicklung der europäischen Arbeiterbewegung ausüben, weil ihre Begründer die tiefe Bedeutung dieses elementaren Prinzips erkannt hatten und dieses als wesentliche Voraussetzung der inneren Organisation des großen Arbeiterbundes festsetzten. Solange man dieser Voraussetzung treu blieb, entwickelte sich die Internationale mit ungeahnter Kraft und befruchtete die gesamte Arbeiterbewegung mit ihren schöpferischen Ideen. Sie hatte ein gemeinschaftliches Grundprinzip, bindend für jede Richtung in ihren Reigen: die Abschaffung der Lohnsklaverei und die Reorganisation der Gesellschaft auf der Basis der gemeinschaftlichen Arbeit, die keiner Ausbeutung irgendwelcher Art unterworfen ist, und die Verteilung der Arbeitsprodukte nach den Satzungen der sozialen Gerechtigkeit, wie sie nur aus einer Gleichheit der wirtschaftlichen Bedingungen für alle hervorgehen kann.
Sie verkündete den Arbeitern, dass dieses große Ziel der sozialen Befreiung nur das Werk der Arbeiter selber sein könne. Aber sie erkannte auch, dass jede Richtung, die dem Bunde angehörte, das unveräußerliche Recht haben müsse, dieses gemeinsame Ziel mit den Mitteln anzustreben, die ihr am besten und geeignetsten erschienen, und die Art ihrer Propaganda nach ihrem eigenen Ermessen zu gestalten. In dem Augenblick, als der Londoner Generalrat der Internationale, der vollkommen unter dem Einfluss von Marx und seinen Freunden stand, jedoch keineswegs den ursprünglichen Geist des Bundes und die eigentlichen Bestrebungen seiner Föderationen und Sektionen vertrat, in dem Augeblick, als der Generalrat den Versuch machte, diese grundlegenden Rechte zu zerstören und die Autonomie der Sektionen und Landesföderationen zu beseitigen, in dem er sie zur parlamentarisch-politischen Tätigkeit verpflichten wollte, in diesem Augenblick war die Einheitsfront der Internationale gebrochen.
Es kam 1872 zu jener verhängnisvollen Spaltung, welche der gesamten Arbeiterbewegung zum Verderben gereichen musste, und deren betrüblichen Folgen sich heute mehr denn je in den Reihen der sozialistischen Arbeiterschaft bemerkbar machen. Die alte Internationale war eine große Vereinigung gewerkschaftlicher Organisationen und sozialistischer Propagandagruppen. Ihre Anhänger erblickten das Schwergewicht ihrer Wirksamkeit nicht in der Zugehörigkeit ihrer Mitglieder zu irgendwelchen sozialistischen Parteien, die damals überhaupt kaum existierten, sondern in ihrer Eigenschaft als Produzenten, als Bergleute, Landarbeiter, Matrosen, Techniker, kurz aller derer, die gesellschaftliche Werte schaffen, einerlei, ob diese Werte geistiger oder materieller Natur sind. Und gerade aus diesem Grunde war sie eine wirkliche Internationale der kämpfenden Arbeit und kein politisches Gebilde bestimmter Parteien.
Nur aus einer solchen Organisation kann eine neue Welt der Freiheit und des Sozialismus erstehen. Nur in ihr können sich die Keime des Neuen zur schöpferischen Arbeit zusammenfinden, denn in ihr lebt das Gesamtinteresse der schaffenden Arbeit und nicht das Sonderinteresse bestimmter Parteien, die in sich selbst ein Hindernis für jede wirkliche Einheit sind. Denn was die verschiedenen Parteien heute unter Einheitsfront verstehen, ist doch nichts anderes als die Unterwerfung aller anderen unter eine bestimmte Richtung.
Man will Kirchengebilde in einer politischen Form, und nichts anderes. Aus diesem Grunde ist alles Gerede von einer sogenannten Einheitsfront im Grunde genommen nicht mehr als ein demagogischer Trick, der die wahren Absichten der Politiker verbergen soll. Es gibt nur eine Einheit geistiger Natur, die sich auf den gegenseitigen Respekt vor einer anderen Meinung und die tatkräftige Solidarität der kämpfenden Massen stützt, und zwar in jedem Kampfe, der eine Erweiterung ihrer Rechte auf den verschiedensten Gebieten erstrebt und aus diesem Grunde eine Etappe ist im großen Befreiungskampfe der Elenden und Unterdrückten. Eine rein mechanische Auffassung der Einheitsfront wird nicht nur ohne jedes Ergebnis bleiben, sie steht auch im Widerspruch mit allen grundlegenden Ideen des Sozialismus selbst und ist, schon aus diesem Grunde zu verwerfen. Bisher haben wir nur das eine feststellen können, dass ein solch mechanisches Zusammenfassen der Kräfte sogar nicht imstande war, die Parteien in sich selbst zusammenzuhalten. Die Spaltungsmanie der letzten zehn Jahre ist eine vortreffliche Illustration dafür. Und sonderbarerweise haben gerade jene Richtungen die meisten Spaltungen über sich ergehen lassen müssen, die den Einzelnen die wenigste Freiheit gewähren wollten und nicht verstanden, dass sie damit gerade das Gegenteil bewirkten, was sie erreichen wollten.
Rudolf Rocker
Abgetippt und neue Rechtschreibung von ASF
Aus: „Der Syndikalist“ Nr. 41/1931
Originaltext: http://syndikalismus.wordpress.com/2010/08/27/wiederentdeckt-rudolf-rocker-%E2%80%9Eum-die-einheitsfront%E2%80%9C-1931/