Pierre Ramus - Eine unterdrückte Rede im zweiten Reichs-Arbeiterrat
Werte Freunde, Arbeiterräte der sozialdemokratischen und "kommunistischen" Partei!
Mit Bedauern muß ich Sie so ansprechen, denn leider sind Sie, die Sie auf dem Zweiten Kongreß des Reichsarbeiterrates das Wort geführt haben, nicht Arbeiterräte des Proletariats, sondern blos Delegierte Ihrer besonderen Parteien. Und ich glaube, daß dieser Umstand es hauptsächlich ist, der Ihre so totale Unfruchtbarkeit bewirkt, die völlige Wert-und Ziellosigkeit Ihrer stattgehabten Tagung, welch ersterer sich kein Unvoreingenommener entziehen kann.
Wenn ich bedenke, was der Arbeiterrat, diese große und schöne Idee der Selbstaktion des Proletariats, seiner sozialen und wirtschaftlichen Selbständigkeit, bedeutet, und wenn ich mir sagen muß nach dieser letzten Tagung: Was haben Sie aus ihm gemacht?! — dann erfaßt mich Ingrimm und Wehmut zugleich, denn nur die Tatsache, daß Sie vollständig unfähig sind, sich geistig aus den Banden des bisherigen marxistischen Irrwahnes der Staatepolitik zu befreien, nicht wissen, daß das Wesen und die Bedeutung des Arbeiterrates als proletarische Klassenkämpferorganisation nur dann zur Geltung kommen kann, wenn das Proletariat durch ihn, außerhalb und unabhängig von jedweder politisch-parlamentarischen Gaukelei, seine eigenen, Sozialrevolutionären, umgestaltenden Maßnahmen trifft — dieser Umstand Ihrer eigenen Unwissenheit und Unfähigkeit in Theorie und Taktik des Sozialismus bringt es mit sich, daß der Reichsarbeiterrat so ohne jeden Eindruck im Proletariat vorübergegangen ist.
Sie sind zusammengetreten, um praktische Arbeit zu leisten. Nichts wäre für den Augenblick wichtiger. Was aber haben wir statt dieser praktischen Arbeit gesehen?
Sie sind heute so weit gekommen, ihre Existenzberechtigung in Frage zu stellen! Nicht, daß die bürgerlichen Gegner sie in Frage stellen, ist betrübend, nein, sie selbst beginnen zu zweifeln an Ihrem Zweck, Ihrer Zweckmäßigkeit. Und es ist fürwahr kein Wunder, wenn es so weit gekommen. Denn eine Arbeiterorganisation, die weder aufklärende Arbeit noch sozialistische Aktion liefert, verliert mit der Zeit den Sinn ihrer Existenzberechtigung. Diese beruht auf einem klaren, durchdachten Plan; Sie aber haben bis heute noch keinen Arbeitsplan, nicht einmal noch einen solchen ins Auge gefaßt. Ein Organisationsstatut, das haben Sie freilich längst, und Sie pfuschen fortwährend daran herum — aber eine Arbeitsaufgabe, die besitzen Sie noch nicht.
Eben darum ist Ihr ganzes Wesen das einer zerfahrenen Planlosigkeit, haben Sie Sachen und Dinge verübt, die dem Wesen eines jeden revolutionären Arbeiterratsgedankens zuwiderlaufen, ist auch Ihre diesmalige Tagung nicht eine wirklich sachliche, prinzipielle Auseinandersetzung von realen Gegensätzen gewesen. Sie hat nichts zu Tage gefördert außer leerem, gehaltlosem Zank und Streit zwischen Sozialdemokratie und "Kommunisten", der schiedlich geendigt hat in dem obligaten Ausgleich, in der Erneuerung Ihrer Koalition, wodurch der Arbeiterrat eine Art Koalitionsparlament für Ihre beiden Parteien, jede Bedeutung und damit jeden Lebenszweck als Aktions- und Organisationsgruppierung der sozialen Revolution verliert.
Und während Sie hier über die nebensächlichsten Dinge der Welt, über längst überlebte Phasen und Tatsachen zanken und streiten, wahrend Sie im Kreise herumlaufen, geht das Leben des Kapitalismus und der Staatswiedererrichtung in alter Form und Macht ungehemmt vor sich.
Vielleicht ist es kein Zufall, daß just während der Tagung des Reichsarbeiterrates jene Note der Entente bekanntgegeben wurde, die den kapitalistischen Ausländskredit für den kapitalistischen Wiederaufbau Österreichs ankündigt. Wie lange haben Ihre Wortführer Ihnen vorgegaukelt, daß Österreich nicht lebensfähig sei — und siehe da, das Auslandskapital scheint anderer Meinung zu sein! Selbst noch auf dieser Tagung des Kongresses, ist Ihnen gesagt worden, daß wir in allen unseren Lebensbedingungen abhängig seien vom Auslandskapital und dem Wohlwollen der staatlich-kapitalistischen Entente. Was aber soll dann Ihr Zweck, Ihr Sinn, Ihre Bedeutung sein, was soll1 dann noch der Sozialismus besagen, wenn Sie ihn selbst bankerott erklären und an den Auslandskapitalismus appellieren, er möge Sie retten vor dem Verhungern, denn Sie allein vermögen es nicht!
Ein Politiker, der als Arbeiterrat so spricht, ist weder Sozialist noch Arbeiterrat; er ist ein Gaukler des Kapitalismus — denn was er sagt ist nicht wahr und verfolgt nur den Zweck, die Masse des Proletariats zu betören, zu ängstigen und zur Unterwerfung unter das kapitalistische Joch zu nötigen, sie zu verblenden durch eine Laterna magica der Unwirklichkeit. Sprache er die Wahrheit, könnten wir wirklich nicht uns selbst erhalten — die Entente würde "uns" keine Kredite geben, keinen eigenen Staat dulden, überhaupt keine Selbständigkeit Zulassen!
Aber wenn nun Sie, die Arbeiterräte der "kommunistischen" Partei, sagen, Sie seien nicht zufrieden mit dem Ententekredit, und seien etwa gegen seine Annahme — da muß ich Sie doch fragen; Welchen anderen Wirtschaftsplan haben Sie bisher entwickelt und an die Stelle des kapitalistischen in allen diesen eineinhalb Jahren gesetzt, aufgeführt? Keinen! Sie haben dem Kapitalismus ungehindert das Feld überlassen und höchstens die Lohnstreiks der Arbeiter gutgeheißen, obwohl Sie gewußt haben, daß alle Lohnsteigerungen derselben von den Unternehmern unverblümt wieder auf die Arbeiter als Konsumenten abgewälzt wurden. Sonst aber gab es keine Sozialrevolutionäre Parole für Sie, als die der "Diktatur", der "Eroberung der politischen Macht."
Nie ist Ihnen in all den Monaten, als die Zeit so günstig war, eingefallen, sich mit uns zu vereinigen, um die soziale Revolution zu beginnen. Sie haben unseren Ruf nicht hören wollen, als wir sagten, die Arbeiter müßten Besitz ergreifen vom Grund und Boden; sie müßten sozialistische, kommunistische Gemeinwesen gründen; sie müßten den Anfang machen mit sozialistischer Produktion und Verteilung. Wie oft haben wir geschrieben, gerufen: Das Land ist brachliegend, es wartet Eurer, Arbeiter! Die Arbeitsmittel sind in den Fabriken, die Ihr doch Tag für Tag "besetzt" hält; Arbeiter, Ihr habt die Macht, braucht sie nicht erst zu erobern, denn Ihr habt die Werkzeuge, Maschinen, Rohmaterialien in Euren Händen, verwertet sie nur, beginnt endlich damit, sie für Euch und für den kommunistischen Aufbau zu verwenden, indem Ihr weder für das staatliche noch kapitalistische Schmarotzertum arbeitet, sondern nurfür Euch selber!
Aber Ihr wolltet nicht hören! Sogar heute seid Ihr augenscheinlich noch immer taub und wisset offenbar nicht, womit die Tagung eines Reichsarbeiterrates zu füllen, auszufüllen.
Da redet Ihr von "Bewaffnung des Proletariats" und bedenkt nicht, wie lächerlich Ihr Euch mit dieser Phrase macht. Schaut nur einmal nach Polen, wozu sich die "Bewaffnung des Proletariats" so hübsch verwenden läßt. Die dort rühmen sich, Eure Parole durchgeführt zu haben!
Wozu wollt, braucht Ihr bei uns eine "Bewaffnung des Proletariats"? Für Inlandszwecke ist sie nutzlos, denn die Gegner sind, wenn es auf Waffen allein ankommt, machtiger als Ihr, und wenn wir mit ihnen Krieg führen wollen, so werden wir nur verhungern, denn Wehe, wenn der Bauer sich vollständig von uns abwendet, und nur mehr für sich anbaut. Und was soll uns überhaupt ein Krieg, sowohl nach innen wie nach außen? Wozu ihn führen, für ihn rüsten? In den Städten sind die Arbeiter, wenn sie nur wirtschaftlich vereint sind, so übermäßig die Mehrheit, daß es ja gar keine Macht gibt, die sich ihnen entgegenstellen würde oder könnte. Was dem Arbeiter abgeht, das geht auch Euch, Reichsarbeiterräte, ab, und daran geht alles zu Grunde: Es fehlt Euch jeder Plan, jede konstruktive sozialistische Idee — und So wissen die Arbeiter nicht, was mit ihrer realen wirtschaftlichen Macht zu beginnen!
Über eineinhalb Jahre habt Ihr Phrasen gedroschen und Redensarten unsäglich öden Inhaltes gewechselt. Und heute muß die Entente den wirtschaftlichen Wiederaufbau in die Hand nehmen, denn keine Hand hat sich gerührt, um einen sozialistischen zu beginnen. So ersteht denn aufs neue ein starker, mächtigerer Kapitalismus. Er ist unvermeidlich, weil sich ihm kein echter, kein wahrer Kommunismus entgegenstellt. Da Ihr mit diesem nicht beginnen wollt, ehe Ihr die "Diktatur" habt, so habt Ihr weder Kommunismus noch "Diktatur", und es kommt nur der nackte, brutale Kapitalismus.
Er wird furchtbar hausen in den Städten, und die Arbeiter werden einen Lebens- und Todeskampf mit ihm zu führen haben. Schon deshalb, weil Österreich als lebensfähiges, glückliches Volk nur möglich ist in herrschaftslos-kommunistischer Gemeinsamkeit, in keiner sonst. Denn unmöglich kann dieses heutige Oesterreich mit seiner im Verhältnis zu den Großstädten kleinen Bauernschaft die Industriearbeiterschaft und überhaupt die kapitalistisch-industriellen Städte erhalten. Erhalten kann Österreich — übrigens auch Deutschland aus anderen, aber genau so zwingenden Gründen — sich nur, wenn die kapitalistische Industrie und die kapitalistischen Städte zum größten Teil von der Arbeiterklasse verlassen und abgebaut werden, wenn auf dem flachen Lande neue Gemeinschaften, Gartenstädte freier kommunistischer Kultur errichtet werden!
Der erste Schritt der sozialen Expropriation und Revolution muß deshalb der Beginn eines neuen Lebens für die Arbeiterklasse sein; sie muß der kapitalistischen Überindustrie entzogen und der Landwirtschaft in freiem Gemeinbesitz zugeführt werden, das Volk muß selbsterhaltend gemacht werden, und nur auf diesem Wege, durch Neuschöpfung seines Lebens, können wir die Befreiung des Proletariats und das Heil der Gesellschaft erringen.
Alle diese Fragen, von denen ich hier nur einen kleinen Ausschnitt gebe, fanden keinen Platz, keinen Redner auf Eurem Reichsarbeiterrat. Sogar das, was ihr schön tun wolltet, habt Ihr nur halb getan und unvollkommen. Als es sich darum handelte, dem russischen und polnischen Volk darin zu Weifen, sich nicht mehr gegenseitig massakrieren zu können, indem jede Lieferung von Kriegsmaterialien eingestellt werden soll, da habt Ihr Euch damit beschieden, letzteres nur zu "fordern". Von wem? Das wird von Euch nicht angegeben. Und während ein Delegierter es beklagt hat, daß der Staatskanzler und Staatssekretär des Innern der Tagung des Reichsarbeiterrates nicht beigewohnt haben — wir haben es begrüßt, denn wozu braucht dieser solche Leute, die viel zu reichlich auf ihm vertreten waren! —, habt Ihr gänzlich vergessen, die Vertreter der sozialdemokratischen Eisenbahner- und Transportarbeiter-Gewerkschaften vorzuladen und diesen es als Pflicht aufzuerlegen, laut Eurer "Forderung" zu handeln.
So hat denn diese Tagung des Reichsarbeiterrates das Proletariat abermals nicht weiter gebracht. Fürwahr, wenn Ihr keine wichtigeren Aufgaben habt, als die, die Ihr auf ihr erörtert habt — dann seid Ihr überflüssig. Und wir fürchten, daß der Moment nicht mehr fern ist, die Sozialdemokratie schon allmählich sich anschickt, darauf vorbereitet, daß die wiedererstarkte und mächtig gewordene Reaktion, deren Wegbereiter die Sozialdemokratie und mit ihr Ihr "Kommunisten" in Eurer beider Irreführung des Proletariats seid — Euch zum Bewußtsein dieser Überflüssigkeit sehr fühlbar und bald gelangen lassen wird.
Aus: "Erkenntnis und Befreiung", 2. Jahrgang, Nr. 29 (1920). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.