Pierre Ramus - Gebärmaschine oder freie Selbstbestimmung der Frau?
Zu den Unzulänglichkeiten an Logik und Kulturbewußtsein, die jeder Staatskommunismus — in Wirklichkeit immer nur Staatsmonopolismus oder verstaatlichter Kapitalismus — in sich birgt, gehört die Auffassung der diktatorischen Marxisten, die Lösung der Magenfrage durch Aufstellung einer Futterkrippe für Alle berechtige zu einer vollständigen Verneinung alles individuellen Kulturgefühles, persönlichen Selbstbewußtsein und Selbstbestimmungsrechtes. Der Marxismus will eine Staatsversklavung aller Menschen, die, gleich Sklaven, mit von oben ihnen vorgeschriebenen Rationen abgefüttert und dafür jedes Persönlichkeitsbewußtseins entsagen sollen. So weit geht diese Allversklavung durch Bürokraten der Staatsallmacht, daß sie, ähnlich der darin einander wesensgleichen jüdischen und römisch-katholischen Kirche, in die privatesten Intimitäten und der Menschen eindringt.
Am deutlichsten erhellt dies, wenn man die Stellung des Marxismus zur Frauenfrage, insbesondere aber zu dem fundamentalen Problem, in wie weit die Frau ein unbedingtes, durch nichts geschmälertes Recht auf ihren eigenen Körper, ihre Leibesfrucht, die Empfängnis wie Austragung derselben haben soll?
Jeder freie Geist, besonders aber wir Verkünder eines herrschaftslosen Sozialismus, des kommunistischen Anarchismus, sind der Meinung, daß die Freiheit der weiblichen Individualität auf diesem ureigensten Gebiet ihrer Wesensart ihr heiligstes, unantastbares Eigenrecht ist, in das weder der Mann, schon gar nicht aber die organisierte Roheit und Willkür: Staat genannt, das Recht der Verfügung oder Bestimmung habe. Individuelle Selbstbestimmung muß für Mann wie Frau der oberste Grundsatz eines freien Gemeinschaftslebens bilden.
Eben von diesem Standpunkt aus betrachten wir die Propaganda empfängnisverhütender Mittel, den, Neu-Malthusianismus, als höchst wichtig. Es fällt natürlich keinem Propagandisten einer freien Mutterschaft ein, zu meinen, daß die Beschränkung der Kinderzahl im Stande sei, die Notwendigkeit der sozialen Revolution und gesellschaftlichen Umgestaltung zu beseitigen oder zu ersetzen.
Aber eben so wie die wirtschaftliche Hebung der Lage des Proletariers und der Proletarierin, überhaupt jedes Menschen, schon in der Gegenwart allein im Stande ist, sie mit jener gesunden Begehrlichkeit noch immer höherem Aufstieg und Menschenglück zu erfüllen und sie dadurch zur Einsicht gelangen läßt, daß nur durch Beginn und Gründung neuer sozialer Verhältnisse — und das ist soziale Revolution, nicht aber die Machterhebung, irgend einer Diktatur ist es — sie zu wirklich freien Menschen werden können, so ist es selbstverständlich, daß wir dasjenige Mittel dem Proletariat nicht verschweigen dürfen, das heute zuallererst geeignet ist, sie vor einer sonst noch gewaltiger als ohnehin bedrohenden Verelendung zu beschützen: das Mittel, die Kinderzahl, die aus der geschlechtlichen Vereinigung hervorgehen kann, selbstbestimmend zu regulieren. Im übrigen handelt es sich hier, dies sei nachdrücklich betont, um elementare Grundsätze der individuellen Selbstbestimmung. Wir sagen keiner Proletarierin, sie habe ihre Kinderzahl aus diesen oder jenen soziologischen Gründen einzuschränken; wir wollen nur, daß ihr die Kenntnis geboten und gelehrt werde, sie aus individuellen Gründen einschränken zu können, wenn sie solches zu tun wünscht.
Ganz anderer Meinung sind da die marxistischen "Kommunisten", die Staatskommunisten. Und es ist ganz lehrreich — obwohl uns schon längst bekannt —, dies in der Nr. 168 der Wiener "Roten Fahne" abermals bestätigt zu finden. Laut ihrer redaktionellen, also parteioffiziellen Meinung "könnte die Anwendung dieses Mittels (bewußte Einschränkung der Kinderzahl) nur dazu führen, das Proletariat zu korrumpieren, ihm die Hebung seiner Lage innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und nicht die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft als erstrebenswertes Ziel erscheinen zu lassen". Natürlich ist das nur Phrase, denn wenn schon die Hebung der Lage des Proletariats keineswegs ausschließt, die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft als erstrebenswertes Ziel zu erkennen — kann diese Hebung ja doch nie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zur völligen sozialen Befreiung gelangen! —, so hängt es überhaupt von der Art der Anwendung eines Mittels nicht von diesem selbst ab, ob es bloß zu einem persönlichen Vorteil gereicht oder zu einem revolutionären Mittel gemacht wird.
Gern sei zugestanden, daß, so lange nur einzelne Individuen des Proletariats die Verhütung der Empfängnis betätigen, diese nur ein Mittel der persönlichen Hebung und Verhütung einer sozialen Verelendung der Betreffenden selbst ist. Auch als solches Mittel erscheint uns der Neu-Malthusianismus als gewiß sehr wertvoll. Aber er kann ebenso gut ein revolutionäres Mittel werden, sobald auch nur größere Massenminoritäten des Proletariats sich weigern, der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft das Menschenmaterial in bisheriger Überfülle zu liefern.
Dies zu bestreiten, nach dem Weltkrieg die Stirn zu haben, und gegen die Einschränkung der Kinderzahl im Proletariat Stellung zu nehmen, bedeutet in der Tat, der bürgerlichen Gesellschaft Zutreiberdienste zu leisten auf dem ihr unentbehrlichsten Gebiet: dem des überschüssigen Menschenmaterials. Daran ändert die Aufrollung der Frage: "Wie können wir die Welt gestalten, damit die Aufzucht eines kräftigen und gesunden Geschlechtes möglich ist?" nicht das geringste, denn sowohl mit der theoretischen wie praktischen Beantwortung dieser Frage hat es leider noch seine etwas langen Wege, während das Proletariat jetzt gelehrt werden muß, wie sich dem Kapitalismus und Staate möglichst zu entziehen, damit es befähigt werde, eine solche Welt zu errichten, in der die Aufzucht eines kräftigen und gesunden Menschenschlages möglich. Durch schrankenlosen Kindersegen gelangt es weder zu solcher Weltgestaltungskraft noch zu einer geistig kräftigen Nachkommenschaft; das sollten doch die fünfzig Jahre sozialdemokratischer Arbeiterbewegung bis zum Weltkrieg genugsam bewiesen haben.
Leider nicht für die marxistischen "Kommunisten", die auch noch heute dasselbe schreiben, was sie — auch Rosa Luxemburg, Klara Zetkin, Karl Kautsky und andere stramme Marxisten — vor dem Weltkrieg geschrieben haben: "Die stetig zunehmende Gebärunlust und die daraus entspringende Forderung nach vollständiger Freiheit des Einzelnen, die Kinderzahl nach seinem persönlichen Gutdünken einzurichten, sind daher vom proletarischen Klassenstandpunkt aus nicht zu begrüßen, sondern nur zu betrachten als der Ausdruck des völligen Verfalls unserer Gesellschaft, der Unfähigkeit, die erste Bedingung alles gesellschaftlichen Lebens, die Erzeugung von Menschen sicherzustellen. Und so notwendig die Beseitigung mittelalterlicher Gesetzesparagraphen, wie des Paragraph 144 ist, der jede Abtreibung der Leibesfrucht mit Kerkerstrafe bedroht, so wenig ist es Aufgabe des Proletariats, in dem Kampf für oder gegen Präventivmittel, für oder gegen Fruchtabtreibung Kräfte zu verzetteln. Nicht das Problem braucht die Arbeiter zu beschäftigen, ob es heute wünschenswert, Kinder in die Welt zu setzen ..."
Dieser Standpunkt ist so ziemlich derselbe, wie der des Klerikalismus, der gleichfalls die Menschen lehrt, sich nicht um das Diesseits sondern nur um das Jenseits zu bekümmern Wir wissen nicht, ob der Schreiber oder die Schreiberin obiger Zeilen einer zahlreichen Kinderschar seiner Familie das Leben geschenkt hat; nur das wissen wir, daß eben so wie Pfaffen das Jenseits für die anderen rühmen, für sich aber das Diesseits recht gern genießen, so weder Rosa Luxemburg, noch Klara Zetkin oder Karl Kautsky der Welt und seiner Partei eine zahlreiche Kinderschar beschert hat, obwohl sie materiell dazu weitaus leichter imstande gewesen wären, als selbst höchstqualifizierte Proletarier geschweige denn gar Proletarierinnen.
Doch ganz abgesehen davon, ist es sehr bedeutsam, schon in der Gegenwart zu erfahren wie sich die marxistischen "Kommunisten" die Stellung der Frau im Eldorado einer staatskommunistischen Gesellschaft vorstellen. Man sollte denken, daß diese absolut persönliche Angelegenheit von wirtschaftlich selbständigen Menschen die eigene Sache ihrer freien, unbeschränkten Selbstbestimmung sein müsse. Nicht so aber denkt ein marxistisches Gemüt, denn in seinem Geist malt sich das Weltbild so: Der kommunistische Staat "sorgt" für "die Aufzucht der Kinder, ihre Verpflegung, Bekleidung, Behausung und Bildung. Allein dafür, für diese Fütterung der von ihm abhängigen, von ihm versklavten Menschen — denn auch der Sklavenbesitzer hat für sein Menschenmaterial gesorgt — hat der marxistisch-kommunistische Staat das Recht, die Menschenzüchtung ebenso zu regulieren, wie der Tierzüchter seine Viehaufzucht. Er kann fordern, gebieten und verbieten in der Sphäre der Geschlechtlichkeit. Und darum ist es keineswegs ausgemacht, daß es im marxistisch-kommunistischen Staat nicht etwa auch den Gebärzwang für die Frauen geben wird:
"Inwieweit darüber hinaus durch direkte Maßnahmen — Gebärzwang für gesunde, Gebärverbot für kranke Frauen — die Rasse verbessert werden kann, darüber heute Betrachtungen anzustellen, wäre verfrüht. Gewiß ist aber, daß eine Gesellschaft, in der jeder Kranke und Arbeitsunfähige erhalten werden muß, durch die Mehrarbeit der Gesunden, und in der andererseits jeder Gesunde und Tüchtige dazu beiträgt, durch seine Arbeit die Wohlfahrt aller zu fördern, man die Erzeugung von Menschen ebensowenig als private Angelegenheit betrachten kann und dem Belieben des Einzelnen überlassen kann, wie die Erzeugung von Brot oder die Zucht von Milchkühen."
Ist es ein Wunder, wenn der Kommunismus absolut mißverstanden wird, da Menschen mit solcher Stumpfheit gegenüber jeder psychischen Fiber des Kulturmenschen ihn vertreten?
Alle Argumente der Gegner des Kommunismus, die in diesem ein ödes und vertierendes Stalldasein erblicken, in dem das Torkelhafte jeder Reglementierung als höchste Lebensweisheit gilt, wird von diesen "Kommunisten" bestätigt, unbewußt bekräftigt. Dadurch wird der Kommunismus sonst ein Wirtschaftssystem der Gemeinschaftlichkeit in ökonomischen Angelegenheiten, das die Sicherstellung der wirtschaftlichen Existenz eines jeden Menschen mit Recht als das oberste Gebot der Stunde erklärt, zu einem Zwangsinstrument der Unfreiheit, das gerade die bestgearteten, höchstentwickelten Menschentypen scheuen, aber auch das Proletariat fürchten muß, weil es nicht zu seiner Befreiung, sondern zu seiner erneuten Versklavung führte, ganz ebenso wie ja auch die Revolution von 1918 nicht zur Emanzipation des Proletariats, sondern nur zu seiner wohl in der Form veränderten, aber im Wesen gleichgebliebenen Versklavung geführt hat.
Allein das, was diese "Kommunisten" vertreten, ist nicht Kommunismus, es ist Marxismus, Staatsdiktatur, es ist Staatsunkultur, Autorität und Herrschaft. Und es muß immer wieder betont werden, daß es nicht wahr ist, zu behaupten, daß diese Institutionen unerläßlich für den wahren Kommunismus, unlösbar verbunden seien mit ihm in seiner wahren Verwirklichung.
So, wie wir uns den Kommunismus ohne Staat vorstellen, wird er der Frau das vollste Recht der Selbstbestimmung über die Funktionen ihres Körpers einräumen. Dieses Recht wird zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte ihr privates, persönliches Recht werden. Und eben deshalb, weil sie selbst in der freiesten Gesellschaft, sogar unter allen Bedingungen des materiellen Wohlstandes unmöglich gestatten kann, ihrer Fortpflanzungsfähigkeit ungehemmt und zügellos freien Lauf zu lassen, ist es für die Frau als solche vom geistigen, psychischen und sozialen Standpunkt aus betrachtet, für die Proletarierin von eminentester Wichtigkeit, schon heute mit der Anwendung von empfängnisverhütenden Mitteln vertraut gemacht zu werden. Denn was ihr heute als Kampfesmittel gegen ihre persönliche Verelendung und Vermehrung ihrer materiellen Notlage und Unabhängigkeit dient, das wird ihr morgen, in der Gesellschaft des herrschaftslosen Kommunismus, in der wirtschaftlich gesicherten Existenz einer solidarischen Haftung Aller für Einen, als Mittel des fürsorglichen weiblichen Waltens dienen, um selbstbestimmend und selbstbehütend die Entwicklung eines freien und glücklichen Gemeinschaftslebens nicht durch allzu reichlichen Kindersegen zu gefährden.
Aus: "Erkenntnis und Befreiung", 2. Jahrgang, Nr. 15 (1920). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.