Pierre Ramus - Auf Agitation (1908)
Am 13. August eine Versammlung im XII. Bez., in der ich über "Die Wahrheit über den französischen Generalstreik" referierte und an der Hand der französischen Presse die Lügen der "Arbeiterzeitung" über diesen mutvollen Kampf des französischen Proletariats aufdeckte, auf die infamen Widersprüche in der Berichterstattung der deutschen sozialdemokratischen Presse und auf ihre herrliche Übereinstimmung mit dem christlichsozialen "Deutschen Volksblatt" in Beurteilung des Generalstreiks hinwies - und am 14. August befand ich mich schon in einem ganz anderen Milieu: bei den Grazer Kameraden. Endlich, nach Monate lang währender Vorbereitungsarbeit war es mir gelungen, meine Berufsgeschäfte so zu erledigen, daß eine einige Wochen dauernde Agitation in den verschiedenen Kronländern, die von den dortigen Kameraden mit Recht immer energischer gefordert wurde, mit in Kauf genommen werden konnte; aber auch auf der Reise mußte ich täglich mein Quantum geistiger Holzhackerei für meine diversen Herren Verleger liefern - und sie ist schuld daran, daß ich den Genossen in diesen Reiseskizzen wenig melden kann von dem, was ich an landschaftlichen oder städtischen Sehenswürdigkeiten hätte sehen können. Dazu gebrach es mir meistens an Zeit.
Das Leben eines reisenden anarchistischen Propagandisten ist nicht so rosig, wie das eines Sozialdemokraten oder irgend eines Agitators einer anderen Partei; bei uns gilt es, wenn wir nicht persönliche Mittel haben, gerade während einer solchen Reise den härtesten Kampf ums Dasein, ums Reisedasein, wenn ich mich so ausdrücken darf: es müssen von Stadt zu Stadt, von Station zu Station die nötigen Bahnspesen aufgetrieben werden, und dies kostet oft unsägliche Mühe. Bedenkt man ferner, daß wir keine Gratisfahrkarten haben, wie die Abgeordneten sämtlicher Parteien, unsere Aufklärungsarbeit aus unseren eigenen Taschen betrieben werden muß; bedenkt man, daß dies seit etwa zehn Jahren die erste Agitationstour war, die von anarchistischer Seite durch die Lande unternommen wurde, auf völlig unbekanntem Terrain und mit unbekannten Menschen, so wird man begreifen, wenn ich sage, daß ich, der ich sonst die Aesthetik und das Künstlerische, also Verschönernde des Lebens nicht gerne vernachlässigt sehe, diesmal wirklich kein Interesse hatte an all den natürlichen Reizen unseres Österreichs und seiner schönen Alpengegend.
Graz
Dafür aber lebte ich desto intensiver in der Bewegung und mit den neuen Kameraden! Und da habe ich wahrlich viel Freude erlebt. Alte Geistesbekannte lernte ich nun persönlich kennen, wie z.B. Prisching in Graz, der sich gerade, wie zur Feier meiner Ankunft, definitiv von der Propaganda für den Vegetarismus abgewendet und der rührigen Arbeit für das Großprinzip vollständiger sozialer Befreiung wieder zugewendet hatte. Es waren sehr fröhliche Stunden, die ich mit der ziemlich starken Grazer Gruppe in ihrem traulichen Vereinslokal verlebte, dessen stattliche, gut ausgewählte Bibliothek einen achtunggebietenden Eindruck ausübt, der sich bei mir noch besonders in ein freundschaftlich-liebevolles Gedenken auslöste, als mir mitgeteilt wurde, daß viele dieser Bücher einst Eigentum unseres, auch vielen älteren Wiener Kameraden noch in bester Erinnerung stehenden, gegenwärtig in New-York wirkenden, braven Kameraden Hippolyt Havel waren, der sie der Gruppe zuwendete, als er Graz verlassen mußte.
Schon am nächsten Tage hatten wir eine Versammlung, die erfreulich gut besucht war. Ich referierte über "Sozialismus, Sozialdemokratie und Parlamentarismus". In der dann zu erfolgenden Diskussion ergriff keiner der etwa anwesenden Sozialdemokraten das Wort, wohl aber unser alter, wackerer Pionier Nozar, der in kernigen Worten seine historischen Erfahrungen aus der Zeit der Radikalen und Gemäßigten vortrug. Wir hatten alle Ursache, mit unserer Versammlung zufrieden zu sein und versprachen sämtliche der Anwesenden, Hand in Hand mit unserer tüchtigen Gruppe für das Ideal des Anarchismus einzutreten, nicht nur in Gedanken, sondern durch rührige Aufklärungsarbeit und Vertrieb unserer Literatur.
Zur Grazer Versammlung hatten sich auch einige Genossen der Marburger Gruppe eingefunden, um mich nach Marburg zu nehmen. Nachmittags verbrachten die Grazer und Marburger mit mir die Zeit in angenehmem Beisammensein, wozu auch der Umstand viel beitrug, daß gerade ein Kamerad anwesend war, der soeben von der sogenannten freiheitlichen Kolonie "Fotodotera" bei Athen kam und seine Erfahrungen zum Besten geben konnte. Es war dies der Kamerad Hochmann, der früher ein eifriger Verteidiger Raymond Duncans in Berlin war, nun aber durch bitterste Erfahrung und als der letzte der mit so großen Hoffnungen begründeten Kolonie mit jenem brechen mußte. Duncan soll nichts als ein Abenteurer und Grundeigentumsspekulant sein, der die Arbeitskraft von Anarchisten für selbstsüchtige Zwecke ausbeuten wollte. Uns allen, die wir seinen — Hochmanns — Ausführungen, die in ruhigem, leidenschaftslosem Tone vorgetragen wurden, folgten, ergriff eine tiefe Betrübnis bei dem Gedanken, daß sich gerade an solch hochfliegende Pläne, wie sie die Verwirklichung eines Lebens in echter Freiheitsgemeinschaft sind, solch unehrliche Elemente heranschlängeln und dadurch diese Pläne diskreditieren. Hochmann aber ist überzeugt von dem Ideal des Anarchismus, er ist nicht wankelmütig geworden, und nach wie vor tritt er für eine praktische Begründung von freien Lebensgemeinschaften unter wirklichen Anarchisten ein.
Marburg
Ein erbärmliches Hundewetter war es, das meinen Einzug in Marburg begleitete. Die dortigen Genossen sind vornehmlich Angestellte der Südbahn, und ich hatte hier Gelegenheit zu beobachten, daß Menschen aus purem Edelsinn und oft nicht aus materiellem Interesse, aus Klasseninteresse, Anarchisten sind. Vielleicht sind dies überhaupt die besten Elemente unserer Bewegung hinsichtlich ihrer Ausdauer. — Die Südbahn, die bekanntlich recht hohe Fahrtarife hat, wird von jenen intelligent-kapitalistischen Prinzipien inspiriert, die darin bestehen, daß sie ihre Angestellten nicht auch noch in ihrer Lebenshaltung unterdrückt, sondern die Ausbeutung gerade dadurch schwungvoller betreiben kann, daß sie der Reproduktion der Arbeitskraft ihrer Arbeiter ein einigermaßen anständiges Lebensgebiet einräumt. Das ist schlau. Gleichzeitig ist es aber interessant zu erfahren, daß eine solche Lebenshaltung der relativen Annehmlichkeit in keiner Weise den ökonomischen Klassenkampf beeinträchtigt, wenn unter den Kämpfern einmal ein gewisser Grad geistiger Persönlichkeitserkenntnis um sich gegriffen hat. Es sind nämlich gerade diese Arbeiter, die eine schöne, geräumige Wohnung von drei und oftmals mehr Zimmern, einen ziemlich großen Obst- und Gemüsegarten samt Hühnersteige und sonstiger Haustierzüchtung haben — es sind gerade diese Arbeiter, die vor zwei Jahren die passive Resistenz durchführten, teils zwecks Erzeugung von noch besseren Lebensbedingungen oder aus Solidarität zu den niedriger stehenden Arbeitern.
Unsere Versammlung, in der ich über den "Kampf des Proletariats" sprach, war gut besucht und trotzdem einige griesgrämige Sozialdemokraten anwesend waren, die Unterbrechungen versuchten, haben sie sich nur blamiert und konnten die gegenseitige Verständigung zwischen Referent und Zuhörern nicht stören oder beeinträchtigen. Dieses Gefühl der gegenseitigen Sympathie habe ich besonders lebhaft bei den Marburger Kameraden empfunden; wir alle blieben nicht nur Kampfgenossen, sondern wir wurden in den paar Tagen wirklich Freunde. Besonders lebhaft erinnere ich mich der Genossen P., V., K., M. und des für unsere Bewegung noch so hoffnungsvollen, jungen Kameraden F.
Klagenfurt
In Klagenfurt haben wir sehr viele Genossen, aber weniger tätige Propagandisten. Und hier änderte sich auch so ziemlich das Bild der ökonomischen Lebensverhältnisse, das ich bisher vorgefunden hatte. Es wurde schlecht und immer schlechter. Und obwohl ich mich schon viel umgesehen habe in der Welt, so kenne ich doch keine zweite größere Stadt, die es an elenden Wohnungsverhältnissen für die proletarischen Schichten irgendwie mit Klagenfurt aufnehmen könnte. Die Arbeiter wohnen dort nicht in Häusern, sondern eher in Baracken und Erdhaufen. Diese haben ein düsteres, finsterschmutziges, klosterartiges Aussehen und in den eng aneinander gereihten Löchern — Zimmer kann man doch so etwas nicht nennen — lebt Mann, Frau samt Kindern, ganze Familien sind hineingepfercht. Was man in einer Höhle spricht, hört man im Nebenraum, es kann keine noch so private Angelegenheit vorgenommen werden, ohne daß das ganze Haus sie mit ansieht, anhört und dadurch miterlebt. Tausende von Miasmen erfüllen die stickige, durch die Dutzende von Herdfeuern noch erhitzte Luft.
Wer der Menschheit ganzen Jammer, die Frucht des grauenhaften Bodenwuchers und Monopoleigentums an dem, was allen Menschen gehören sollte: am Boden, beobachten will, der wird in Klagenfurt auf etwas stoßen, was er in den Großstädten wie Wien, Berlin usw., nicht sieht, schon aus hygienischem Selbstinteresse der Bourgeoisie nicht, die solche Zustände in den dicht bevölkerten Städten unmöglich dulden kann, will sie nicht selbst von denselben infiziert werden. Und doch, wie schön ist dieses Klagenfurt in seiner Umgebung, wie wunderherrlich waren die Spaziergänge, die ich mit einem alten Kameraden hinaus machte, draußen am See bei der Haltestelle Loretto und weiter drüben! Doch alles dies ist nur für die Besitzenden, die es da haben; die Plebs vegetieren in Klagenfurt selbst und in dessen Arbeiterviertel; da ist es wahrlich fürchterlich.
Wir haben dort einen außerordentlich wackeren Kameraden; unseren K. Einer von denen, die in Armut dahinvegetieren, obwohl sie eine qualifizierte Arbeit kennen und diese in der Frohn der Lohnsklaverei leisten. Unermüdlich war er während meines Aufenthaltes für das Zustandekommen der Versammlungen tätig, gönnte sich weder Ruhe noch Essenszeit. In ihm steckt wahrlich dasjenige, was man anarchistische Initiative nennen kann, ein wackerer Mensch, ein treuer Kämpfer im Dienste der ihn beseelenden Freiheitsidee. Er arrangierte eine den besten Verlauf nehmende Versammlung der Bäcker, die von dem ihnen gehaltenen Vortrag so begeistert waren, daß sie sich alle, wie ein Mann, auf unsere Presse abonnierten. Am Abend desselben Tages fand eine größere Massenversammlung statt, die von unserer Gruppe einberufen war und in der ich über "Weltanschauung und Taktik des Proletariats" referierte. Die 2 1/2 stündigen Ausführungen fanden begeisterten Zuspruch und mit Ausnahme eines einzigen, sich dummflegelhaft benehmenden Sozialdemokraten verlief die Versammlung sehr harmonisch und zur Freude sämtlicher internen Kameraden.
Einen der Ältesten aus der alten radikalen Bewegung, der sich ein jugendfrisches Herz trotz seines Greisenalters bewahrt hat, einen der Unbestechlichen der damaligen Zeit, lernte ich in Klagenfurt gleichfalls kennen. Ich brauche keinen Namen zu nennen, diejenigen, die ihn kennen (auch die Höchsten der Sozialdemokratie, die ihn fürchten!) wissen, wen ich meine, wenn ich sage, es war der "Alte mit dem Bismarckkopfe". Wenn er nur könnte, wie er wollte, unsere Bewegung würde in Klagenfurt einen riesigen Höhelauf nehmen. So aber ist sie hauptsächlich auf diejenigen Kameraden angewiesen, die die stille und schwere Organisationsund Aufklärungsarbeit leisten, unermüdlich, rastlos leisten. Ich meine hier vornehmlich den Genossen K., der aber hoffentlich, wenn ich das nächste Mal ihn sehe, nicht mehr so ganz allein stehen, sondern schon mitwirkende Kräfte gewonnen haben wird, deren Aufrüttelung und Einreihung in unsere Bewegung ich mir als schönsten Lohn für ineine Klagendster Tätigkeit anrechnen würde.
Weyer
Weiter, nach Weyer. Ein unendlich reizender, noch im Aufstreben begriffener Kurort in Oberösterreich, in dem es eben so unendlich teuer zu leben, als der Flecken schön ist. Ich versprach mir nicht viel und war ganz überrascht, dorten eine ganze Anzahl ernster, tüchtiger Kameraden zu finden. Binnen 24 Stunden wurde die Versammlung arrangiert, zu der alle "Macher" der Sozialdemokratie, die sonst immer gar energisch wider die bösen Anarchisten wettern, eingeladen wurden. Doch die Unentwegten fanden den besseren Teil des Mutes in der Vorsicht — nicht zu erscheinen. Am Tage nach der Versammlung schützt der eine Krankheit, der andere dies und jenes vor, keiner aber fand es der Mühe wert, seine Partei vor den Angriffen zu verteidigen, die auf diese gemacht wurden. In diesem Bergtal hatte sich morgens um 10 Uhr eine ganz hübsche Anzahl von Zuhörern eingefunden, die mit wahrer Andacht die Lehre des Anarchismus entgegennahm. Nicht genug damit, wurde sofort beschlossen, den Nachmittag zur Gründung einer eigenen Gruppe zu benützen; als Zusammenkunftsort wurde eine Stelle auf "steiler Bergeshöh" bestimmt. Und obwohl ich, aufrichtig gesprochen, dem nachhaltigen Effekt meines Vortrages nicht bis zu diesem Grade traute — nachmittags hatte sich eine für den Anfang ganz stattliche Zahl eingefunden, die, nach einigem Hin- und Herreden, sofort an die Begründung der Gruppe, der ersten Gruppe des Anarchismus, die jemals in Weyer bestanden, schritt.
Sehr gerne hätte ich in Salzburg und Innsbruck eine Versammlung abgehalten, aber leider fanden sich die Kameraden noch nicht dazu bereit. Mit dem festen Vorsatz, es das nächste Mal unter allen Umständen zu versuchen, mußte dieser Plan für dieses Mal fallen gelassen werden. Ebenso erging es auch mit Pilsen, wo erst jetzt die Vorbereitungen für eine demnächst einzuberufende Versammlung getroffen werden können.
Prag
So wandte ich mich Nordböhmen zu, vorher jedoch in Prag absteigend. Nach längerem Suchen fand ich die Redaktion der anarchistischen Revue "Prace". Hier fand ich Kameraden, mit denen ich ernsthaft über Bewegungsangelegenheiten sprechen konnte. Der Eindruck, den ich nach dem mehrstündigen Aufenthalt in diesem kleinen Gruppenkreis mit fortnahm, war der, es mit außergewöhnlich opfertüchtigen Kameraden zu tun gehabt zu haben; mit solchen, die während des Tages arbeiten und von ihrem Verdienst die anarchistische Literatur technischpublizistisch bereichern. Dabei bereiteten sie mir einen solch herzlichen, solidarischen Empfang, daß ich mich bald wie im eigenen Heim fühlte. Ich fand in Kacha, in der Genossin Müller, in Blaha Kameraden, wie man sie edelmütiger kaum finden kann, und ich freue mich, dies konstatieren zu können. Ich fühle es, wäre ich der tschechischen Sprache mächtig und in der tschechischen Bewegung tätig, es ist diese Gruppe, der ich mich anschließen wurde. Der Genosse B. führte mich auch zum Genossen Vrbensky, der als junger Mediziner seine ganze Persönlichkeit in den Dienst unserer Idee stellt.
Nordböhmen
Einige Tage vorher hatte in Prag der Kongreß der diversen Kohlengräberföderationen Nordböhmens stattgefunden; die Genossen der Gruppe "Prace" hatten hier alles Notwendige arrangiert für eine kleine Agitationstour durch die Kohlenreviere des böhmischen Bergbaues. So fuhr ich denn geradewegs nach Bruch, gewissermaßen das Hauptzentrum unserer Bewegung unter den Kohlengräbern. Was sich unter dem deutsch-österreichischen Proletariat Betrübendes vorfindet, das findet sich hier reichlich aufgewogen durch das erhebend Erfreuliche unserer nordböhmischen Kohlengräberföderation- und Bewegung, an der sich auch viele Deutschböhmen beteiligen. Ganz abgesehen davon, daß die Auflösung der tschechischen Föderation diese tausende und abertausende Arbeiter nicht im mindesten berührte, weil sie sich darum einfach nicht bekümmerten, habe ich hier Männer der Arbeit, schlichte Pioniere unseres Ideals kennen gelernt, vor deren Arbeitstüchtigkeit, Solidaritätsgeist und Aufopferungsfähigkeit ich die größte Hochachtung bekenne. Man kann sich schon einen Begriff von der selbständigen Gesinnung dieser Bergarbeiter machen, wenn man erfährt, daß sie sich um diverse innere Streitereien überhaupt nicht bekümmerten, ruhig ihre Arbeit der Organisation und des langsamen, aber gründlichen Eindringens in den Massenkörper des Unverstandes fortsetzten und, als ihnen die Sache zu dumm wurde, durch ihre Passivität einem unheilvollen Zwist die Existenzmittel entzogen; dies geschah, ohne viel Aufheben zu machen.
In Nordböhmen gibt es etwa 3500 anarchistisch organisierte Kohlengräber und 3000 sozialdemokratische und etwa 20.000 unorganisierte Indifferente. Leider handelt sich der Kampf der Sozialdemokratie gegen unsere Kameraden nicht darum, diese Indifferenten zu gewinnen. Ihr Hauptaugenmerk zielt darauf ab, alle Aktionen der anarchistischen Bewegung zunichte zu machen, solches zu versuchen. Dabei ist es eine Tatsache, daß es auch die Sozialdemokraten sind, die durch die auf Grundlage der direkten Aktion unserer Kameraden erfochtenen Siege und ökonomischen Erfolge die Mitgenießenden sind. Dies hindert sie nicht daran, unseren Bergarbeitern überall, wo es nur angeht, in den Rücken zu fallen. Aus der Position unserer Arbeiter und der Sozialdemokraten im Bergwerk selbst, läßt sich ermessen, wer von den Kapitalisten und ihren Werkzeugen als der wahre Rebell betrachtet wird: die Sozialdemokraten sind die sogenannten "Pferde", die Arbeiter, die geduldig und zufrieden mit ihrem Los sind, deren Führer stets "bremsen", in allem den gehaßten Anarchisten, die eben die Kunst der Genügsamkeit noch nicht gelernt haben, vorgezogen. Immerhin ist es den anarchistisch Organisierten gelungen, den Achtstundentag durchzusetzen, einen Minimallohn von täglich 4 Kronen zu erringen, der das Gute an sich hat, daß er im besten Sinne nicht eingehalten wird, indem die Leute per Tag rund 6 bis 7 Kronen verdienen. Worum es sich jetzt vornehmlich handeln müßte, das wäre die Abschaffung der Nachtschicht, dieser die Menschen physisch rasch niederwürgenden Arbeitsmethode, die keinen Tag und keine Nacht kennt, sondern abwechslungsweise blos ewiges Profiterzeugen in der Hölle des Bergwerks, seines Schachtes.
Überhaupt — diese Arbeit! Selbst der höchste Lohn ist hier eine kapitalistische Niederträchtigkeit, das wird sich jeder Mensch mit Verstand und Herz sagen müssen. Ich kenne die Kohlengräber Amerikas und Englands, resp. Schottlands — aber erst diesmal hatte ich Gelegenheit, die Kohlengräber meines engeren "Vaterlandes" kennen zu lernen. In meinen frühen Jünglingsjahren bin ich aus meiner Geburtsstadt Wien nie herausgekommen und nun, als Mann, konnte ich mir das Elend mit den geschärften Erfahrungsblicken eines wissenden "Globetrotters" betrachten. Und es sei vorweg konstatiert: Solches Elend, eine solche, in der Arbeit selbst begründete Elendslage des Proletariats, wie hier bei uns, das habe ich nirgends gefunden. Da mögen mir die Sozialdemokraten hundert Mal entgegenhalten, es sei "besser geworden". Ich wünsche ihren Führern nichts anderes, als daß sie dieses besser Gewordene am eigenen Leibe ausprobieren mögen!
Wenn wir aber nun wissen, daß Zolas "Germinal" durch den zähen Klassenkampf der französischen Bergarbeiter tatsächlich überwunden ist in manchen, den schwärzesten Partien seiner Schilderung des Kohlengräberelends; wenn wir wissen, daß der englische Kohlengräber sich durch den reinen ökonomischen Kampf eine eigentlich nur fünftägige Arbeitswoche mit anständiger Behausung und angrenzendem kleinen Obst- und Gemüsegärtchen sich erobert hat — dann erst schrecken wir ganz entsetzt zurück angesichts dieser grauenhaften Notlage eines Arbeiterstandes, dessen Leben während der Arbeit jeden Tag, ja stündlich auf dem Spiele steht. Wie wäre es da erst, wenn es keine fortwährend anspornende und aufrüttelnde anarchistische Gewerkschaftsbewegung gäbe? Denn es ist eine merkwürdige Tatsache, daß in denjenigen Kohlenrevieren, wo die Bewegung nicht anarchistisch, sondern parlamentarisch inspiriert ist, die Lage noch eine weit schlechtere ist. Haben z.B. die Brucher Kohlengräber einen hoch über das Minimum hinausschießenden Lohn, so kommen die Bergleute des Falkenauer Bezirkes in Westböhmen nur sehr schwer dazu, ihren Lohn um rund 1 Krone über das Minimum hinaus zu steigern. So sehr wirkt dieser parlamentarische Kretinismus auf die Arbeiter ein, der als Grundlage ihrer Bewegung in ihren Kreisen gehegt und gepflegt wird.
Bruch
In Bruch selbst haben wir eine vorzügliche tschechische anarchistische Bewegung. Man stelle sich nur vor, daß dieses Landstädtchen zwei anarchistische Lesehallen, zwei Einkaufsgenossenschaften, die in Streikzeiten Waren unentgeltlich an die Arbeiter abzugeben haben, eine Bäckerproduktivgenossenschaft hat. Die einzelnen Organisationen führen ein hohes geistiges Leben und versammeln sich wöchentlich einmal zur Abwicklung der Geschäftsangelegenheiten, weit öfter zwecks Propaganda. Direkte Aktion als Klassenkampfmittel der ökonomischen Befreiung, Antimilitarismus als Anti-Staatlichkeit und dabei ein konstruktives Gegenwartsbauen und -Streben für die Zukunft, durch Begründung sozialistischer Produktivvereinigungen ihren sozialen Machtboden zu erweitern - dies fand ich unter diesen Kohlengräbern.
Was die Sozialdemokraten Nordböhmens anbelangt, spielen sie hier gar keine Rolle; ich habe zu ihnen gesprochen und als bemerkenswertestes Zeichen die von keiner aufklärenden Propaganda berührte Unwissenheit ihres Geistes angetroffen. Es ist überhaupt merkwürdig: auf der einen Seite die anarchistischen Gewerkschafter, die sich in allen sozialen Problemen tüchtig auskennen, auf der anderen die sozialdemokratischen, die, während man ihnen das ABC des Sozialismus bietet, einen anstaunen, als ob man eine Art Messias wäre. "Das, was Sie uns sagen, haben wir noch nie gehört, das bieten uns unsere Führer nicht; von ihnen hört man immer die alte Leier", das waren die Worte vieler dieser ehrlichen, wenn auch mißbrauchten Arbeiter, Worte, die eine treffende Illustration zu der unerhörten Geistesverdummung bilden, die einerseits Christlichsoziale, anderseits Sozialdemokraten an diesen bedauernswürdigen Proletariern verüben, die aber in nicht allzulanger Zeit den richtigen Boden des Klassenkampfes finden werden.
An zwei Kameraden denke ich besonders, wenn ich über Bruch schreibe. Es sind dies die Genossen Draxl und Scheffel, beide Kohlengräber, die in Frankreich unter weit besseren Lebensbedingungen arbeiteten, die es aber zurücktrieb nach Böhmen, um den prächtigen Zug der französischen Arbeiterbewegung dem tschechischen und deutschböhmischen Proletariat vorzuführen, nach hier zu verpflanzen. Und in Nordböhmen ist es ihnen in erfreulichem Maßstabe gelungen. Es sind zwei Kameraden, die man lieben und hochschätzen muß; vorzügliche Propagandisten und von erstaunlich hohem Wissensgrad.
Dux
Von Bruch fuhr ich nach Dux, wo ich die Kameraden Krampera und den alten Pionier Kasche als Redakteure der "Hornicky Listy" antraf. Sie arrangierten die ostböhmischen Versammlungen. Ich hatte hier Gelegenheit, in das Verwaltungsgetriebe der gesamten Bergarbeiterorganisation unserer Seite Einblick zu gewinnen. Es ist so, wie es unter Revolutionäre sein muß. Keiner der zwei angestellten Kameraden, die das Wochenblatt redigieren und expedieren, erhält als Lohn auch nur so viel, wie er im Schacht verdienen könnte, gerade genug, um das Notdürftigste zu bestreiten, so "hoch" ist ihre Entlohnung. Dabei glaube man nicht, daß hier aus der Not eine Tugend gemacht wird; die Kohlengräberföderationen haben hinreichend Geld, um höhere Löhne bezahlen zu können, wenn sie es nur wollten. Aber sie gehen von dem sehr richtigen Grundsatz aus, daß kein Funktionär irgend einer Arbeiterorganisation mehr verdienen dürfe, als die Arbeiter selbst, notabene: durch seine Beamtenstelle bei den Arbeitern
Nicht zuletzt hat gerade das Horrende der sozialdemokratischen Beamtenlohnskalen dazu beigetragen, daß die Sozialdemokratie und ihre Gewerkschaftsführer tatsächlich nichts als Bourgeois sind, die aus der Arbeiterbewegung ein gutes Geschäftchen machen. Man bedenke, daß fast alle Reichsratsabgeordneten auch Gewerkschafts- oder Krankenkassenbeamte sind und ihr Einkommen sich monatlich auf rund 800 Kronen belauft man wird es dann begreifen, woher die Wut dieser Herren gegen revolutionäre Kampfesmethoden und Antiparlamentarismus.
Ziditz, Zwodau, Lanz
Von Dux aus fuhr ich nach Westböhmen, wo ich in Zieditz, Zwodau und Lanz bei Falkenau sprach. Hier bieten die Versammlungen wieder einige bemerkenswerte, festzuhaltende Erscheinungen. Ich befand mich im Herzen der sogenannten freisozialistischen Bewegung, und es ist notwendig, zur Orientierung unserer Kameraden, daß wir bei ihr etwas länger verweilen.
Dort draußen, in diesen kleinen Talkesseln und Dorfansiedlungen am Rücken der sogenannten Randgebirge überhaupt, ist die Sozialdemokratie fast vollständig aufgerieben und die "freisozialistische" Bewegung maßgebend. Und ich stehe keineswegs an, gleich hinzuzufügen, daß hier unbedingt etwas geleistet wurde. Aber nur, insoferne sich diese Arbeiter über den Haß gegen die Sozialdemokratie hinaus zu wirklich braven Anhängern einer Geistesanschauung entwickelt haben, die tatsächlicher, freiheitlicher — also anarchistischer Sozialismus ist. In dieser Entwicklung sind sie von Simon Starck nicht gefördert worden, gerade das Gegenteil. Es ist nämlich eine spezifisch nur österreichische Möglichkeit, ein Ausfluß der in Österreich überhaupt grassierenden Unwissenheit über das Geschichtliche des Sozialismus, daß dasjenige, was in der ganzen übrigen Welt als gleichbedeutend mit anarchistischem Sozialismus gilt, daß der "freiheitliche Sozialismus" hier gleichbedeutend mit Bernsteinianismus, respektive Revisionismus in bürgerlichem Sinne ist. Freilich, nicht überall, aber doch meistenteils, wie man weiter unten sehen wird. Die Ausnahmen davon sind nicht das Verdienst der Bewegung, sondern rein individuelle, anerkennenswerte Verdienste.
Simon Starcks Persönlichkeit, die ich nun zum ersten Mal kennen lernte, besitzt in Falkenau und Umgebung ein sicheres Fundament infolge zahlreicher persönlicher Beziehungen aus seiner Vergangenheit als Arbeiter. Leider, leider. Denn es ist kein heilsamer Einfluß, den dieser Mann auf diese durchwegs ehrlichen, wenn auch teilweise arg fanatisierten Elemente ausübt. Davon, daß er in Wien überhaupt keinerlei Rolle spielen kann und hier von seinen ältesten Freunden längst über Bord geworfen, davon wissen die Arbeiter in diesen entlegenen Bergtälern nichts. Sie sind nur höchst unzureichend über seine nachgewiesenen Annäherungsversuche an die christlichsoziale Partei informiert. Diese Arbeiter sind in ihrer Lektüre meistenteils auf die "Freien Worte" angewiesen und wer die Qualität dieses Blattes nicht kennt, kann sich schon dadurch ein zutreffendes Urteil darüber bilden, wenn ich ihn versichere, daß die Herren Adler, Austerlitz usw., sich schmunzelnd die Hände reiben dürfen, wenn sie sich vorstellen, daß so ihre Opposition beschaffen ist! Als ich mich in Zieditz aufhielt, brachte das Blatt gerade die welterschütternde Neuigkeit, daß der uralte Christlichsoziale Prinz Liechtenstein eigentlich freiheitlicher Sozialist sei oder sein könnte! Und mit solchen Geistesprodtukten werden Arbeiter intellektuell gespeist.
Die "freisozialistische" Bewegung sollte eine Korrektur der Sozialdemokratie sein. Ein löbliches, wenn auch unausführbares Beginnen. Die Sozialdemokratie kann nämlich nur von einer höheren Gedankenwelt als ihrer eigenen überwunden werden; wird es auch. Als demokratisch-radikale Kleinbürgerpartei, die das Proletariat mit ins politische Schlepptau nehmen mußte (wie sonst Parlamentssitze erringen?), ist sie vollkommen auf ihrem Boden, und auch die marxistischen Phrasen hindern in keiner Weise ihre aktuelle, kleinbürgerliche Betätigung. Deshalb ist der Revisionismus nichts Neues in ihr, sondern nur die mit ihrem Gesamtanwachsen naturgemäß stärker werdende Tendenz der politischen Selbstbehauptung, die gerade weil sie groß geworden und nun "etwas" leisten muß, eine Lebensfrage für sie. Programmatisch tritt die "freisozialistische" Bewegung öffentlich revisionistisch auf und glaubt damit, die noch immer sich marxistisch verklausulierende Partei übertreffen zu können. Ein politischer und taktischer Trugschluß, Sie wird niemals dazu gelangen, da die Sozialdemokratie in der Praxis ganz ebenso auftritt, wie die freisozialistische Partei, dieser dadurch jedes weitere Lebensgebiet außerhalb des persönlichen Umkreises von Starck entziehend.
Das ganze praktische Programm der "Freisozialisten" wird auch von jedem Sozialdemokraten praktisch anerkannt; weil eben in den Bewegungen selbst keinerlei Verschiedenheit gelegen — Starek ist, wie jeder gute Sozialdemokrat, ein Parlamentarier! —, der ganze Zwist nur herrührt von der Verschiedenheit zwischen führenden Personen.
Wir haben es hier mit keiner einheitlichen Bewegung zu tun; wir finden die intelligentesten Arbeitertypen in ihr, die durchaus Anarchisten und dann wieder die typisch sozialdemokratischen Radaugestalten, die soweit gingen, mir in Lanz die Fenster meines ebenerdigen Zimmers einschlagen zu wollen. In Zieditz hielt ich bei der dortigen Gruppe einen Vortrag über die "Grundprinzipien des Sozialismus", der von allen Anwesenden — und ich identifizierte den wirklichen freiheitlichen Sozialismus ausdrücklich mit dem Anarchismus — äußerst beifällig aufgenommen wurde. Diese Arbeiter sind geistig sehr entwickelt, revolutionär in ihrem Empfinden, was sich besonders durch die Worte Siegls kundtat, den ich ohne weiteres als Kameraden bezeichnen kann. Gab er doch zu, daß durch die Lektüre des "W.f.A.", seine "Gedanken über Sozialismus eine ganz neue Wendung genommen" hatten. Solche gibt es auch noch andere dorten.
Etwas anders erging es mir in Zwodau, wo ich über ein Gewerkschaftstema referierte. Herr Rudert, Redakteur der "Freien Worte" hatte sich eingefunden, augenscheinlich um mir entgegenzutreten. Er tat dies auch und in der denkbar unverschämtesten, sozialdemokratischen Manier, d.h. an meinem Vortrag hatte er nichts auszusetzen, aber er warf mir vor — zu köstlich! —, daß ich in Wien nie referierte; von allen Parlamentariern hätte ich einen als edle Ausnahme hinstellen sollen: Starck; u. dgl. m.
Als ich ihm antwortete und ihm das Lächerliche seines Gebahrens vorhielt, zog er wutschnaubend davon. Auf mich machte der Mann den denkbar schlechtesten Eindruck; seine Argumente waren Wort für Wort den Sozialdemokraten abgelauscht, die diese wider uns kommunistische Anarchisten anwenden; auch das berühmteste Argument von der Zersplitterung und dem Keilhineintreiben blieb nicht aus. Als ob man es mit Dummköpfen zu tun hätte und nicht mit denkenden Arbeitern, die doch selbständig denken und urteilen können müssen.
Meine Ausführungen hatten immerhin auf auf einen großen Teil der Anwesenden Eindruck gemacht. Und dieser Teil war es auch, der mich nach kurzer Auseinandersetzung bewog, mit nach Lanz zu gehen, wo am selben Nachmittag Herr S. Starck einen Vortrag hielt. Ich ging mit, einerseits weil ich den Mann, der wie kein zweiter das Wort freiheitlicher Sozialismus in Österreich kompromittiert hatte, sehen, anderseits weil ich ihn hören wollte. Diesem Wunsche brachte ich das Opfer, über eine Stunde weit zu Fuß über Stock und Stein zu wandern; glücklicherweise nicht allein, sondern mit den übrigen Freunden, die mir mein Gepäck tragen halfen.
Nach längerem Warten kam Herr S. Starck. Sein Thema lautete kurz "Sozialpolitische Rundschau". Der Mann besitzt, obwohl geistig sehr ungebildet, eine natürliche, vorzügliche Rednergabe. Doch was er sagt, ist voll von Widersprüchen. In seiner Kritik des Parlamentarismus war er ausgezeichnet; bis er, wie jeder Politiker, auf seine parlamentarischen Wünsche zu sprechen kam. In der Kritik der anderen parlamentarischen Fraktionen ist nämlich jeder Politiker sehr fähig. Und während er klar und deutlich bewiesen hatte, daß im Parlament gar nichts gegen die Regierung durchgeführt werden kann, begeisterte er sich gleich darnach für eine — Verfassungsrevision! Ein lebhaftes Kokettieren mit dem Mittelstand und der Wunsch, diesen genossenschaftlich organisiert zu sehen — in Amerika und England ist dies schon zu einem großen Teil der Fall, und das Resultat ist eine Kartellkoalition zur Emporschraubung des Preises aller Lebensmittel auch im Detailverkauf!, ein Hin- und Herpendeln zwischen Ultraradikalismus und sanftestem Revisionismus, als Fazit das Bestreben, Produktivgenossenschaften zu gründen — was die anarchistische Bewegung aber schon mehrfach sogar erfolgreich durchgeführt hat - , darin bestand der wesentliche Inhalt seiner Rede.
Ich trat Herrn Simon Starck entgegen, wies ihm die kolossalen Widersprüche in seiner Rede nach; zeigte dem Mann, wie der freiheitliche Sozialismus in der alten Internationale entstanden; daß die proudhonistische Bewegung das Prinzip der Produktivassoziationen schon längst mit dem Anarchismus verknüpft hat; wies besonders nachdrücklich auf den Umstand hin, wie unaufrichtig es sei, sich so wegwerfend über den Parlamentarismus zu äußern, wie er es getan, sich aber dennoch daran zu beteiligen; und hielt ihn besonders bei seiner stereotypen Phrase fest: "Es gibt keine vollständige Lösung der sozialen Frage". Denn durch diesen Satz hat Herr S. Starck eigentlich zugestanden, daß er kein Sozialist mehr ist. Die Sozialisten sind nämlich davon überzeugt, daß dies, was man heute soziale Frage nennt, also die Totalsumme ökonomischer Ausbeutung und sozialer Versklavung durch die Aufhebung sämtlicher Herrschafts- und Ausbeutungsinstitutionen behoben sein würde; wer dieser Ansicht nicht ist, mag sonst ein ganz guter Kerl sein, streicht sich aber als Sozialist.
Wie antwortete Herr Starck auf meine zahlreichen Einwendungen? Ich muß gerechter Weise konstatieren, daß es nur seinem Einspruch zu verdanken war, daß ich teilweise aussprechen konnte; seine persönlichen Anhänger wollten es durchaus nicht zulassen. Rohe Worte, Raufgelüste zeigten sich hier wie bei unseren Wiener Sozialdemokraten, obwohl ich mich durchaus im Rahmen theoretisch-taktischer Diskussion hielt. Und dann, als ich geendigt hatte, wie antwortete Herr Starck? Kurz gesagt: Mit einer sprudelnden Fülle von persönlichen Verdächtigungen, Verdrehungen des anarchistischen Standpunktes und oftmals offenkundigen Verleumdungen à la Plechanoff! Alles dies unter dem vergnügten Johlen seiner persönlichen Anhänger. Und wie dieser Mensch polemisiert, das entnehme man dem einen Beispiel: Auf meinen Hinweis, daß im Sozialismus und Anarchismus die Lösung der sozialen Frage gelegen sei, antwortete Starck wörtlich: "Nein, es gibt keine Lösung der sozialen Frage, denn es gibt keinen Stillstand in der Natur. Wie kann man von Lösung der sozialen Frage sprechen — und wie wenn unser Planet untergeht oder eine neue Erfindung alles über den Haufen wirft?" Eine ideale Polemik, nicht wahr, diese Henimjongliererei mit unverstandenen Begriffen und Worten? Herr St. warf mir Büchergelahrsamkeit vor; er, als ehemaliger Kohlengräber, habe keine Zeit dazu. Dabei zog er, um den Anarchismus geistig zu vernichten, ein dickleibiges Buch hervor: Bernsteins "Zur Geschichte und Theorie des Sozialismus". Durch den darin enthaltenen alten Schmockartikel Bernsteins über den Anarchismus, der bei keinem ernsten Kritiker des Anarchismus auch nur die geringste Rolle mehr spielt, mit diesem Ladenhüter an Gedanken und Ideen versuchte er, den Anarchismus als "Traum, Hirngespinst" hinzustellen, zu widerlegen.
Es half ihm nichts; trotz des niederschmetternden Anblicks, den der Fanatismus — auch bei diesen Leuten! — auf einen macht, gelang es Herrn Starck nicht, wieder alle zu betören. Eine ganze Anzahl wollte mehr wissen, und diese Gelegenheit ist ihnen nun geboten. Die weitere Entwicklung dieser Bewegung, die auf gesundem Boden Großartiges leisten könnte, ist mir schon heute klar. Die wertvollsten Elemente entwickeln sich sehr rasch zum Anarchismus, indem sie den Gedanken des freiheitlichen Sozialismus — wie würde Bernstein lachen, wenn er wüßte, daß er hier einen "freiheitlichen"(!) Sozialismus als Ableger fand, er, der konsequente Bourgeois-Demokrat! — logisch ausdenken. Und der Wahrheit die Ehre: es sind zum größten Teil brave Elemente, die wir hierdurch gewinnen, in jeder Hinsicht beachtenswerte Männer der Tat und des Gedankens. Die anderen werden nach einer Reihe von Jahren wieder ins sozialdemokratische Lager zurück ihren Weg finden, viele auch in das bürgerliche, und nur ein kleiner Teil wird, als persönliche Anhänger, um Starck gruppiert bleiben. Über Starcks Zukunft selbst will ich mich nicht äußern, sie ist mir nur sehr problematisch. —
Schönpriesen, Grottau, Reichenberg...
Es gebricht mir leider an Raum, über die vorzüglichen Versammlungen in der Schiffverladergewerkschaft von Schönpriesen, über die Besprechung in Ober-Georgental und Grottau, die ich hatte, über die Versammlungen in Mariaschein und Reichenberg ausführlicher zu berichten. Überall gewann ich das Gefühl, daß es sich nur um ernste, eifrige Arbeit handelt und unsere Bewegung darauf einer großartigen und sehr erhebenden Zukunft unaufhaltsamen Fortschrittes entgegengeht. Was die einzelnen Kameraden anbetrifft, so sind sie fast durchwegs Männer von Selbstbewußtsein und Begeisterung. Ich bin ihnen allen sehr verpflichtet für all die Freundschaft, Bruderliebe und Gastgenossenschaft, die mir erwiesen wurde, und ich fühle mich veranlaßt, ihnen an dieser Stelle öffentlich zu danken.
Meinem Versprechen getreu, erhalten nun die Genossen von überall, die sich an dieser, meiner Agitationstour beteiligt haben, meine Abrechnung.
Aus: "Wohlstand für Alle", 1. Jahrgang, Nr. 18, 19, 20, 21, 24 (1908). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at. Die Zwischenüberschriften wurden von www.anarchismus.at eingefügt! Die Abrechnung konnte leider aus den Scans nicht sinnvoll aufgeschlüsselt werden.