Pierre Joseph Proudhon - Wesen und Bestimmung der Regierung (1849, Auszug)

Die Autorität ist (...) die erste soziale Idee des menschlichen Geschlechts gewesen. Die zweite hat darin bestanden, unmittelbar an der Abschaffung der Autorität zu arbeiten. Jeder will sich ihrer für seine Freiheit gegen die Freiheit anderer bedienen. Dies ist die Bestimmung und das Werk der Parteien.

Die Autorität war kaum in die Welt eingeführt, als sie auch der Gegenstand des allgemeinen Wettstreits wurde. Autorität, Regierung, Macht, Staat - diese Worte bezeichnen alle eine und dieselbe Sache. Jeder sieht darin das Mittel, seinesgleichen zu unterdrücken und auszubeuten. Absolutisten, Doktrinäre, Demagogen und Sozialisten richten unaufhörlich ihre Blicke auf die Autorität, wie gegen ihren einzigen Pol. (…)

...Regierungen und Parteien (sind) wechselseitig einander Ursache, Zweck und Mittel. Sie leben füreinander, ihre Bestimmung ist eine gemeinsame: die Völker fortwährend zur Emanzipation aufzurufen, ihre Tatkraft durch die Einschränkung ihrer Fähigkeiten zu wecken, ihren Geist zu bilden und sie fortwährend zum Fortschritt durch ihre Beschränkung und durch ihren berechneten Widerstand gegen alle Vorstellungen und Bedürfnisse vorwärtszustoßen. Du sollst dies nicht tun! Du sollst dich dessen enthalten! Die Regierung, welche Partei auch herrschte, hat niemals etwas anderes zu sagen gewußt. Seit dem Paradies ist das Verbot das Erziehungssystem des Menschengeschlechts. Ist jedoch der Mensch einmal mündig geworden, so müssen die Regierungen und Parteien verschwinden. Dieser Schluß erfolgt hier mit derselben logischen Strenge, mit derselben Notwendigkeit, mit welcher wir den Sozialismus aus dem Absolutismus, die Philosophie aus der Religion hervorgehen und die Gleichheit sich auf die Ungleichheit stützen sahen.

Wenn man auf dem Wege philosophischer Untersuchung von der Autorität, ihrem Prinzip, ihren Formen und Wirkungen sich Rechenschaft ablegen will, so erkennt man in der Einrichtung der geistlichen oder weltlichen Autorität in jeder Form und nach jedem Prinzip nichts anderes als einen vorbereiteten Organismus, der seinem Wesen nach durchaus schmarotzerisch und bestechlich ist, unfähig, irgendetwas anderes hervorzubringen als Tyrannei und Elend. Die Philosophie behauptet daher folgerichtig, im Gegensatz zu dem Glauben, daß die Einrichtung einer Autorität über ein Volk nur eine Übergangsform ist; daß die Staatsgewalt, weil sie keine Folgerung der Wissenschaft, sondern ein Produkt der Spontaneität ist, verschwindet, sowie sie erörtert wird. Weit entfernt also, mit der Zeit stärker zu werden und sich zu vergrößern, wie die eifersüchtigen Parteien behaupten, welche sich um sie streiten, muß sie sich unendlich reduzieren und in der industriellen Organisation aufgehen. Sie muß sich folglich nicht über, sondern unter der Gesellschaft befinden. Und die Philosophie dreht den Satz der Radikalen um und schließt: Die politische Revolution oder die Abschaffung der Autorität unter den Menschen ist der Zweck, die soziale Revolution ist das Mittel dazu.

Darum setzt der Philosoph hinzu, sind alle Parteien ohne Ausnahme, solange sie nach der Macht trachten, nur verschiedene Formen des Absolutismus, und es wird darum, solange keine Freiheit für die Bürger, keine Ordnung für die Gesellschaft, keine Vereinigung unter den Arbeitern geben, als bis in dem politischen Katechismus die Verzichtleistung auf die Autorität die Stelle des Glaubens an die Autorität eingenommen hat.

Keine Parteien mehr!
Keine Autorität mehr!
Absolute Freiheit des Menschen und Bürgers!

Auf diesen drei Sätzen beruht mein politisches und soziales Glaubensbekenntnis. (...)

Die Revolution durch die Initiative der Massen geschieht durch die Übereinstimmung der Bürger, durch die Erfahrung der Arbeiter, durch den Fortschritt und die Verbreitung der Aufklärung; sie ist die Revolution durch die Freiheit. Condorcet, Turgot, Robespierre suchten die Revolution von unten, die wahre Demokratie (…)

Saint-Simon, Fourier, Owen, Cabet, Louis Blanc, alles Anhänger der Organisation der Arbeit durch den Staat, mittels des Kapitals oder irgendeiner Autorität, rufen (...) nach der Revolution von oben. Anstatt das Volk zu lehren, sich selbst zu organisieren, statt an seine Erfahrung und Vernunft zu appellieren, begehren sie von ihm die Macht und Gewalt. Wodurch unterscheiden sie sich von den Despoten? Sie sind aber auch Utopisten, wie alle Despoten; diese verschwinden, und jene können nicht Wurzel fassen.

Es enthält einen Widerspruch in sich, daß die Regierung jemals revolutionär sein könne, und zwar aus dem ganz einfachen Grunde, weil sie Regierung ist. Die Gesellschaft allein, die von Intelligenz durchdrungene Masse, kann sich selbst revolutionieren, weil nur sie selbst ihre Spontaneität vernünftig entwickeln, das Geheimnis ihrer Bestimmung und ihres Ursprungs erklären und ausdrücken, ihren Glauben und ihre Philosophie verändern kann; schließlich, weil sie allein fähig ist, gegen ihren Schöpfer zu kämpfen und den eigenen Ertrag selbst zu produzieren. Die Regierungen sind die Geißeln Gottes, eingeführt, um die Welt in Zucht und Ordnung zu halten (…)

... Alle Revolutionen, seit der Salbung des ersten Königs bis zur Erklärung der Menschenrechte, sind frei durch die Spontaneität des Volkes vollzogen worden. Die Regierungen haben sie immer gehindert, unterdrückt und zu Boden geworfen. Sie haben niemals revolutioniert. Ihre Aufgabe ist es nicht, die Bewegungen hervorzubringen, sondern sie zurückzuhalten …

Die Tatsachen bestätigen hier die Theorie. Die freiesten Nationen sind diejenigen, bei denen die Staatsgewalt am wenigsten Einfluß und Macht besitzt, oder bei denen ihre Aufgabe am meisten beschränkt ist. Wir führen hier nur die Vereinigten Staaten von Amerika, die Schweiz, England und Holland an. Die unfreiesten Nationen dagegen sind diejenigen, wo die Staatsgewalt am meisten organisiert und am stärksten ist (…)

Die Kirche sagte ehemals wie eine zärtliche Mutter: Alles für das Volk, aber alles durch die Priester.
Die Monarchie ist nach der Kirche gekommen und hat gesagt: Alles für das Volk, aber alles durch den Fürsten.
Die Doktrinäre sagen: Alles für das Volk, aber alles durch die Bourgeoisie.
Die Radikalen haben nicht das Prinzip, sondern nur die Formel geändert: Alles für das Volk, aber alles durch den Staat.

Immer dieselbe Sucht, regiert zu werden, immer derselbe Kommunismus.

Wer wird endlich zu sagen wagen: Alles für das Volk und alles durch das Volk, selbst die Regierung. - Alles für das Volk: Landwirtschaft, Handel, Industrie, Philosophie, Polizei usw. Alles durch das Volk, Regierung und Religion, ebenso wie Ackerbau und Handel (…)

Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, hat irgend jemand gesagt, ist Diebstahl. Nun wohl! Die Regierung des Menschen durch den Menschen ist Sklaverei. Und jede Religion, welche mit dem Dogma der päpstlichen Autorität endigt, ist nichts anderes als die Anbetung des Menschen durch den Menschen, ist Götzendienst. (…)

Außer der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, außer der Regierung des Menschen durch den Menschen, außer der Anbetung des Menschen durch den Menschen haben wir noch: die Beurteilung des Menschen durch den Menschen; die Verdammung des Menschen durch den Menschen; und, um die Reihe zu beendigen, die Bestrafung des Menschen durch den Menschen!
Diese religiösen, politischen und gerichtlichen Institutionen, auf welche wir so stolz sind, welchen wir Ehrerbietung und Gehorsam bezeigen müssen, bis sie durch den Fortschritt der Zeit wie eine reife Frucht verwelken und abfallen, sind die Werkzeuge unserer Lehrzeiten, die sichtbaren Zeichen der Herrschaft des Instinktes über die Menschheit, schwache, aber nicht verunstaltete Reste der blutigen Gewohnheiten, welche die Jugend unseres Geschlechts bezeichnen. (…)

Die philosophische Vernunft verschmäht diese Vorstellungen von Wilden; sie ächtet diese übertriebenen Formen der menschlichen Ehrerbietung. Und doch ist sie nicht der Meinung der Radikalen und Doktrinäre, daß man zu dieser Reform vermittels der legislativen Staatsgewalt vorschreiben könne. Sie gibt nicht zu, daß jemand das Recht habe, für das Wohl des Volkes gegen seinen Willen zu sorgen, daß es erlaubt sei, eine Nation frei zu machen, welche regiert sein will. Die Philosophie schenkt nur denjenigen Reformen ihr Vertrauen, welche von dem freien Willen der Gesellschaften ausgegangen sind. Die einzigen Revolutionen, welche sie anerkennt, sind diejenigen, welche von der Initiative der Massen ausgehen. Sie leugnet absolut die revolutionäre Kompetenz der Regierungen.

Aus: Bekenntnisse eines Revolutionärs, um zur Geschichtsschreibung der Februarrevolution beizutragen. Herausgegeben von Günter Hillmann, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 18-23

Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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