Pierre-Joseph Proudhon - Das Prinzip der Föderation (1863) (Auszugsweise)
Wenn der Leser die vorangegangene Darlegung mit einiger Sorgfalt verfolgt hat, so muß ihm die menschliche Gesellschaft als eine phantastische Erfindung voller Überraschungen und Geheimnisse erscheinen. Wir wollen nochmals kurz die verschiedenen Begriffe wiederholen:
a) Die politische Ordnung ruht auf zwei miteinander verbundenen Prinzipien, die einander widersprechen und die nicht auf andere Begriffe zurückgeführt werden können: Autorität und Freiheit.
b) Aus diesen beiden Prinzipien sind gleichfalls zwei einander entgegengesetzte Regierungen abzuleiten: die absolutistische oder autoritäre Regierung und die freiheitliche Regierung.
c) Die Formen dieser beiden Regierungen sind untereinander ebenso verschieden und miteinander unverträglich und unversöhnlich wie ihre Natur selbst; wir haben sie durch zwei Worte charakterisiert: Unteilbarkeit und Trennung.
d) Nun lehrt uns die Vernunft, daß sich jede Existenz nach ihrem Gesetz hervorbringen muß: Die Logik ist die Voraussetzung für das Leben wie für den Gedanken. Gerade das Gegenteil offenbart sich jedoch in der Politik: weder Autorität noch Freiheit können sich gesondert begründen und ein System erzeugen, das ihnen ausschließlich eigen ist; im Gegenteil sind sie bei ihrer Verwirklichung dazu verdammt, stets bei dem anderen Anleihen zu machen.
e) Demzufolge existiert in der Politik die Prinzipientreue nur als Ideal, während die Praxis Kompromisse jeder Art eingeht. Daher ist, wenn man die Analyse bis zum Schluß durchführt, die Regierung trotz bestem Willen und aller erdenklichen Tugend nur ein Bastard, eine zweideutige Schöpfung, eine Promiskuität von Regierungsarten, die die strenge Logik von sich stößt und vor der Treu und Glauben zurückweichen. Keine Regierung entgeht diesem Widerspruch.
f) Schlußfolgerung: Da so die Willkür fatalerweise in die Politik eindringt, wird bald die Korruption zur Seele der Macht, und die Gesellschaft wird ohne Einhalt gnadenlos auf die nie endende abschüssige Bahn der Revolution getrieben.
Augenblicklich befindet sich die Welt in einem solchen Zustand. Dies ist nicht die Folge teuflischer Bosheit, der Gebrechlichkeit unserer Natur, des Fluchs der Vorsehung, der Laune des Zufalls oder eines Schicksalsschlags: Die Dinge sind nun einmal so, das ist alles. Es liegt an uns, aus dieser einzigartigen Situation das Beste zu machen ...
Da in der Theorie und in der Geschichte Autorität und Freiheit in einer Art Polarität aufeinanderfolgen;
da die erstere kaum merklich fällt und zurückgeht, während die zweite wächst und hervortritt;
da sich aus dieser doppelten Bewegung eine Art Unterordnung ergibt, kraft derer sich die Autorität mehr und mehr dem Recht der Freiheit beugt;
da, anders ausgedrückt, die freiheitliche oder auf Vertrag beruhende Regierung täglich neue Siege über die autoritäre Regierung davonträgt, müssen wir uns an die Idee des Vertrags als den beherrschenden Gedanken der Politik halten ...
Wenn der politische Vertrag der Bedingung entsprechen soll, ein beiderseitiger Vertrag und ein Tauschvertrag zu sein, so wie es die Idee der Demokratie erfordert, wenn er, sich in weisen Grenzen haltend, für alle vorteilhaft und bequem bleiben soll, dann muß der Bürger bei seinem Eintritt in diese Verbindung 1. vom Staate ebensoviel bekommen, wie er ihm opfert und 2. seine volle Freiheit, Souveränität und Initiative bewahren, wovon nur das abzustreichen ist, was sich auf den besonderen Gegenstand des Vertragsschlusses und der vom Staate geforderten Garantien bezieht. Auf diese Weise geordnet und aufgefaßt, bezeichne ich den politischen Vertrag als Föderation ...
Die Anomalien oder Störungen der Gesellschaftsordnung ergeben sich aus dem Antagonismus ihrer Prinzipien; sie verschwinden, sobald die Prinzipien so miteinander verknüpft werden, daß sie sich nicht schaden können.
Zwei Gewalten im Gleichgewicht erhalten, heißt sie einem Gesetz unterordnen, das beide, und zwar jeweils die eine durch die andere, in Schach hält und sie auf diese Weise in Übereinstimmung bringt.
Wer wird uns nun dieses neue Element bescheren, das Autorität und Freiheit übergeordnet ist und durch deren beiderseitige Zustimmung zur Dominanten des Systems erhoben wird? - Der Vertrag ist es, dessen Inhalt Recht erzeugt und der gleichmäßig den beiden rivalisierenden Mächten auferlegt wird ...
Die bei weitem mit mehr anregenden als ausführenden Befugnissen ausgestattete Zentralgewalt hat nur einen recht geringen Teil der öffentlichen Verwaltung inne, der die Dienste der Föderation betrifft; sie ist den Staaten unterstellt, die völlig ihr eigener Herr sind, und die in allem, was sie selbst betrifft, vollkommene Autorität in Legislative, Exekutive und Rechtsprechung haben. Die Unterordnung der Zentralgewalt ist um so stärker, als diese einer Versammlung anvertraut ist, die aus den Abgeordneten der Staaten gebildet ist. Häufig sind diese Abgeordneten selbst Mitglieder ihrer jeweiligen Regierungen und kontrollieren daher die Handlungen der Bundesversammlung nur um so eifersüchtiger und strenger.
Die Verlegenheit der Publizisten, die Massen in Schranken zu halten, war nicht weniger groß; die von ihnen verwandten Mittel waren ebenso illusorisch und das Ergebnis ebenso unglücklich. Auch das Volk ist eine der Gewalten des Staates, und zwar die, deren Ausbrüche am schrecklichsten sind. Diese Gewalt bedarf eines Gegengewichtes: Die Demokratie ist selbst gezwungen, das zuzugeben, ließ doch das Fehlen dieses Gegengewichtes, wodurch das Volk den gefährlichsten Aufreizungen ausgeliefert war und der Staat den fürchterlichsten Aufständen ausgesetzt wurde, in Frankreich zweimal die Republik stürzen.
Man glaubte, das Gegengewicht zur Bewegung der Massen in zwei Einrichtungen zu finden, wovon die eine das Land schwer belastet und voller Gefahren, die andere hingegen nicht weniger gefährlich, aber vor allem dem öffentlichen Gewissen peinlich ist: Es sind dies 1. das stehende Heer und 2. die Beschränkung des Stimmrechts.
Das Föderativsystem setzt dem Brodeln der Massen und jedem demagogischen Ehrgeiz und allen demagogischen Aufreizungen ein Ende: es ist das Ende der Herrschaft der Straße und des Triumphs der Tribunen ebenso wie der Anziehungskraft der Hauptstädte. Möge Paris innerhalb seiner Mauern Revolutionen machen: Was nützt es, wenn Lyon, Marseille, Toulouse, Bordeaux, Nantes, Rouen, Lille, Straßburg, Dijon usw., wenn die Departements, als eigene Herren, ihm nicht folgen? Paris wird die Zeche bezahlen... So wird die Föderation die Rettung des Volkes: Denn sie rettet es, indem sie es teilt, gleichzeitig vor der Tyrannei seiner Führer und vor seiner eigenen Torheit...
Die Idee der Föderation ist sicherlich die höchste Stufe, die der politische Geist bis jetzt erklommen hat. Sie überragt bei weitem die seit siebzig Jahren verkündeten französischen Verfassungen, trotz der Französischen Revolution, deren kurze Dauer unserem Lande so wenig zur Ehre gereicht hat. Sie löst alle Schwierigkeiten, die durch die Vereinigung der Freiheit mit der Autorität entstehen ...
Das XX. Jahrhundert wird die Ära der Föderation eröffnen, oder die Menschheit wird wieder durch ein tausendjähriges Fegefeuer gehen. Das wahre Problem, das es zu lösen gilt, ist in Wirklichkeit nicht das politische, sondern das wirtschaftliche Problem ...
So sind sich verblüffenderweise Zoologie, politische Ökonomie und Politik darin einig, uns folgendes zu sagen: Die erste sagt, daß das vollkommenste Tier, das durch seine Organe am besten ausgestattet und daher das aktivste, intelligenteste und zur Herrschaft geeignetste Tier das ist, dessen Fähigkeiten und Glieder am stärksten spezialisiert, am besten aneinandergereiht und aufeinander abgestimmt sind; - die zweite sagt, daß die produktivste, reichste und am besten gegen Auswüchse und Armut abgesicherte Gesellschaft die ist, in der die Arbeit am besten aufgeteilt ist, überall Wettbewerb herrscht, der Warenaustausch am ehrlichsten vollzogen wird, der Umlauf am regelmäßigsten ist, der Lohn der gerechteste ist, die Eigentumsverhältnisse am gleichartigsten sind und die Industriezweige sich gegenseitig am besten garantieren; - die dritte sagte endlich, daß die Regierung die freieste und sittlichste ist, in der die Gewalten am besten geteilt sind, die Verwaltung am weitesten aufgeteilt ist, die Unabhängigkeit der Gruppen am meisten geachtet wird und in der die zentrale Regierung den Behörden der Provinzen, Kantone und Städte am besten dient; mit einem Wort, es ist dies die föderative Regierung ...
Alle meine wirtschaftlichen Ideen, die ich seit fünfundzwanzig Jahren ausgearbeitet habe, lassen sich in diese drei Worte zusammenfassen: landwirtschaftlich-industrielle Föderation. Alle meine politischen Ideen lassen sich auf eine ähnliche Formel zurückführen: politische Föderation oder Dezentralisation. Und da ich aus meinen Ideen weder ein Parteienwerkzeug noch ein Mittel persönlichen Ehrgeizes mache, sind alle meine gegenwärtigen und zukünftigen Hoffnungen durch diesen dritten Satz ausgedrückt, der aus den beiden anderen folgt: fortschrittliche Föderation.
Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970.
Nach: Du Principe federatif et de la necessite de reconstituer la parti de la Revolution. 1863. Nach: P. J. Proudhon, Ausgewählte Texte. Herausgegeben von Thilo Ramm. Stuttgart 1963, S. 218 ff.
Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s
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