Kropotkin zum Gedenken
Am 9. Februar jährt sich zum 15. Male der Tag, an dem Peter Kropotkin in seinem Geburtslande starb — in Russland, das er erst mit der Revolution von 1917 wiedersehen sollte, nachdem ihn die Flucht aus der Peter-Paul-Festung, Sommer 1876, für vier Jahrzehnte ins Ausland geführt hatte.
Der staatssozialistische, zentral-autoritäre Charakter der bolschewistischen Revolution (vor dessen Gefahren selbst schon solche linke Marxisten wie z.B. R. Luxemburg, Ende 1918, gewarnt hatten), wie er sich mehr und mehr entwickelte, war wahrhaftig nicht das, was Kropotkin nach dem Sturz des Zarismus, 1917, als Mittel ansah für den Aufbau einer neuen Welt. Er musste es noch erleben, wie überall im Lande, — in Moskau, in Petersburg, in der Ukraine, die freiheitlich-sozialistischen Bewegungen durch die Bolschewiken entwaffnet und niedergeschlagen wurden.
Und einen Monat nach Kropotkins Tode gab der Staatssozialismus das demonstrative Beispiel seines Alleinherrschaftwillens: die Niederschlagung der Protestaktion der Kronstadtrevolutionäre, die mit dem Diktaturgebahren der parteipolitischen Komissare nicht einverstanden waren. Körperlich schwach und durch die Zensur u.a. geistig gebunden, konnte der hoch in den Siebzigern stehende Greis nicht mehr in den sozialen Tageskampf eingreifen.
Seine letzte Tätigkeit bestand in der Ausarbeitung einer Ethik, die nicht auf den Elementen der Staatsräson und des Kampfes aller gegen alle, sondern auf jenem Prinzip beruhte, das er in seiner Arbeit über die "Gegenseitige Hilfe in Tier- und Menschenwelt" als grössenteils wirksam nachgewiesen hatte: dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe. Vielleicht auch, das sei hierzu noch bemerkt, beruhte Kropotkins Zurückhaltung in dieser Zeit auf einer Hemmung, die ihm die Erkenntnis seiner so falschen Haltung zum Kriege 1914 verursachte. Damals war er für die Bekämpfung des Pangermanismus (Alldeutschentum), innerhalb der Entente, und ohne die für einen freiheitlichen Sozialisten grundlegende Bedingung, dass das bisherige Regime in diesen Ententeländern vollkommen, in der Richtung auf die soziale Gerechtigkeit hin, zunächst umgeändert werde.
Indessen, 14 Jahre nach seinem Tode vollzieht sich, im Gefolge des Widerstandes gegen eine faschistische Militärklique, in Spanien eine Revolution, die sich bemüht, jenen Sozialismus zu installieren, für den die Kämpfer des Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus bisher hauptsächlich nur in den Theorie gearbeitet und gestritten haben: den freiheitlichen Sozialismus.
Und eben in dieser neuen Revolution, die gegenüber jener des Staatssozialismus von 1917-18 dem internationalen Proletariat ein neues Beispiel geben soll, erhebt sich ein Problem, mit dem Kropotkin sich mit in erster Linie befasst hat: das Problem der Produktionssteigerung, als einer wichtigen Grundlage der absoluten Verbesserung des Lebensniveaus der arbeitenden Klassen, selbst dann, wenn die bisherigen parasitären Klassen abgeschafft sind. Die Gedanken hierüber hat er in England, nach seiner Entlassung aus dem französischen Gefängnis, ausgearbeitet, und in seinen Schriften: "Landwirtschaft, Industrie und Handwerk", "Eroberung des Brotes" u.a. niedergelegt.
Für Kropotkin, der um 1890 errechnete, dass, den ganzen Nationalreichtum Englands unter die Gesamtbevölkerung verteilt, dies pro Kopf und Tag 3 Schilling (in Russland nur 1 Sch.) in Geld ausgedrückte Konsummöglichkeiten ergäbe, war die Frage der Verwirklichung des Sozialismus ausser derjenigen der föderalistischen Organisation der Produzenten, eine Frage der Produktionssteigerung durch die verschiedenen wissenschaftlich—technischen Methoden, die speziell die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorgebrach hat: Elektrifizierung, künstliche Düngung, etc.
Es ist wahr, dass die neueste Entwicklung der Produktionskapazität, die im kapitalistischen System in der Industrie meist nur zu 70, 60 oder weniger Prozent ausgenutzt wird (und hierbei grossenteils noch zur Kriegsproduktion), ein etwas andres Ziffernbild betreffend der Konsummöglichkeiten ergeben wird. Wesentlich anders kann es nicht sein, da ja die seitherige "Emanzipation" der Kolonialvölker (im politischen Sinne) und andere Momente den Gesamtreichtum der europäischen "Mutterländer" schmälern. Diese Steigerung der, sagen wir, europäischen Produktionskapazität hat jedoch für das revolutionäre Spanien nur dann Wert, wenn sich die soziale Revolution nicht auf Spanien beschränkt, dessen industrieller Produktionsapparat bisher nur schwach mit ausländischem Kapital entwickelt wurde.
Die ländliche Konterrevolution im Frankreich von 1793 hatte ihren Grund darin, konstatiert Kropotkin, dass der Bauer seine Produkte nicht gegen wertlose Assignaten (Papiergeld) eintauschen wollte. So hungerte der Bauer die Stadt aus (wobei natürlich die Getreidespekulationen und Sabotagen der Bourgeois nicht zu vergessen sind), und tötete die Revolution. — Die zukünftige Revolution muss es sich zum Prinzip machen, statt irgendwelcher Luxusartikel etc. industriellen Güter zu erzeugen, die der Bauer braucht und die ihm fehlen. "Man wird nicht auf die Engländer warten, um diese Gegenstände von jenen gegen unseren Wein einzutauschen", schrieb Kropotkin in der "Eroberung des Brotes" in Erkenntnis der Erfahrungen von 1793, und diese Erfahrungen und Erkenntnisse haben auch ihre Bedeutung für den neuen ökonomischen Aufbau im revolutionären Spanien.
Darin können die internationalen Proletarier Spanien, wie in seiner Kriegsführung, helfen. Die beste Hilfe liegt natürlich in der Weitertragung der Revolution, — aber wo immer die revolutionären Einheiten dazu noch zu schwach sind, können sie auf eine andere Weise am aktiven Aufbau des freiheitlichen Sozialismus teilnehmen. Wie sie dem spanischen Arbeitsvolk in seiner Verteidigung gegen den Fachismus helfen, so werden sie ihm auch beim Neuaufbau der Wirtschaft helfen, damit Spanien es nicht nötig hat, Maschinen aus kapitalistischen Ländern zu beziehen, die in ihren Preisen 70 % über dem Weltmarktpreis stehen — wie das Russland 1920, 21 tun musste. Diese Ausplünderung war, nach der militärischen Einkreisung, ein Grund der Entwicklung Russlands zum zentralistischen Sozialismus — wenn auch nicht der Hauptgrund, der in der zentralistisch-marxistischen Einstellung der Bolschewiken lag. Die spanische Arbeiterschaft, die seit fast hundert Jahren ihre proletarisch-föderalistischen Traditionen hat, wird nicht dem Staatssozialismus verfallen. Der Name Kropotkin ist für die spanischen Anarcho-Syndikalisten nicht nur eine Angelegenheit der Strassenumbenennung.
Neben dieser Grundidee: der Steigerung des Lebensniveaus im allgemeinen, nicht allein durch die Erfassung des Mehrwertes, seine Liquidierung, sondern durch die Steigerung der Produktivität an sich — ist es vor allem die föderalistische Organisation der Gesellschaft, mit welchem Problem Kropotkin sich sowohl in seinen Studien über die französische Revolution als auch in seiner praktisch-propagandistischen Tätigkeit innerhalb der Internationalen-Arbeiter-Assoziation, seit 1876, im Schweizer Jura, in Belgien, in Frankreich befasst.
Gegenüber dem Prinzip der Diktatur von oben, der Zentralregierung, stellte er das Prinzip der Selbsttätigkeit der Kommunen, ihrer Autonomie, und dem politischen Parteiensystem mit seinen Parlamenten gegenüber entwickelte er die Idee der Organisation der Sozialen Revolution durch die wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiter selbst: "Da der Feind, dem wir den Krieg erklären, das Kapital ist, so haben wir unsere Kräfte gegen ihn zu wenden, ohne uns durch die künstliche Agitation der politischen Parteien abbringen zu lassen. Da der grosse Kampf, auf den wir uns vorbereiten, im wesentlichen ein wirtschaftlicher ist, so muss sich unsere Agitation auf dem wirtschaftlichen Gebiet abspielen. Stellen wir uns nur auf diesen Boden und wir werden sehen, wie die grosse Masse der Arbeiter zu unseren Reihen stossen wird, wie sie sich unter der Fahne des Arbeiterbundes sammeln wird."
Als Kropotkin, 1881, diese Zeilen schrieb, ging bereits der Zug in der europäischen Arbeiterbewegung auf die Gründung sozialdemokratischer Wahlparteien hin, der föderalistische Flügel der I. Internationale wurde immer schwächer, aber der Gedanke, dass die wirtschaftliche Befreiung das Ziel seines Kampfes ist und dass es durch die wirtschaftliche Organisierung der Arbeiter zu erreichen ist, dieser Gedanke Kropotkins und aller Kämpfer des freiheitlichen Sozialismus ist nie ganz untergegangen, und hat in der spanischen anarcho-syndikalistischen Bewegung seine erste grössere praktische Realisierung gefunden.
Aus: Die Soziale Revolution Nr. 5-6, 1937. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ä zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.