Michail Bakunin - Kapitalisten und Arbeiter
Das, was in der Nationalökonomie die Gleichheit zwischen Angebot und Nachfrage genannt wird, bedeutet noch nicht Gleichheit zwischen dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Gesetzt den Fall, ich wäre Fabrikant, und bräuchte hundert Arbeitskräfte, derer sich auch genau hundert bei mir vorstellen würden nur hundert, nicht mehr und nicht weniger, denn würden sich beispielsweise mehr bei mir einstellen, so würde ja das Angebot die Nachfrage übersteigen und demzufolge Ungleichheit zum offenbaren Schaden der Arbeiter eintreten, was sich in einem Fallen der Lohnskala ausdrücken würde. Da sich aber nur hundert bei mir vorgestellt haben, und ich, der Fabrikant, genau hundert brauche, so scheint auf den ersten Blick vollkommene Gleichheit vorzuwalten: Nachfrage und Angebot stehen sich in egaler Höhe gegenüber, folglich sind sie miteinander gleich. Hieraus wäre zu folgern, daß die Arbeiter von mir solchen Lohn und solche Arbeitsbedingungen heischen können, die ihnen eine wirkliche freie und menschenwürdige Existenz sichern. Nichts davon ist der Fall. Wenn ich, der Kapitalist, ihnen solchen Lohn und solche Arbeitsbedingungen einräumen würde, so würde ich nicht mehr als die anderen verdienen und dabei noch das gleiche Arbeitspensum zu entrichten haben. Da fragt sich doch wirklich, wieso ich dazu käme, ihnen die Vorteile meines Kapitals zu bieten! Soll ich mich selbst als Arbeiter mühen, so bringe ich lieber mein Kapital anderswo zum höchsten Zinsfuß unter und verdinge meine persönliche Arbeit beim ersten besten Kapitalisten geradeso wie diejenigen, die mich jetzt um Arbeitsgelegenheit angehen.
Wenn ich, mich auf die Initiativkraft meines Kapitals stützend, jene hundert Arbeiter beschäftigen will, so geschieht das nicht aus Mitleid zu ihrer Lage, oder aus Gerechtigkeitssinn und Menschenliebe — Kapitalisten sind nicht Philantropen, würden sie zu solchen, so müßten sie sich ruinieren — ich werde dabei nur von dem Gedanken geleitet, aus ihrer Arbeit soviel Nutzen zu ziehen, daß ich reich und gemächlich leben kann und zu gleicher Zeit auch mein liebes Kapital vermehre, ohne dabei selbst frohnen zu müssen. Natürlich werde ich ja auch arbeiten, aber anders als niedere Arbeiter. Meine Beschäftigung wird ganz anderer Natur und entschieden lukrativer sein, denn sie wird ja auf Verwaltung und Ausnützung der Arbeitskräfte gerichtet sein und nicht auf Produktion.
Aber ist denn Verwaltungsarbeit keine produktive Tätigkeit? Zweifellos ist sie es, denn ohne eine gute und intelligente Leitung würde der Hände Fleiß gar nichts oder wenig und schlecht produzieren. Doch sowohl vom Gerechtigkeits- wie vom Nützlichkeitsstand-punkte aus betrachtet ist es dadurch nicht notwendig, daß diese Tätigkeit in meinen Händen monopolisiert sei und vor allein, besser als der Händewerk entlohnt werde. Die Korporativgenossenschaften haben Beweise erbracht, daß Arbeiter sehr wohl durch aus eigener Mitte gewählte und al pari zur Handarbeit bezahlte Vertreter ihre industrielle Unternehmungen verwalten können. Wenn ich also die Verwaltungstätigkeit für meine eigene Person reserviere, so habe ich keineswegs das Allgemeinwohl im Auge, sondern das meinige, das Prinzip der größtmöglichen Ausnutzung. Als absoluter Herr meines Etablissements beziehe ich für meinen Arbeitstag zehn, zwanzig, ja wenn ich ein Großindustrieller bin, oft hundert Mal mehr als ich dem Arbeiter für den seinigen zahle und das trotzdem meine Arbeit unvergleichlich weniger ermüdend als die seinige ist.
„Doch", heißt es, „der Chef eines Etablissements hat sein Risiko, während der Arbeiter keines hat." Das stimmt nicht, denn auch in dieser Hinsicht ist aller Nachteil auf Seiten des Arbeiters. Der Industrieherr kann seine Geschäfte schlecht leiten, oder von der Konkurrenz übertrumpft werden, oder einer großen Handelskrisis oder einer unvorhergesehenen Katastrophe zum Opfer fallen. Kurz, er kann sich ruinieren. Dies sei zugegeben. Doch fragen wir vernünftigerweise, ist es wohl je gesehen, daß sich bürgerliche Industrielle so ruinierten und in solche Not kommen, daß sie mit Familie Hungers starben oder sich zu Taglöhnerarbeit erniedrigen mußten? Das trifft doch fast niemals, richtiger wäre gesagt, überhaupt niemals zu. Vor allen Dingen gehört es doch zu den seltensten Seltenheiten, daß ein offiziell ruinierter Industrieller nicht doch etwas aus dem Schiffbruch rettet. In unseren Zeiten sind ja alle Bankerotteure mehr oder minder besorgt, ihre Schäfchen im Voraus ins Trockene zu bringen. Doch selbst den unwahrscheinlichen Fall vorausgesetzt, daß er absolut nichts gerettet hat, verbleiben ihm immer noch seine Familienverbindungen und gesellschaftlichen Beziehungen und die Bildung, die er sich und seinen Kindern während des Nutzbrauches des verlorenen Kapitales zu verschaffen die Möglichkeit hatte. Alles dies gestattet ihm, sich und seine Sprößlinge in die Reihen des privilegierten Proletariats zu bugsieren, um als Staatsbeamter, Fabriksdirektor oder kaufmännischer Beamter ein um Vielfaches den Taglohn seiner ehemaligen Arbeiter übersteigendes Gehalt zu beziehen.
Das Risiko des Arbeiters ist unvergleichlich größer. So bleibt er nach dem Bankerott des Fabriksetablissements mehrere Tage und oft genug auch mehrere Wochen ohne Arbeit und das ist für ihn mehr als Ruin, es ist der Tod, denn was er während der Arbeit verdiente wurde auch alle Tage verzehrt. Die Ersparnisse des Arbeiters sind nichts weiter als eine Fabel, die von bürgerlichen Nationalökonomen erfunden wurde, um jede Anwandlung von Gerechtigkeitsgefühl oder ungelegener Gewissensbisse, im Keime zu ersticken. Natürlich ist dem Arbeiter selbst durch dieses Märchen nicht geholfen. Er weiß, was es kostet, den täglichen Unterhalt seiner Familie zu bestreiten. Hätte er Ersparnisse, so würde er nicht seine Kinderchen schon sechsjährig in die Fabriken schicken, um sie dort physisch und geistig verkümmern zu lassen.
Und wenn einmal der Ausnahmefall wirklich eintritt, daß der Arbeiter sich einen winzigen Geldbetrag vom Munde abgespart hat, so ist diese Quelle bald durch gar zu häufig im Proletarierleben auftretende Arbeitslosigkeit, Unglücksfälle und Krankheit erschöpft. Was bedeutet all das große Risiko, daß der Herr Fabriksherr mit seinem lieben Kapital läuft, im Vergleich zu einem Unglücksfall oder Krankheit in der Proletarierfamilie? Ist hier der Ernährer erkrankt oder verunglückt, so ist damit auch das ganze Kapital über das der Arbeiter verfügt, mit einem Schlage vernichtet, seine Arbeitskraft ist unterbunden. Eine längere Krankheit ist für ihn und seine Familie der totale Bankerott, der gänzliche Ruin der Hungertod.
Es ist also evident, daß ich als Kapitalist, wenn ich hundert Arbeiter brauche, diesen Arbeitern gegenüber in der vorteilhaftesten Lage bin. Ich schlage ihnen nichts anderes vor als sich ausnutzen zu lassen und, wenn ich ehrlich wäre, wovor ich mich natürlich bestens hüten muß, würde ich ihnen ungefähr folgendes sagen: „Seht mal, Jungens, hier habe ich ein Kapital, das von rechtswegen mir nichts einbringen dürfte, weil es eine tote Sache ist, die nichts produzieren kann, da nur Arbeit allein produktiv ist. Wenn die Sachen so ständen, könnte ich keinen weiteren Gebrauch von meinem Kapital machen, als unproduktiv zu verzehren, bis ich nichts übrig behalte. Doch dank unserer sozialen und politischen Einrichtungen steht es mit mir und meinem Kapital günstiger, denn unsere heutige Wirtschaftsordnung bestimmt, daß das Kapital „produktiv" sein soll; es bringt mir Zinsen. Wer eigentlich diese Zinsen liefert — und sie müssen doch von jemandem aufgebracht werden, da ja das Kapital an und für sich nichts produziert das geht euch nichts an. Es genügt auch zu wissen, daß ich Zinsen genieße. Diese Zinsen genügen für meine persönlichen Bedürfnisse nicht, denn ich bin kein so vulgärer Mensch wie euereins, der sich mit Wenigem zufrieden gäbe. Ich will gut leben, ein schönes Haus bewohnen, gut essen und noch besser trinken, in eigener Karosse ausfahren und mich in der feinen Gesellschaft bewegen, kurz an allen Lebensfreuden Anteil haben. Dann will ich auch meinen Söhnen eine herrschaftliche Erziehung geben und sie studieren lassen, damit sie eines Tages, wenn sie gebildeter sind als ihr, euch ebenso beherrschen können, wie ich das heute tue. Da nun aber die Bildung allein nicht genügt, will ich ihnen auch eine so große Erbschaft hinterlassen, daß jeder von ihnen ebensoviel Kapital besitzt, wie ich heute mein eigen nenne. Außer nach meinen persönlichen Genüssen strebe ich also auch nach Vermehrung meines heutigen Kapitales. Das kann ich nicht anders erreichen, als daß ich euch vorschlage, euch auf Grund meines Kapitales ausnutzen zu lassen. Ihr werdet arbeiten, ich werde alles einheimsen und für meine Rechnung verkaufen, doch sollt ihr soviel davon bekommen, daß ihr nicht Hungers sterbet und für mich weiter arbeiten könnt; wenn euch schließlich die Arbeitskraft ausgeht, so jage ich euch fort, und dinge mir andere. Wißt, daß ich euch den minimalsten Lohn zahle, den längsten Arbeitstag und die strengsten, schwersten Arbeitsbedingungen vorschreiben werde; nicht etwa aus Bosheit — ich habe ja ebensowenig Grund, euch zu hassen als euch Leiden zuzufügen — sondern aus Berechnung, um mich auf dem schnellsten Wege zu bereichern, denn je weniger ich euch zahle, und je mehr ihr arbeitet, desto größeren Nutzen habe ich."
Obiges sagt sich jeder Kapitalist, jeder Industrieller, jeder Arbeitgeber, der Arbeiter beschäftigen will.
November 1870
Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 8 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat, Michael Bakunin zu Michail Bakunin usw.) von www.anarchismus.at.