Max Nettlau - Russland und der Sozialismus

Wir sind alle neben den Sturmfluten russischer revolutionärer Ereignisse aufgewachsen. Alle erlebten die dritte Flut, die den Zarismus wegspülte, viele die zweite Flut von 1905, die ihn untergrub, und die Älteren den heroischen Ansturm der Jahre 1881, als damals wenigstens die äußere Spitze des russischen Machtgebäudes, der Zar, am 13. März 1881 von seinem Schicksal ereilt wurde. Ich sehe den Morgen darauf noch vor mir, als mich mein Vater mit den Worten weckte: Du schläfst noch - der Zar ist getötet, und ich wie aus einer Flinte geschossen aus dem Bett sprang und herumtanzte in reinster Freude. Er erzählte mir dann, wie 1855 bei der Nachricht vom Tod des Kaiser Nikolaus jedem ein Stein vom Herzen fiel, und aus der Revolutionsgeschichte wußte ich bald, welche Hoffnungen der Tod von Alexander I. in Rußland ausgelöst hatte, den Aufstand und bald den Märtyrertod oder dreißig Jahre Sibirien der Besten im Land, der Dekabristen von 1825.

Ebenso durchlebten wir Turgeniev und Dostojevski, Tolstoi und Gorki, Bakunin und Kropotkin und verehrten die zahllosen Opfer der Revolution, Sophie Perovskaia und alle andern. Wir kannten die russischen Genossen im Exil in allen guten Bewegungen, ernst und tüchtig, und das außerrussische Europa hatte Kropotkin die größere Hälfte seines Lebens, über vierzig Jahre, und Bakunin über fünfundzwanzig Jahre in vollster Tätigkeit in seiner Mitte.

Da ist es merkwürdig, daß das Bewußtsein, der Zarismus sei gestürzt und in dem weiten Rußland sei seit über dreizehn Jahren der Sozialismus im ausschließlichen Besitz der Macht, ja das Bewußtsein, daß überhaupt in einem Land der Sozialismus völlig freien Spielraum gewonnen hat, uns nicht zu jeder Stunde unendlich beglückt, daß wir nicht längst in dieses Land eilten, um selbst noch den ersehnten Sozialismus zu sehen, zu leben, uns ihm anzuschließen, da für Sozialisten die Worte gelten, daß Alles Allen gehört - Tout est a tous! wie Kropotkin schrieb - und die ganze Erde unser Vaterland ist (The world is my country, to do good is my religion - Die Welt ist mein Vaterland, Gutes zu tun ist meine Religion -, wie Unzählige mit Thomas Paine sagten). Warum tun wir das alles nicht, warum empfinden wir, daß Rußland in seinen jetzigen Formen uns so eisig und tödlich fremd und feindselig erscheint wie nur je das den Zaren willenlos gehorchende Rußland, und warum gilt unser einziger Gedanke den Opfern, die das neue Rußland wie das alte in erster Linie hervorzubringen weiß, so grausam und erbarmungslos heute wie damals und wie in den Tagen Iwans des Schrecklichen im sechszehnten Jahrhundert?

Ich weiß, daß viele sich über diese Dinge hinwegsetzen. So gibt es in den gänzlich der Plutokratie ausgelieferten Vereinigten Staaten viele, die sich freuen, daß wenigstens im fernen Rußland der Kapitalist an die Wand gedrückt wurde und nichts ist, und der Arbeiter, the underdog, alles. Sie würden gut daran tun, genauer zu beobachten und würden dann finden, daß vor allem in Rußland der Staat alles ist und der Arbeiter und Bauer machtlose Werkzeuge dieser Allmacht. Andere sagen mit vollendeter Herzenskälte, daß eine Revolution das alles so mit sich bringt; man kann keinen Eierkuchen machen ohne Eier zu zerschlagen oder, wie der so warmherzige Clemenceau von der französischen Revolution sagte: sie ist ein Block, ein Ganzes, dessen gute und schlechte Seiten man mit in den Kauf nehmen muß. Die so denken, würden unbedenklich in ihrem Wirkungskreis das gleiche tun und erheben sich nicht über den uralten Kult der Staatsraison; fällt ihnen irgendwo die geringste Macht in die Hände, so ist ihre erste und oberste Regel, ihre Macht mit allen Mitteln verteidigen zu lassen, das heißt: schießen zu lassen und einzusperren. Es soll auch noch naive Sentimentalisten geben, die der Gedanke einer sozialistischen Staatsordnung in Rußland so beglückt, daß sie wie balzende Auerhähne nicht hören und nicht sehen und einfach die Jahre hindurch so dahinschwärmen. Dann aber gibt es zahlreiche, die nie von einer freiheitlichen Sonne beschienen sind, über denen immer eine mächtige Parteifuchtel geschwungen wurde, verkümmerte Naturen (Opfer des Zwanges im Staat und in der Gesellschaft und der Freiheitsverleugnung im autoritären Sozialismus): für diese ist Haß und Verfolgung ein ihr Gemüt befriedigender und ausfüllender Zustand, für sie sind die G.P.U.-Vernichtungszüge, fascistische Strafexpeditionen, nationalistische Sturmkolonnen ein ersehntes Lebenselement und sie lechzen nach gleichartiger Betätigung; sie sind die geistigen Höhlenmenschen unserer Zeit, traurige Trümmer, Opfer der allseitigen raffinierten Züchtung autoritären Geistes, der gegenüber die humanitären und freiheitlichen Kräfte noch zu schwach waren, um sich durchzusetzen und diesen Wirrwahn aus den Köpfen zu vertreiben.

Noch eine kleine Kategorie freiheitlich gesinnter Sozialisten steht dem russischen Schauspiel mit nachsichtiger Sympathie gegenüber, - solche, die uns sagen, daß in der entscheidenden Zeit die russischen anarchistischen und syndikalistischen Elemente nicht wirklich leistungsfähig waren und unvorbereitet, unpraktisch und unter sich sehr verschiedener Meinungen. Die jetzt herrschende Richtung sei die relativ tüchtigste gewesen. Solche Männer beklagen die vorhandene Unduldsamkeit und Grausamkeit und suchen sie im einzelnen zu mildem, wenn sie können. Aber diese wohlmeinende Kategorie dringt nicht vor, sie wird im Gegenteil von den Machthabern, die von ihrer moralischen Unterstützung lange genug profitierten, diese aber nicht mehr nötig zu haben glauben, konsequent brüskiert und eliminiert, was auch das Versiegen solcher Sympathien zur allmählichen Folge haben muß.

Kropotkin in seiner ergreifendsten Schrift, den am 23. November 1920, wenige Monate vor seinem Tode hingeworfenen Worten, die seit 1922 veröffentlicht sind, war dazu gelangt, die ganzen Ereignisse und Entwicklungen mit einer ungeheuren Naturerscheinung zu vergleichen, der alles machtlos gegenübersteht wie einem Erdbeben, einem Wirbelsturm, einem Taifun (Wasserhose) und sein Trost war nur, daß die Kraft der Elemente sich immer erschöpft, daß jedem Wellenberg ein Wellental folgen muß, aber er sah damals die Zeit für irgendeine nicht wirkungslos verschallende Intervention noch nicht gekommen.

"...Ich sehe eines: - schrieb er in dieser tagebuchartigen Aufzeichnung - wir müssen Leute sammeln, die fähig sein werden, in jeder und in allen Partein konstruktive Arbeit zu leisten, nachdem die Revolution sich erschöpft hat. Wir Anarchisten müssen eine Gruppe ehrlicher, hingebender, nicht von Selbstüberhebung verzehrter arbeitender Anarchisten zusammenbringen. Und wenn ich jünger wäre und hunderte von Leuten aufsuchen könnte, natürlich auf die Weise, wie es nötig ist, wenn man Leute zu gemeinsamer Arbeit sammeln will..."

Auch dieser Rat - das beste, was damals zu sagen war; wurde er befolgt? - ist jetzt zehn Jahre später schon durch die Verhältnisse überholt. Denn selbst die ärgste Naturkatastrophe läßt ein Trümmerfeld zurück, ist aber dann für absehbare Zeit vorüber, während die russische Revolution als Menschenwerk künstlich und gewaltsam in einem dauernden Katastrophenzustand erhalten wurde und noch wird. Ein natürliches Feuer brennt aus; es wird künstlich verlängert, wenn man alles um sich niederreißt und dem Feuer zur Nahrung gibt. So warf Napoleon, nachdem er sich der französischen Revolution bemächtigt, jeden neuen Jahrgang wehrfähiger Franzosen und ihm dienstbarer Annektierter dem Krieg in den Rachen und hielt sich so bis 1814, 1815 sogar, und so wird alles an Menschen und Kultur- und Naturprodukten in Rußland-Sibirien seit dreizehn Jahren mit absolutester Rücksichtslosigkeit geopfert und verbraucht, um die Naturkatastrophe zu nähren, zu füttern, anzufachen - eine künstliche Verlängerung eines Erdbebens, sozusagen, die denn doch immer mehr zum Theaterstück mit einem künstlichen Effekt nach dem ändern wird , als zur Herstellung und Förderung irgendeiner natürlichen und lebensfähigen Wirklichkeit. Jedes Spektakelstück und Feuerwerk nimmt ein Ende, die tragikomischen Erneuerer des orientalischen Despotismus, die beiden Napeoleon und Mussolini nahmen ein Ende oder werden es bald nehmen und die der entsetzlichsten Einsamkeit und Vereinsamung verfallene russische Exrevolution wird es auch nehmen.

Denn das ganze Leben eines ungeheuren Landes in all seinen Erscheinungsformen und Äußerungen kann nicht dauernd im Rahmen eines einzigen Willens gelenkt werden; es stirbt ab und mit ihm wird auch der härteste Wille schwach und machtlos oder man nähert sich dem Zustand eines überheizten Kessels mit geschlossenem Ventil, einer Explosionskatastrophe, die desto ärger wird, je später sie erfolgt. Nie ist eine Revolution sinnloser verwüstet und dem Untergang entgegengeführt worden. Nie war auch eine Revolution in den Händen kleinerer Geister, die - ich meine die führenden Männer - einfach aus den Kreisen marxistischer Scholastiker kamen, ihr Leben durch viele Jahre mit rabulistischer Polemik untereinander vergeudet hatten und denen nun plötzlich die neue Macht in den Schoß fiel, die ihnen erlaubte, ihre Parteigegner nunmehr einzusperren, zu verbannen, erschießen zu lassen, also auf jeden Fall mit Gewalt zum Schweigen zu bringen. Diesen kleinen Männern folgten blindlings die vielen von ihnen zu einem parteifanatischen Sozialismus erzogenen Volkskräfte und gaben sich, sehr viele im besten Glauben, zu brutalen Werkzeugen her, durch die die feindlichen Parteirichtungen drangsaliert und schließlich physisch mundtot oder ganz tot gemacht wurden. So kam es, daß alle im März 1917 zur Erneuerung Rußlands erwachten Kräfte, die alle seit mehr als hundert Jahren für dieses Ziel mit unendlichen Opfern gearbeitet hatten, sich schon im November 1917 von zwei, vom Frühjahr 1918 ab von einer einzigen Partei despotisch beherrscht und als Feinde behandelt sahen - ein Verrat ohnegleichen der revolutionären und jeder menschlichen Solidarität, der dadurch nicht im geringsten entschuldigt wird, daß eventuell eine andere dieser Parteien in ihrem Interesse dasselbe getan hätte. Von einem solchen Gewaltakt ab ist eben die Revolution zu Ende und der nackte Despotismus herrscht. Dieser kann sich durch Raubbau und Zwang jeder Art erhalten und verlängern, aber das ist immer ein Krankheitszustand, der mehr Substanz und Kräfte des Organismus verbraucht, als ihm zugeführt werden können, der also geheilt werden muß und dadurch beendet, oder der ganze Organismus geht zugrunde.

Man kommt über diese Tatsache nicht hinweg und Einzelheiten zu diskutieren hat nicht viel mehr Sinn als zu erörtern, ob man auf einer Folterbank so oder so bequemer liegt; man will auf gar keiner Folterbank liegen. Der beständige Systemwechsel sollte auch dem Kurzsichtigsten gezeigt haben, daß die, die mit einigen Schlüssen, die Marx viele Jahre früher bei Beobachtung der englischen Textilindustrie gezogen hatte, glaubten im Besitz einzigartiger und höchster ökonomischer Weisheit zu sein, in Wirklichkeit gar nichts wußten und mit grenzenloser Frivolität bald dies, bald jenes dekretierten, bis die Fehlschläge sie dazu brachten, es mit einer anderen Methode zu versuchen. So wie jemand, der nicht richtig schreiben kann, manchmal auf Grammatik und Wörterbuch einen Zorn hat und sie in den Ofen steckt, so erschießen sie schon jetzt die Techniker, weil die Wirtschaft nicht geht. In all dem ist ein Zuwachs der Verfallserscheinungen, keine Besserung zu beobachten.

Denn alles scheitert daran, daß das von der Konsumption erforderte Maß schneller und tüchtiger landwirtschaftlicher und industrieller Produktion von den jeder mehr oder weniger zwangsweise an eine bestimmte Stelle gesetzten Arbeitern, Bauern und der ganzen Jugend eben nur mit Anspannung aller Kräfte, mit Müh und Not und im Zustand außergewöhnlicher Erregung geleistet werden kann - oder auch dies nur in begrenztem Grade, - abnormale Verhältnisse, die aus den einfachsten Arbeits- und Verbrauchsvorgängen Haupt- und Staatsaktionen machen, etwas, das auf die Dauer keinen Bestand haben kann, da es dem Leben von hundert Millionen jedes Gefühl von Ruhe und Sicherheit nimmt. Wir kennen dies aus der Kriegszeit, wo auch fast alles obrigkeitlich geregelt war und auf dem Papier klappte, während in Wirklichkeit lange Zeit die Ausnahme die Regel war und fast jeder eine Doppelexistenz führte und führen mußte, um nicht zu verhungern.

Wenn dies, das Zurückgreifen auf das wirkliche Leben mit seinen unerschöpflichen Möglichkeiten und die Benützung des von der Vergangenheit hinterlassenen unmöglich gemacht wird oder diese Hilfsmittel sich wirklich erschöpfen, dann bricht der auf dem Papier auskalkulierte Zustand zusammen, wie wir dies 1918 erlebten - die Leute wollen dann nicht mehr und werden furchtlos, weil sie nichts ärgeres mehr treffen kann. In Rußland werden in den letzten Jahren die Bauernmassen in enorm steigendem Umfang ihrer Hilfsmittel, die ihnen unter allen Verhältnissen als direkten Produzenten eine gewisse Möglichkeit eines persönlich differenzierten Lebensgenusses, einige Abwechslung und Aussichten, es sich etwas bequemer zu machen, boten, beraubt und in die landwirtschaftlichen Kollektivbetriebe gesteckt, in denen städtische Arbeiter, Jugend und Beamte als "Schrittmacher", Aufseher usw. ein Tempo in die Arbeit bringen, das den Bauern neu ist, außer etwa, wenn sie im eigenen Interesse arbeiten, was immer mehr eingeschränkt wird. Daneben scheinen rein staatliche Riesenfarmen angelegt zu werden, die mit maschinellem Großbetrieb Getreide produzieren, das den Wert der bäuerlichen Produktion noch mehr herabdrückt.

Als Resultat dieses materiell momentan erfolgreichen Vorgehens der Überführung der Bauern zu dem, was nach ihrem Gefühl Zwangsarbeit sein muß, wird von einem all diese Vorgänge seit Jahren intelligent schildernden Korrespondenten geschrieben (s. Neue Freie Presse, Wien, 1. November 1930): "...Die Bauernschaft ist zermürbt. Der Widerstand des vorigen Jahres hat nichts genutzt. Die Aufstände noch weniger. Alles, was energischen Widerstand leistete, ist aus den Dörfern entfernt worden, wurde standrechtlich erschossen oder verbannt. Der Bauer ist müde und sucht den Weg des geringsten Widerstandes, um leben zu können. So ist es möglich, daß in diesem Winter der letzte Rest der Einzelwirtschaft treibenden Bauern in die Kollektivwirtschaften eintreten wird. Sie haben sonst keine Existenzmöglichkeiten, keine persönlichen und wirtschaftlichen Perspektiven."

Es bleibe jedem überlassen, ob er diese Schilderung als einen Triumph oder eine Niederlage des jetzigen russischen Systems betrachten will. Die Bauernschaft ist zermürbt, sie fügt sich, sie sieht keinen andern Ausweg, keine Aussichten vor sich - begründet man so den Sozialismus oder trägt man ihn so zu Grabe? Begrüßt ihn der Mensch freudig als die höchste Errungenschaft oder gelangt er zu ihm wie das zusammengetriebene Schlachtvieh der amerikanischen Fleischfabriken, wo die Tiere zwischen immer enger werdenden Wänden vorwärtsgetrieben werden, bis dann jedes Einzeltier am Fuß gepackt, in die Höhe gerissen, den Schnitt durch die Kehle erhält und dann am laufenden Bande durch die Fabrik wandert, um als Fleisch, Wurst, Konserve, Dungstoff usw. zu enden. Einen solchen unfehlbaren Todesweg hat man in den letzten Jahren den russischen Bauernmillionen gewiesen, hat ihnen jeden Ausweg versperrt und sie wandern jetzt zermürbt ihrem Schicksal zu - das amerikanische Schwein in Chicago oder Omaha der Fleischfabrik, der russische Bauer der Getreidefabrik, hoffnungslos, zermürbt. So trieben die Knechte der Pharaonen die ägyptischen und äthiopischen Sklaven in Tausenden zum Steinschleppen für den Pyramidenbau, so mußten die Massen unterjochter Völker den Busento ableiten, um Alarichs Grab am Grund des Flusses zu graben, so erhält sich Stalin im Kreml, indem er die Bauern endlich zermürbt. Das ist orientalischer Despotismus und kein Sozialismus, wenigstens nach meinem Gefühl.

Wenn man sagt, daß dies im Interesse der etwa 5 Millionen Arbeiter geschieht, die 95 Millionen bäuerlicher Bevölkerung in Rußland gegenüberstehen, auch dann hat es keine moralische Rechtfertigung gefunden. Die Arbeiter waren ihrerseits die ersten Opfer der kommunistischen Diktatur, die ihnen jeden unabhängigen sozialistischen Willen, ihre Gewerkschaftsautonomie, ihre Genossenschaft nahm und sie so wie jetzt die Bauern und wie das amerikanische Schlachtvieh mit Absperrung aller Auswege in den Mechanismus der Staatsfabriken hineintrieb, wo sich ihr weiteres Leben am laufenden Bande abspielt. Sie wurden durch die vielartige Lohn- und Ernährungsskala untereinander gespalten und so knapp gehalten, daß die unmittelbare kleine Verbesserung ihrer Lage bei möglichst großem Parteigehorsam ihr Leben und Streben ausfüllt. Wir haben von ihnen in diesen vielen Jahren kein unabhängiges Wort gehört und allein aus der Zahl der Verfolgten, Gemaßregelten, Gefangenen, Verbannten, Getöteten und vielleicht, wie einst, im "illegalen" Leben Untertauchenden könnte man die wirkliche Stimmung Rußlands erfahren, wenn diese Zahl bekannt wäre. Das Verstummen ist so groß, daß auch eine gut informierte geheime oder ausländische Presse, die unter dem Zarismus so zahlreich war, nicht zu existieren scheint, sich wenigstens nicht hörbar macht, während beinahe alle sonstigen Informationen und Bücher über Rußland so gehalten sind, daß der selige Potemkin über ihre Unwahrheit erröten würde. Ich denke hier gar nicht an die direkt kommunistische Presse in allen Ländern, auf die so viel Mühe verwendet wird, der aber jeder nicht auf sie eingeschworene so gänzlich teilnahmslos gegenübersteht wie irgendeinem frommen Traktätchen oder einem Reklamezettel, die einem in die Hand gedrückt werden und auf die man nicht den Schatten eines Blickes verwendet.

Es ist traurig, daß es dahin gekommen ist und es wirkt selbstverständlich auf den ganzen Sozialismus in allen Ländern zurück, dessen sozialdemokratische Anhänger dadurch dem heutigen Staat, an den sie sich klammern, noch mehr in die Arme getrieben werden, als es ohnedies längst geschieht und dessen freiheitliche Anhänger nun in diesen diktatorischen Sozialisten mit ihrer wachsenden Verrohung und physischen Brutalisierung bösartigen Feinden gegenüberstehen, mit denen ein loyaler Ideenkampf schon ausgeschlossen ist, da jene angelernt sind, die Feinde Aller zu sein und nur ihren Moskauer Herren zu dienen. So ist auf ihrer Seite jede Solidarität verschwunden, während freiheitliche Sozialisten und Anarchisten, da sie natürlich nicht jenen gleichwerden wollen und noch immer Rücksicht geübt haben, in ihrer Verteidigung beschränkt sind und oft zusehen müssen, wie der Sozialismus, der im neunzehnten Jahrhundert der ganzen Welt so viel Achtung einflößte, nun diese Achtung verliert, indem das bolschewistische und, durch den alten Sozialisten Mussolini, auch das fascistische Regierungssystem aus ihm zu entfließen scheint. Ich sage scheint, weil sowenig der Fascismus wie der jetzige russische Despotismus anders als durch einige Persönlichkeiten mit dem Sozialismus irgendeine Verbindung haben.

Mögen die ersten Bolschewisten in ihrem dereinst von Engels, Kautsky und vielen andern gezüchteten Marxkultus verblendet geglaubt haben, die zur Alleinherrschaft im Sozialismus berufenen, einzigen richtigen Interpreten des Marxismus zu sein - ihre eigene Tätigkeit zeigte bald, daß sie bewußt waren, sich geirrt zu haben und sich seitdem darauf verlegten, tastende Versuche zu ihrer einfachen Selbsterhaltung zu machen - freilich dabei "mit dem Hammer philosophierend", das heißt in diesem Fall ihre neuen Versuche dem russischen Volk blutig einhämmernd. Von diesem Moment ab folgen sie nur dem Selbsterhaltungstrieb und sind eine untergehende Kaste, die zu immer grausameren Mitteln greift, um ihre Existenz zu verlängern. Indem sie nun nach den Arbeitern auch den Bauern die Lebensfreude unterbunden haben, sägten sie schon nicht mehr den Ast, sondern den ganzen Baum, auf dem sie sitzen, so an, daß er nicht mehr wird weder wachsen noch auch stehen können, und weitere Stützpunkte fehlen ihnen mit Ausnahme des letzten Mittels aller vor dem Nichts stehenden Regierungen - Krieg. Diesen Weg halten sie sich umso mehr offen, je mehr die andern Wege sich verschließen, grade so wie der 1905 getroffene Zarismus, den die Stolypinsche Schreckenszeit nicht mehr befestigen konnte, auf den Krieg zusteuerte und ihn auch zu unser aller Unglück in dem damals so unklugen Europa, das heute um nichts klüger geworden ist, 1914 erreichte.

Nie hätte ich gedacht, daß es einmal nötig werden würde, den Sozialismus, den irgend ein Land bei sich einführen würde, auch wenn er mit unseren persönlichen Idealen nicht übereinstimmt, so schroff zurückzuweisen, wie es in diesem Fall wirklich unvermeidlich ist. Immer waren wir bereit, die Autonomie, die lokale Eigenart, die anfänglichen Unvollkommenheiten, die unvermeidlichen Irrtümer und Fehler zu achten und Freude über und Solidarität mit dem guten Willen vor allem zu empfinden.

Aber hier wurde jede Solidarität zynisch gebrochen, und der Stolz der Lenin und Trotzki bestand darin, den Sozialismus der andern Richtungen wie beim Pferdehandel zu betrügen, nächtlich zu überfallen, zu entrechten, das Haus der Anarchisten mit Kanonen zusammenzuschießen, Kronstadt zu bombadieren, mit der Tscheka und jetzt der G.P.U. gegen Alle zu regieren. Von den sozialistischen Parteien, die vielleicht ihrerseits ähnlich usurpierend gehandelt hätten, abgesehen, bedeutete das sehr bald die Vernichtung des unabhängigen geistigen und moralischen Lebens Unzähliger, die als Heuchler leben müssen, das jetzige System anscheinend respektierend, oder sie müssen als stumme Hunde hungern und verhungern. So ist jedes menschliche Vertrauen im großen Land begraben - und kann die Zukunft besseres bringen, für die eine Jugend herangebildet wird, die entweder bereits Fanatiker einer uns noch unbekannten Menschenrasse sind - wie die jungen Fascisten -, oder, wenn sie sich verstellen, einen Haß in sich tragen, der ihr Gemüt verdüstern muß und einmal einen Ausbruch finden mag, vor dem uns schaudert?

All dem müßte der unabhängige freiheitliche Sozialismus eindrucksvoller entgegentreten, als in der Regel geschieht. Denn es ist eine furchtbare Tragödie und allzuviele trösten sich noch mit leichtherzigen Sprüchlein wie: es wird nicht so schlimm sein, es sind schließlich doch Sozialisten usw. Mussolini war auch ein Sozialist und auch da fehlen Leute nicht, die tröstend sagen: es sieht doch ganz ordentlich aus in Italien, es sitzen keine Bettler mehr herum usw. und auch der große George Bernard Shaw bewunderte Mussolini von diesem Gesichtspunkt aus. Nein, es ist wahrscheinlich alles noch schlimmer als man glauben möchte und zwei große Länder, Rußland und Italien, sind frevelhaft nun durch viele Jahre wie aus der Menschheit ausgeschaltet. Ebenso wurde durch die Kommunisten in jedem Land der Erde der Despotismus in den Sozialismus hineingetragen und hat ihn verfälscht und entartet. Irgend einen versöhnenden Ausweg gibt es da nicht und wir müssen es auf uns nehmen und tun es gern, unsere freiheitlich-sozialistischen Ideen desto lauter zu bekennen, klarer zu begründen und diesem vollständigen Sozialismus, der Freiheit und Solidarität vereint, den Weg zu bahnen.

Originaltext: Max Nettlau: Rußland und der Sozialismus; aus: „Die Internationale“, herausgegeben von der FAUD, Dezember 1930. Nachdruck in: Max Nettlau: Gesammelte Aufsätze, Band 1. Verlag die Freie Gesellschaft 1980. Gescannt von anarchismus.at


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