Johann Most - Nieder mit dem Stimmkasten!

Wenn die Despoten Europa's nicht ganz vernagelte, eigensinnige Tröpfe wären, und wenn die Parlamente der "alten Welt" nicht gleichfalls bis zur Blindheit im Herkommensdusel befangen sein würden, so hätten sie sich längst samt und sonders die Massen-Stimmkästnerei nach amerikanischem Schnitt zugelegt. Denn ein besseres System, die Volksmassen wie Tanzbären an der Nase herumzuziehen und denselben obendrein gleichzeitig alle Verantwortlichkeit für jede Schandtat und jeden Wahnwitz der Regierer höhnend aufzubürden, hätte der denkbar boshafteste Dämon auch nicht erfinden können.

Wer da glaubt, daß wir übertreiben, den machen wir auf folgende Punkte aufmerksam.

1. Je öfter gewählt wird und je zahlreicher die zu wählenden Funktionäre sind, desto weniger sind die Wähler im Stande, die zu Wählenden auch nur dem Namen nach zu kennen.

2. Je entschiedener das allgemeine Stimmrecht bei den Besetzungen aller erdenklichen Ämter etc. in Frage kommt, ein desto zahlreicheres und "geriebeneres Demagogentum von Ämterjägern beherrscht mehr und mehr das ganze öffentliche Leben".

3. Bei solcher Sachlage kann es nicht ausbleiben, daß nicht nur in den Reihen der Gewählten, sondern auch in denen der Wähler eine unausrottbare Korruption und damit eine allgemeine Charakterlosigkeit des Volkes einreißt.

Diese drei Punkte sollten allein schon genügen, alle edel denkenden Menschen, insbesondere aber die Widersacher der heutigen Gesellschaft - in allererster Linie jedoch die konsequenten Revolutionäre, die Anarchisten, von der Teilnahme an der Wählerei fernzuhalten.

Allein für diese, wie überhaupt für alle organisierten Arbeiter, kommen noch ganz andere Bedenken in Betracht.

Bei der Massenhaftigkeit der Kandidaturen und der damit verknüpften herkömmlichen Notwendigkeit, dieselben durch lauter redefähige Menschen, die obendrein eine Art "Berühmtheit“ aufzuweisen haben sollen, zu besetzen, kommen Arbeiterparteien selten in die Lage, aus ihrer Mitte heraus so viele dermaßen qualifizierte Personen herauszugreifen, als notwendig ist, um die üblichen "Tickets" auch nur einigermaßen annähernd auszufüllen. Es kann also selbstverständlich nicht ausbleiben, daß anderweite Personen als Kandidaten aufgestellt werden, was schon von vornherein eine prinzipgemäße Repräsentanz der betreffenden Wählerschaft mehr oder weniger ausschließt. Und da bei solcher Sachlage überhaupt in der Regel die Ämterjäger gar nicht erst gesucht zu werden brauchen, weil sich solche in großer Menge zu dem ausgesprochenen Zwecke, öffentliche Anstellungen zu erobern, in die Arbeiterparteien einschleichen und dieselben durch allen erdenklichen Schwindel über kurz oder lang total korrumpieren, so leidet das Proletariat nicht nur unter den eigentlichen Wahlkonsequenzen (Ausverkauf, Verrat etc.), sondern überhaupt, indem jene Kreaturen alle erdenklichen Kniffe in Anwendung bringen, um das ganze Parteileben in den engen Zirkel der Wahlwühlerei zu bannen und jedes weitergehende Streben auf Tritt und Schritt zu beeinträchtigen, wenn nicht gar gänzlich zu hintertreiben.

Wenn man das Geheimnis, weshalb die Arbeiterbewegung in Amerika so sehr im Argen liegt, zu ergründen sucht, so stößt man im Wesentlichen auf die vorbemerkten Umstände. Weil die an der Spitze von Arbeitervereinigungen stehenden sogenannten "Führer" vermöge der Wahlpolitik leicht in der Lage sind, gelegentlich jeder Wahl nicht unbeträchtliche Bestechungsgelder einzuheimsen, schlagen diese jämmerlichen Burschen nicht nur Jahr aus, Jahr ein die Wahlpauke, sondern sorgen auch dafür, daß etwaige anderweite Agitationen alsbald unterdrückt werden, so daß sozusagen eine prinzipielle Entwicklung dieser Arbeiterverbände gar nicht stattfindet und ein wahrhaft chinesischer Konservatismus sich ausbreitet.

Soll eine solche heillose Wirtschaft auch noch in jenen Proletarierkreisen einreißen, welche nach jahrelanger energischer Agitation den Einflüssen solcher Versumpfung entzogen worden sind? Ist es erhört, unter Aufgebot aller erdenklicher Redekünste die vom Wahlschwindel und der damit verknüpften politischen Stagnation Emanzipierten neuerdings aufs Eis der schiefen Ebene zu locken, welche auf dem Umweg über den Stimmkasten in den Abgrund allgemeiner Verlumpung führen muß?

Denkt man vollends daran, was da in Amerika alles gewählt wird, so steht einem ohnehin schon der Verstand still, falls man sich daneben vorstellen muß, daß Anarchisten sich dazu hergeben sollen, zur Einsetzung der betreffenden Personagen ihre Zustimmung zu geben.

Richter, Staatsanwälte, Henker, Polizisten etc. - solche Kerle, die unter allen Umständen nur den Zweck haben, die Menschheit zu schurigeln, soll ein Anarchist sich aufs Genick setzen? Er könnte sich ebenso gut selber ohrfeigen.

Freilich redet man uns vor, daß eben die besten Menschen zu wählen seien. Aber ach! etwas solches existiert ja gar nicht. Wirklich gute Menschen verzichten auf solche "Ehren" und halb und halb verdorbene Naturen werden im Amt vollends zu abgefeimten Schurken. Ich sollte denken, es gibt in dieser Beziehung Beispiele genug, welche beweisen, daß selbst in den Parlamenten Europas, wo die Versuchung nicht in solchem Maßstabe an die Erwählten herantritt, wie in den Verwaltungsämtern, sogar von Hause aus edel veranlagte Menschen mehr und mehr verlumpt sind. Was soll man da erst in Amerika erwarten - oder vielmehr, was hat man schon alles in Amerika in diesen Beziehungen erlebt?

Sind nicht im Laufe der letzten zehn Jahre in Amerika seitens der Arbeiterparteien schon mindestens 500 Arbeiterkandidaten für die verschiedenartigsten Verwaltungs- und Gesetzgebungsposten erwählt worden? Wie viele waren aber darunter, welche nicht eine ganz infame Rolle spielten? Sollen solche üblen Erfahrungen immer und immer wiederholt werden?

Hier stocken unsere Widersacher, die Stimmkästner, mit der Antwort. Aber sie lassen doch nicht locker und behaupten, man könne doch wenigstens in den Legislaturen manches schlechte Gesetz, das sonst zustande kommen würde, hintertreiben. Wir bestreiten das auch. Denn selbst in Europa ist man in dieser Beziehung über bloße Einbildungen und Behauptungen nicht hinausgekommen. Ein stichhaltiger Beweis ist für die Richtigkeit dieser Behauptung nicht zu erbringen, wie schon ein Blick auf die numerische Ohnmacht der sogenannten Arbeitervertreter in allen Gesetzgebungskörpern, wo sich solche bisher versuchten, hinlänglich dartut.

Ebenso steht es mit der stimmkastenmäßigen und repräsentativen Protestiererei der Arbeiter, von welcher neuerdings so viel gefackelt wird. Wer jemals in einer legislativen Quatschbude aus- und eingegangen ist, wird sich davon hinlänglich überzeugt haben, daß solche Protestierereien in den Wind hinein gesprochen sind.

Bleibt noch die angebliche Agitation, welche in Wahlzeiten angeblich getrieben werden kann. Damit ist es erst recht Essig.

Handelt es sich denn bei den Wahlklopffechtereien etwa um große gesellschaftliche Fragen, oder wird nicht vielmehr über allen erdenklichen untergeordneten Mist gequatscht, wie er gerade die Schädel der Pfahlbürger durchstinkt?

Ja, schon des unvermeidlichen Stimmenfanges wegen werden alle Kandidaten und deren Mitschwätzer - selbst wenn sie an und für sich keine Demagogen wären - veranlaßt, sich durch möglichst flaches Geschwätz in die Denkweise der Spießer hineinzuarbeiten und durch allerlei Kleinigkeitskrämereien deren Beifall zu erwerben. Von solchem saft- und kraftlosen Gegackel bis zu allen erdenklichen Kompromißlereien mit anderen Parteien ist nur ein kleiner Schritt - besonders in Amerika, wo die Versuchung in dieser Beziehung nahezu immer unwiderstehlich ist.

Statt eine revolutionäre Agitation in Wahlzeiten und vor Stimmnullen betreiben zu können, verwickelt man sich also nur immer entschiedener in Prinzipwidrigkeiten; und ehe es sich eine Arbeiterpartei, welche sich auf dieses Gebiet begibt, versieht, verwandelt sie sich unter solchen schlechten Einflüssen in eine breiige Masse, welche bald dieser, bald jener politische Lumpazius in beliebige Formen knetet. Die besseren Elemente scheiden sich schließlich aus und verzweifeln, angeekelt von solchen Verhältnissen, oft ganz und gar an der Menschheit; der Rest ist und bleibt gedankenloses Stimmvieh. Wir danken für solche Agitationsresultate.

Was aber sollen wir tun? So ruft man uns hämisch zu. Sollen wir vielleicht die Hände in den Schoß legen und mit aufgesperrtem Munde auf den Ausbruch der sozialen Revolution lauern? Wir haben die Antwort längst gegeben. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, die Dummheiten der Masse mitzumachen und die Schlechtigkeiten der Regierer direkt oder indirekt zu unterstützen, sondern in der unermüdlichen Ausbreitung unserer Ideen.

Unsere Partei ist nicht zugeschnitten auf Augenblickserfolge von mehr als zweifelhaftem Wert. Wir haben die Menschen unaufhörlich aufzureizen und sie, während sie unter solchem Ansporn die bestehenden Verhältnisse immer entschiedener hassen lernen, dahin zu belehren, was zu tun ist. Nicht Wahlmichel, sondern bewußte, denkende Soldaten der sozialen Revolution haben wir zu erziehen.

Das ist ein mühsames, aufreibendes Beginnen, sogar mit allen erdenklichen Gefahren verknüpft; allein die Lösung der sozialen Frage ist eben überhaupt kein Kinderspiel. Damm bleibt es bei unserer Parole: Nieder mit dem Stimmkasten!

Aus: Johann Most – Marxereien, Eseleien und der sanfte Heinrich. Verlag Büchse der Pandora, 1985. Zuerst erschienen in Mosts Zeitung „Freiheit“ am 24.3.1888. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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