Johann Most - Zwanzig Jahre im Kampfe
Zwanzig Bände "FREIHEIT" liegen vor uns, sozusagen zwanzig kondensierte und kristallisierte Jahre meines Lebens.
Man sagt, ich sei jetzt alt (sogar "veraltet" , meinen einige), und gibt mir einen "Tip", welcher sich mit "Verschwinden" übersetzen lassen könnte. Unsinn, sage ich. Ich bin noch lange nicht alt; ich bin bloß grau. Weshalb? Das könnt Ihr aus der heutigen Nummer ersehen. Ich fühle mich sonst noch ganz verflucht jung und hoffe noch manchen Strauß auszufechten, denn - das mögen sich meine Feinde und "Freunde" gesagt sein lassen - ich bin zäh wie Schafleder.
Und während ich diese Nummer der "FREIHEIT" (Nr. I, 21. Jahrgang) zur Presse bugsiere, fühle ich mich wie ein König, der eine Schlacht gewonnen hat oder, besser gesagt, wie ein Erfinder, dem ein durchschlagendes Experiment geglückt ist.
"Aus Nichts hat Gott die Welt erschaffen", sagt der Glaubenspinsel. Stimmt nicht! erwidert jeder Denker. Aber aus Nichts wurde tatsächlich die "FREIHEIT" auf die Welt gestampft. Sie wurde zwar nicht, wie (angeblich) Jesus Christus, in einem Stall geboren, wohl aber - mit Respekt zu melden - in einem Wirtshaus, wo die Mittel für die erste Nummer buchstäblich zusammengefochten wurden.
Sie war von Anfang an ein Franctireur - sie ist ein Zigeuner geblieben bis auf den heutigen Tag - sie ist stolz darauf.
Obgleich sie natürlich als "Baby" noch nicht so gescheit sein konnte, wie im Laufe ihres mit knapper Not immer weiter fortgesetzten Daseins, hat sie doch von Anfang an "Bilder herausgesteckt", die jedem Philister eine "Gänsehaut" bereiteten, jeden Bürokraten förmlich aus dem Häuschen trieben, tausende von Polizisten und Zivilspitzeln in Bewegung setzten, die schwarze Schandarmerie auf die Hintern warfen und den Demagogen aller Grade den Atem stocken machten. Und diese ihre Tendenz trat immer munterer zu Tage, denn sie entwickelte sich in dieser Beziehung "an Weisheit, wie an Alter."
Die Feder oder der Bleistift, womit die "FREIHEIT" von jeher geschrieben wurde - sie waren immer verflucht spitz und (wie manche sagen) giftig.
Man kann behaupten, die "FREIHEIT" war stets eine Pfaffenpeitsche, eine Schwefelsäure für Politikanten, ein spanisches Rohr für Kapitalisten und ein gespitzter Besenstiel für Demagogen. Daher die Feindschaft einerseits und die Freundschaft andererseits - je nach Qualität derer, die das Blatt in die Finger, resp. Pfoten bekamen.
So war die "FREIHEIT" - so ist sie - so wird sie bleiben. Man hat sie niemals biegen können, man versuchte auch bisher vergebens, sie zu brechen.
Ein kleines Blättchen! Ja, ja! aber doch ein David! - Tut's ihr doch einmal nach!
Die Schicksale der "FREIHEIT" findet der Leser auf den folgenden Seiten, wenn auch nur sehr skizzenhaft und reproduktionsweise verzeichnet.
Meine Absicht war es bekanntlich, eine etwas umfangreichere und splendid ausgestattete Jubiläumsnummer herauskommen zu lassen, aber - das alte Lied! - man mußte sich finanziell nach der Decke strecken.
Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn diese Nummer überhaupt ein anderer redigiert, resp. geschrieben hätte, denn es wird Leute geben, welche mir Selbstüberhebung und, wer weiß, was sonst noch nachreden; so wie aber die Dinge stehen, mußte ich wohl oder übel auch solchem voraussichtlichen Gekläffe trotzen und selber den Bleistift schwingen.
Dieser Umstand veranlaßt mich aber auch, im Nachstehenden einige Reflexionen hinzuwerfen, welche mir bei dieser Gelegenheit wohl gestattet werden können, weil sie mit der vorliegenden Sache aufs engste verknüpft sind und zum besseren Verständnis des Ganzen dienen dürften. Gleichzeitig sind mir dieselben ein Gefühlsbedürfnis. Ich will auch einmal so recht mein Herz ausschütten.
Manchem ist die "FREIHEIT" "zu radikal", Andere finden, daß sie "nicht scharf genug" gehalten sei. Dieser meint, früher wäre das Blatt viel "besser" gewesen, Jener begreift, daß es sich einfach ideell, wie literarisch mehr und mehr raffinierte. Letzteres scheint mir so ziemlich zu stimmen - mit Verlaub zu sagen! (Man darf doch wohl in eigener Sache auch eine Meinung haben).
Sozialdemokratisch geboren, wand sich das Blatt mehr und mehr zum sogenannten "Kollektivismus" durch, jenem Anarchismus, welcher noch Proudhon'sche Eierschalen von Tauschbanken und Arbeitsscheinen an sich haften hat. Hernach aber hielt es Schritt mit den kühnsten Philosophen und scharfsinnigsten Logikern des Anarchismus, wie sie in Kropotkin und Reclus ihre geistreichsten Repräsentanten gefunden haben. Und glücklich fühle ich mich, daß ich - allerdings nur ein einziges Mal - Gelegenheit hatte, beiden in's Auge zu schauen und ihnen die Hände zu schütteln. Sie sind meine kompetentesten Lehrer. Ich habe mich stets bemüht, ihr gelehriger Schüler zu sein und in deutscher Sprache zu verbreiten, was sie französisch und englisch dozierten.
Das sage ich nicht, weil ich ihr "blinder Anhänger" oder "Nachläufer" bin, sondern weil ihre Werke mich vollends auf jene Wege gelenkt, welche mich zur völligen Emanzipierung von allem Hergebrachten, von allen sozialpolitischen Vorurteilen und zu meiner Auffassung von Welt und Leben führten, welche mir einen inneren Ruhepunkt gewährt und in ihrer konsequenten und rücksichtslosen Logik jenen Halt und jene Kraft verschafften, deren ich zur Ausdauer im Kampfe um die höchsten Güter der Menschheit bedurfte.
Oft wird die Behauptung aufgestellt, ich prahlte fortwährend mit den "Opfern", welche ich hinsichtlich der Arbeiterbewegung im Allgemeinen und der "FREIHEIT" im Besonderen brachte. Ich möchte aber wirklich wissen, wo und wann das je geschehen sei.
Wenn ich erzähle, wie es mir schon da und dort erging und dabei einfach der Wahrheit die Ehre gebe, so ist das doch keine Prahlerei. Ich kann doch nicht sagen, ich hätte Kapaunen gegessen und dazu Champagner getrunken, wenn man mir bloß Hafergrütze mit Mäusedreck vorsetzte, wie im Londoner Gefängnis, oder es habe mich angenehm gekitzelt, so oft ich eiserne Manschetten an meinen Handgelenken fühlte. Damit prahle ich nicht und spreche auch von keinen Opfern.
Was ich in meinem ganzen Leben tat, das tat ich nach meinem eigenen Ermessen - so weit das nicht von irgendwelchen Feinden unmöglich gemacht wurde. Ich handelte also, wie ich wollte und war mir dabei stets bewußt, daß ich einfach die eventuell daraus erspriessenden Konsequenzen zu tragen hätte - habe sie auch stets ohne Murren getragen und keinen anderen dafür verantwortlich zu machen gesucht. Mithin ist die "Opfer"-Fackelei Quatsch.
Ferner heißt es manchmal, ich gerierte mich, und zwar namentlich in der "FREIHEIT", wie ein unfehlbarer Papst. Das kommt daher, daß ich mich nicht von jedem Hinz und Kunz hin- und herkommandieren lasse, wie ein pommer'scher Rekrut, sondern meine eigenen Wege so wandle, wie mir das mein eigener Kopf und meine jeweiligen Überzeugungen vorschreiben.
Dabei wurde noch stets, wenn jemand mit seinem Namen dafür eintrat und das betreffende Geschreibe überhaupt druckfähig war oder gemacht werden konnte, in tolerantester Weise auch solchen Meinungsäußerungen Raum und Verbreitung verschafft, mit denen ich nicht einverstanden war. Nur solches Zeug, das sicher niemand hätte lesen mögen, wurde zurückgewiesen. Wenn ich mir damit Feinde machte, so mußte ich das eben in den Kauf nehmen. Wäre ich umgekehrt vorgegangen, so würde ich förmlich die "FREIHEIT" in ein literarisches Kehrichtfaß verwandelt und deren Leser massenhaft von dannen gegrault haben. Ergo war auch meine diesbezügliche Haltung korrekt.
Dann wurde mir schon gesagt, ich hätte ein ganz besonderes Talent, meine besten Freunde vor den Kopf zu stoßen, was gar manche "FREIHEITS"-Artikel und Notizen bewiesen. Auch diesen Vorwurf kann ich nicht gelten lassen. Ich gebe gerne zu, daß ich sehr temperamentvoll bin und eine derbe Sprache führe, aber ich lasse mir auch keinen "kickenden Stiefel" gefallen, ohne rückhauend zu werden. Daher kann ich wohl erwarten, daß wirklich gute Freunde diese meine Eigenschaften, welche einmal von meinem Wesen natürlicher Weise überhaupt nicht zu trennen sind, mit in den Kauf nehmen.
Zu meiner Freude konnte ich auch gewahren, daß viele dementsprechend handelten. Als Beispiel führe ich hier meinen Freund Merten an, der ein Mitbegründer der "FREIHEIT" ist, und mit dem ich schon manche mündliche Rauhreiter-Attaque hatte, ohne daß darob innerhalb 20 Jahren jemals unsere Freundschaft getrübt worden wäre.
Andererseits aber mußte ich es erleben, daß Leute, welche mit mir 10 oder 12 Jahre lang sozusagen an einem Strange zogen und die mich mitunter mehr "vergötterten", als meiner Geschmacksrichtung zusagte, wegen eines einzigen in der Hitze des Gefechtes gefallenen scharfen Wortes mich "bis über das Grab hinaus" in Verschiß erklärten und so selbst die modernen Caligulas in den Schatten stellten, welche wenigstens die Beleidiger ihrer "Majestät" auf bestimmte Zeit bestrafen oder gar alsbald amnestieren. Ich muß offen gestehen, mir sind solche Dünnhäuter förmlich ein psychologisches Rätsel.
Aber was tun? Ich kann solche Geister doch nicht umkrempeln. Daß sie mich aus der Haut und in einen anderen Adam hineintreiben könnten, glaube ich erst recht nicht!
Wozu noch mehr solcher Andeutungen? Das Gesagte sollte genügen, um in jedem, der noch einen Funken objektiven Urteils sich bewahrte, die Erkenntnis zu erwecken, daß ich ein Recht habe hinsichtlich meines Tun und Lassens innerhalb und außerhalb der "FREIHEIT", wenigstens was den "Dolus" anbetrifft, für ein "Nichtschuldig" zu plädieren.
Schließlich fühle ich mich anläßlich der Feier des zwanzigjährigen Bestandes der "FREIHEIT" gedrungen, all' denjenigen, welche als Mitarbeiter, Unterstützer, Verbreiter, Agenten und Kolporteure derselben immer und immer wieder unter die Arme griffen und so mit vereinten Kräften dazu beitrugen, daß sie - allen Feinden zum Trutz und allen Freunden zum Nutz' - ihren zwanzigsten Geburtstag erleben konnte, meine innigste Anerkennung zu zollen und meinen herzlichsten Dank abzustatten.
Es wird einmal die Zeit kommen, wo man einsehen und würdigen wird, daß auch sie zu jenen gehörten, welche emsig bemüht waren, Bausteine herbeizuschleppen zur Errichtung eines freien Gesellschaftsgebäudes, in dessen Räumen kein Platz mehr ist für Menschenhaß und Zwietracht und wo nur Bruder- und Schwesternliebe walten, allgemeiner Wohlstand, Glück und Zufriedenheit heimisch sind.
Möge es der "FREIHEIT" gestattet sein, so lange zu existieren, bis diese ihre Strebensziele verwirklicht sind!
Aus: Johann Most – Marxereien, Eseleien und der sanfte Heinrich. Verlag Büchse der Pandora, 1985. Zuerst erschienen in Mosts Zeitung „Freiheit“ am 7.1.1899. Digitalisiert von www.anarchismus.at