Johann Most - Marxereien
In jüngster Zeit hat die Marxerei auf deutschem und amerikanischem Boden eine Gestalt angenommen, welche mehr als ekelhaft genannt werden muß. Nahezu in jeder Rede und in jedem Zeitungsartikel deutsch-sozialdemokratischer Tendenz wird dutzendmal betont, daß es mit dem Sozialismus rein Essig wäre, wenn Marx nicht den Sinai der Wissenschaft bestiegen und von da aus, unter der Obhut eines Engels, einen neuen Glauben verkündet hätte.
Dieses einfältige Gefackel, welches nachgerade lebhaft an jenen Unfug erinnert, den man viele Jahre hindurch mit Lassalle trieb, steht vor allem mit der modernen Auffassung der Kulurgeschichte, welcher Marx selber im höchsten Grade geneigt war, im Widerspruch.
Diese Geschichtsauffassung hat den ganzen Prophetenzauber und Erdengötterglanz auf deren wahre Werte reduziert und die großen Epochen in der Entwicklung des Menschengeschlechts auf mehr als bloße Tyrannen-Launen einerseits und Philosophen-Sprüche andererseits zurückgeführt. Sie schließt die Erkenntnis in sich, daß gute wie schlechte Taten nicht den individuellen Neigungen guter und böser Menschen geschuldet sind, sondern durchgängig einer ganzen Kette von Verhältnissen, aus denen erst jene Ideen reifen konnten, welche wiederum die betreffenden individuellen Akteure gewissermaßen als Werkzeuge benützten.
Wir schreiben hier nicht die Einleitung zu einer Kulturgeschichte und brauchen daher uns nicht in fernliegenderen Beispielen für die Nichtigkeit dieser Anschauung zu ergehen. Wie ungemein gründlich ein solcher Exemplifikations-Nachweis geliefert werden kann, das vermag jeder aus der fünfbändigen Einleitung zu einer Geschichte der englischen Zivilisation von Thomas Buckle am besten zu ersehen.
Wir haben es hier nur mit der neuesten Erscheinung auf dem Gebiete großer Ideen, mit dem Sozialismus, zu tun. Ist es, fragen wir, nicht im höchsten Grade lächerlich, diesen weltbewegenden Gedanken auf das individuelle Hirn eines Mannes zurückführen zu wollen? Wird mit einer solchen Unterstellung nicht der fortgeschritteneren Geschichtswissenschaft geradezu in's Antlitz geschlagen und dem alten, wissenschaftlich abgetanen Heilands-Kultus wieder auf die Beine zu helfen gesucht?
Es wäre traurig um den Sozialismus bestellt, wenn er zu seiner Existenzberechtigung nichts weiter aufzeigen könnte, als einige Bücher von Karl Marx; man müßte um seine Zukunft ernstlich besorgt sein, wenn sein Dasein bloß auf das basiert wäre, was Marx geschrieben hat; ja es wäre damit förmlich seine weitere Entwicklung ausgeschlossen; er wäre auf die Orthodoxie einer Schulmeinung reduziert und damit dem Dogma einer Kirchensekte gleichgestellt.
Glücklicherweise aber ist der Sozialismus älter und jünger als Marx. Er hat schon lange existiert, ehe Marx über ihn schrieb, und er ist seit Marx nicht in der läuternden Fortentwicklung stehen geblieben. Seine jüngste Blüte, der moderne Anarchismus, ist hervorgesprossen, ohne Marx und trotz Marx. Und daß dieselbe bei den strenggläubigen Marxisten bisher keinen Gefallen erweckt hat, beweist nur, daß diese Leute gerade vermöge ihrer Vermarxung unfähig geworden sind, ihre Ideen mit den sich verändernden Zeitverhältnissen zu modifizieren, zu klären und zu ergänzen.
Wenn wir im Vorstehenden gegenüber einer abgeschmackten Autoritätsreiterei und einer damit gegebenen Ideen-Verkleinerung eine ablehnende Stellung nehmen, so fällt uns gleichwohl nicht im Traume ein, die wirklichen Verdienste von Karl Marx abschwächen zu wollen.
Derselbe hat mehr als 30 Jahre seines Lebens darauf verwendet, um in zwei umfangreichen Bänden das kapitalistische System kritisch zu vernichten, ein Unternehmen, das ihm glänzend geglückt ist und ihm eine dauernde Stellung unter den unsterblichen Gelehrten ersten Ranges sichert. Dieses Werk ist aber wesentlich im Rahmen seines eigentlichen Zweckes - der Charakterisierung der privatkapitalistischen Produktionsweise - gehalten und befaßt sich, von wenigen bloßen Andeutungen abgesehen, mit positivem Sozialismus so gut wie gar nicht.
Marx wußte eben sehr wohl, daß alles, was er in dieser Beziehung sagen könnte, nur unter dem Eindruck der ihn umgebenden Verhältnisse geschehen könnte und mithin keinen dauernden Wert haben würde. Gerade deshalb ist es aber auch absurd, Marx als Begründer des modernen Sozialismus, ja als Fixer desselben für alle Länder und Zeiten hinstellen zu wollen, während derselbe sich lediglich als Kritiker des Bestehenden ausgezeichnet hat.
Frevelhaft indessen ist es, den Arbeitern förmlich einzureden, daß sie eigentlich so lange Schafsköpfe seien, bis sie Marx studierten. Frevelhaft schon deshalb, weil die Arbeiter, von ganz verschwindend vereinzelten Ausnahmen abgesehen, Marx gar nicht studieren können, weil eben derselbe in seiner Sprache sich ausdrückte, welche nur eine durch und durch literarisch geschulter Mensch mit Vorteil auf sich einwirken zu lassen vermag.
Es überkommt uns immer ein mitleidiges Lächeln, wenn wir jetzt die Sozialdemokraten überall vom wissenschaftlichen Sozialismus reden hören, „wie er von Karl Marx begründet wurde“: denn es steht bombenfest, daß die wenigsten dieser Leute je das Marx'sche Werk in Händen hatten, und daß unter diesen Wenigen wiederum keine fünf Prozent sich befinden, welche nicht nach der Durchlesung von ein paar dutzend Seiten die Hoffnung aufgaben, den Gegenstand ihrer Lektüre zu bemeistern.
Das Marx'sche Werk ist und bleibt ein Buch für Gelehrte. Wenn der Verfasser desselben den Zweck verfolgte, in diesen Kreisen Aufsehen zu erregen und Respekt einzuflößen, sowie das Ansehen des Kapitalismus zu erschüttern, so dürfte er denselben in einem ziemlich hohen Grade erreicht haben. Versprach er sich hingegen eine besonders starke agitatorische Wirkung innerhalb der Arbeiterbewegung von seiner Riesen-Abhandlung, so bewegte er sich in einem Irrtum. Weit und breit kennen die Arbeiter seinen Namen, nicht aber sein Werk. Wenn sie trotzdem merken, daß sie seitens der Kapitalisten um den größten Teil ihres Arbeitsertrages beschummelt werden, daß sie es sind, welche alle Reichtümer erzeugen, und daß die großen Kapitalisten ihre kleineren Mitausbeuter und die Reste des sogenannten Mittelstandes nach und nach aufzehren, bis schließlich nur noch Monster-Kapitalisten und Lohnsklaven existieren, so kommt das eben daher, daß diese Verhältnisse nachgerade mit Stiefelabsätzen zu greifen, d.h. verflucht einfach sind und sich zur allgemeinen Erkenntnis förmlich drängen.
Der Kapitalismus liefert seine schärfste Kritik in seinen Werken; er fordert die unter denselben Leidenden ganz von selbst heraus und hat so schon sicherlich hunderttausend Mal mehr Unzufriedenheit, die Mutter Rebellion, erzeugt, als alle gelehrten und ungelehrten Abhandlungen über ihn zu bewirken vermochten. Hieraus - nicht aus speziellen Büchern - ist auch der Sozialismus in allen seinen Abstufungen, vom Utopismus bis zum Anarchismus, hervorgegangen.
Aus unzähligen Quellen hervorsprudelnd, in Millionen Köpfen durchdacht und ebenso vielen Herzen empfunden, beständig diskutiert, geklärt, erläutert, ergänzt, entwickelt, ist er eine in ewigem Flusse befindliche Volkswissenschaft geworden, die einer besonderen Gelehrtheit nicht bedarf, die allen Versuchen der Doktrinäre, sie zu schablonisieren, trotzend, sich durch die mannigfaltigsten Zickzackwege des öffentlichen und privaten Lebens hindurchwindet, um schließlich mit geschichtlicher Notwendigkeit sich auf der breiten Heerstraße der sozialen Revolution, getragen von den Massen des Proletariats, zu einer allzerstörenden und neuschaffenden unwiderstehlichen Gewalt zu konzentrieren und nach einer vielseitigen und vieldeutigen Theorie die durch Möglichkeit und Bedarf diktierte Praxis zu erzwingen.
Die Entwicklungstheorie
Alles, was aus dem „Kapital" von Karl Marx auf eine Andeutung betreffs der künftigen (kommunistischen) Gesellschaft hinausläuft, ist die Hypothese, daß nach vollzogener hochgradiger Konzentration des Kapitals ein Umschlag insofern eintreten werde, als die Volksmassen das Kapital expropriieren. „Die Expropriateure werden expropriiert“. In dieser gelehrten Sentenz soll der ganze wissenschaftliche Sozialismus stecken. Genau genommen, enthält jedoch offenbar dieser Satz weiter nichts, als eine Mutmaßungs- oder Wahrscheinlichkeits-Prophetie.
Daß es bei diesem Umschlag der Dinge nicht so ganz ohne kräftige Nachhilfe der dabei interessierten Personen abgehen werde, leuchtete Marx auch ein, daher sagt er in diplomatischer Weise: „Die Gewalt ist die Geburtshelferin einer jeden alten Gesellschaft, welche mit einer neuen schwanger geht“. Hätte er sich weniger diplomatisch und mehr kerzengerade revolutionär ausgedrückt, so könnte seinem Andenken jetzt nicht seine eigene Tochter die Schande antun, davon zu faseln, daß der erwähnte Satz auch besagen könne, die Kapitalisten werden Gewalt anwenden.
Daß die Kapitalisten nicht Gewalt anwenden werden, um der Neugeburt der Gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen, sondern nur um eine solche zu verhindern, liegt zwar auf der Hand und macht mithin eine solche Auslegung von vornherein zu einer ebenso verkehrten, wie verwerflichen; allein eine deutlichere Sprache hätte eben selbst für seichte Blaustrümpfe und deren noch seichtere „Männer“ solche kläglichen Auslegungen unmöglich gemacht.
Ob das von den Kapitalisten losgelöste und in gemeinsames Eigentum verwandelte Kapital unter die Fittiche eines „Volks“ oder sonstigen Staates genommen oder in anarchistischer Weise zur Anwendung kommen mag? Diese Frage hat Marx gar nicht aufgeworfen; geschweige denn beantwortet. Wenn daher die heutigen Staats-Kommunisten in ihrer Regierungswut und Zentralisations-Schwärmerei sich ganz besonders mit der Marx'schen Autorität blähen, so deklarieren sie sich nur entweder als Ignoranten oder als bewußte Fälscher.
Sicher ist nur, daß die Marx'sche Mutmaßung, es werde der Kapitalskonzentration der Kommunismus folgen, und es werde dabei blutige Köpfe setzen, eine solche ist, welche einerseits die meiste Wahrscheinlichkeit für sich hat, die aber andererseits gerade deshalb nicht erst in dem Kopfe von Marx speziell zu reifen brauchte, weil sie sich in den Kämpfen zwischen Arm und Reich einfach einem jeden, der ernstlich an diesem Ringen sich beteiligt, ganz von selber aufdrängt.
Im Übrigen sind alle Theorien, welche über diese allgemeinen Annahmen hinsichtlich der künftigen Gestaltung der Dinge hinausgehen, ebenso sehr in den Bereich der Projektenmacherei zu verweisen oder als Utopismus zu deklarieren, wie irgendeine andere Detail-Zukunfts-Philosophie. Solcher utopistischen Faxen machen sich aber viele der angeblich wissenschaftlichen Sozialisten, welche wie Wichtelmännchen über dem Grabe ihres von ihnen nicht verstandenen Meisters tanzen, schuldig.
Die als Vorbedingung zum sozialen Umschlag angenommene Konzentration des Kapitals stellen sie sich vor, als ob sämtliche Güter der Erde buchstäblich erst auf einem einzigen Haufen liegen müßten, ehe das Volk Neigung verspüren könne, sich derselben zu bemächtigen. Aus diesem Grunde rufen diese Leute bei jedem kräftigeren Vorstoße des Proletariats im Chorus: Zurück, zurück, es ist noch zu früh; die Konzentration des Kapitals ist noch lange nicht weit genug gediehen!
Würden sich diese Buchstaben-Menschen von Zeit zu Zeit den Bücherstaub von der Brille wischen und mit nüchternem Verstände die Welt in ihrer Wirklichkeit betrachten, so könnten sie bemerken, daß die Konzentration des Kapitals bereits eine Zuspitzung erlangt hat, vor welcher es den Kapitalisten selber graut.
Die Massen-Produktion aller erdenklichen Dinge hat sich schon so sehr entwickelt, daß Millionen von Arbeitskräften permanent für „überflüssig“ erklärt werden, und daß die Erweiterung und Neuschöpfung kapitalistischer Anlagen vielfach unterlassen werden muß, weil kein Profit (die einzige Triebfeder der Kapitalisten) davon zu erwarten ist. Die früher unentwickelteren Länder, welche die wesentlichsten Absatzgebiete für großkapitalistisch erzeugte Waren vormals bildeten, erzeugen jetzt nicht nur größtenteils selber, was sie brauchen, sondern exportieren auch im größten Maßstab. Die alten Märkte sind überfüllt, neue können nicht gefunden werden. Die Summe der Arbeitslöhne bildet von Jahr zu Jahr einen geringeren Prozentsatz der Summe der von den Arbeitern erzeugten Werte. Die Kaufunfähigkeit der Volksmassen wächst mit dem zunehmenden Güterüberfluß, und es läßt dieses Verhältnis, welches früher nur periodisch in sogenannten Krisen sich besonders drückend fühlbar machte, in seiner jetzigen dauernden und sich stetig verschärfenden Form das ganze heutige Gesellschaftswesen als ein geradezu verrücktes erscheinen.
Der in der Kapitalskonzentration gegebene Faktor der Verbindung des gesellschaftlichen Umschlages hat also nachgerade mit solchem Hochdruck sich fühlbar gemacht, daß eine weitere Pressung des letzteren nicht mehr anregend, sondern eher niederschlagend wirken kann. Was daher jetzt erheischt ist, das ist der andere Faktor, die Geburtshelferin, die Gewalt. Diese zu haben, zu wecken, zu entflammen - das ist jetzt die Hauptaufgabe für die treibenden (agitatorischen) Kräfte des Proletariats, nicht ein hinhaltendes Theoretisieren.
Die kapitalistische Entwicklung allein schafft noch lange keinen Wandel, viel eher allgemeinen Ruin. Wenn es anders wäre, müßte England längst frei sein. Auf seinem Boden hat sich der Kapitalismus am frühzeitigsten und weitgehendsten entwickelt, sein Proletariat aber marschiert ganz munter oder vielmehr ganz träge um ein Vierteljahrhundert hinter der Arbeiterbewegung anderer Länder her und steht soeben im Begriffe, die Kinderschuhe des Sozialismus anzuprobieren.
Vermögens-Konzentrationen allein führen eben nicht so unbedingt, wie die Marxisten meinen, zu einem Umschlag. In der altrömischen Welt war der damalige Reichtum noch viel entschiedener konzentriert, als das heutige Kapital, nachdem aber die revolutionären Versuche, welche zu einer Bezwingung der Besitzenden gemacht wurden, zu schwach ausgefallen waren und in Fehlschlägen endeten, denen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung der Massen folgten, da nistete sich auf ein halbes Jahrtausend die Chineserei auf europäischem Boden ebenso entschieden ein, wie sie das längst zuvor schon in Asien getan hatte.
Der Cäsarismus organisierte das Almosenwesen und öffentliche Prunkveranstaltungen für die Massen und hielt dieselben im Übrigen mit eiserner Faust zu Boden. An den Anzeichen, daß der moderne Cäsarismus im Begriffe steht, seinen antiken Vorläufer, wie in allen anderen, so auch in diesen Beziehungen zu kopieren, fehlt es wahrlich nicht.
Bestimmte Verhältnisse drängen eben die Menschen zwar zu speziellem Handeln, erfolgt jedoch ein solches trotz alledem nicht, so bleibt alles beim Alten oder vielmehr es nimmt das Schlechte solche Grade an, daß schließlich jeder Gedanke an eine Besserung als Absurdität erscheint und jeder in pessimistischer Trägheit verharrt, bis endlich die Gesellschaft gleichsam in Verwesung übergeht und nur noch den Dünger abgibt, womit etwaige Eindringlinge aus bis dahin noch als barbarisch angesehenen Gegenden ihre Neuschöpfungen zu befruchten suchen, wie es seit der Zeit der Germanen mit den Resten der römischen Kultur trieben.
Baldige soziale Revolution oder schmachvollster Untergang - vor dieses Entweder-Oder sind die Europäer und Amerikaner gegenwärtig gestellt. Wer das nicht merkt, der kann kein scharfsinniger Geist sein. Wer das begreift und dennoch gegen die revolutionäre Propaganda eifert, erweist sich damit als charakterloser Schuft. Wer mit der Erkenntnis dieses Dilemmas den ehrlichen Willen und nötigen Opfermut verbindet, wird Revolutionär sein.
Die „Entdeckung“ des Mehrwertes
Jene Dinge, worauf sich die Marx-Eunuchen am meisten zu Gute tun, sind gerade die schwächsten und nebensächlichsten Dinge unter den Marx'schen Leistungen.
Da wird namentlich fortwährend davon gefaselt, Marx habe den Mehrwert „entdeckt“. Die meisten, welche diese Losung gedankenlos nachplappern, scheinen gar nicht zu wissen, daß diese Behauptung nicht bloß eine Aufschneiderei, sondern geradezu der reinste Unsinn ist.
Wenn man von einer Entdeckung des Mehrwertes redet, so ist das gerade so geistreich, als wenn man etwa von der Entdeckung des Wassers, der Luft, des Erdbodens und dergleichen sprechen wollte. Eine Sache, die von dem Augenblicke an, wo sie existierte, für jedermann auf der Hand lag, entdecken zu wollen - das ist schlimmer als ein Schnappen nach abgestandenen Gemeinplätzen.
Der Sklave des Altertums hat sich sicherlich niemals eingebildet, daß die Güter, welche sein Herr verpachtete, von diesem - dem Herren - erzeugt worden seien. Dem Bauern des Mittelalters ist es ebenso wenig je in den Sinn gekommen, zu glauben, daß das Korn, die Ochsen, Schweine oder Hühner, die er als Zehnt auf dem Schloß oder im Kloster ablieferte, der Graf oder der Prälat produziert habe, oder daß seine Hörigkeitsleistung eigentlich die Leistung seines Oberen sei. Der moderne Arbeiter aber befindet sich in keinem Falle dermaßen im Trane, daß er nicht merken könnte, wo der sogenannte Profit seines Ausbeuters herkommt.
Nicht die Unwissenheit in diesem Punkte ist es, welche dem Arbeiter bisher sein Joch ohne Murren tragen ließ, sondern der Mangel an Mut, der ihn davon abhielt, seinem Ausbeuter den Kragen umzudrehen.
Es gibt hinsichtlich des Bewußtseins, ausgebeutet - um den Mehrwert betrogen - zu werden, in der ganzen Arbeiterwelt keine Meinungsverschiedenheiten und hat wohl auch niemals solche gegeben. Dagegen sind die Proletarier insofern in zwei große Lager abgeteilt, als die einen jede Hoffnung auf eine Änderung des bestehenden Ausbeutungs- (Mehrwertstehlungs-) Systemes aufgegeben oder nie eine solche gehegt haben, während die anderen sich in der verschiedenartigsten Weise abmühen, dieser Räuberei ein Ende zu machen oder wenigstens dieselbe in engere Schranken zurückzudrängen.
Ob die Arbeiter sich die Muskeln von den Knochen sparen oder durch Speichelleckereien zu besser bezahlten Diensten sich empor zu schmeicheln trachten, um so die Mittel zur späteren Ausbeutung Anderer zu erlangen; ob sie Lohnkämpfe führen, sich in Produktivgenossenschaften versuchen oder Einfluß auf die Gesetzgebung sich verschaffen wollen; ob sie schließlich direkt auf eine soziale Revolution hinarbeiten, - ihre Motive zu solchem Vorgehen sind durchgängig die gleichen. Sie haben es satt, sich um den größten Teil ihrer Produkte von Nichtproduzenten bestehlen zu lassen, resp. für dieselben Mehrwert zu schaffen. Ihr gesunder Menschenverstand hat sie auf die eingeschlagenen Kampfesbahnen gedrängt und nicht die sagenhafte Wundererscheinung der „Entdeckung“ des Mehrwertes durch Karl Marx, von der sie wohl schwätzen gehört haben mögen, nicht aber wissen, was sie eigentlich vorstellen soll.
Aber nicht nur von den Instinkten des Volkes, sondern auch von der Wissenschaft war es längst vor Marx erkannt und konstatiert worden, daß einzig und allein die Arbeit Werte - also auch die Mehrwerte – schafft.
Wenn Proudhon ausruft: „Eigentum ist Diebstahl!“, so sagt er damit doch nichts anderes, als dass die Eigentümer ihr Besitztum gestohlen, mit anderen Worten, Werte sich angeeignet haben, die sie nicht erzeugten, Werte, die, verglichen mit dem, was sie den Produzenten (in Lohngestalt) zukommen ließen, ein Mehr vorstellten, kurzum Mehrwerte.
Hämisch bemerkte Marx, der nie einen Gott neben sich im Gelehrten-Olymp dulden wollte, zu dem Proudhon'schen Ausspruch: Das ist ein Plagiat; schon 200 Jahre früher hat dieser Satz in einer Broschüre gestanden. Umso schlimmer für den „Entdecker“ des Mehrwertes, fügen wir hinzu.
Indessen hat Marx nie selbst behauptet, daß er den Mehrwert „entdeckt“ habe. Diese alberne Entdeckungs-Geschichte ist erst nach seinem Tode von Engels erfunden und von Liebknecht aufgeschnappt und dogmatisiert worden, worauf dann die verschiedenen Agitations-Papageien mannweiblichen und weibmännlichen Geschlechtes diesen Quatsch durch die Vereins- und Versammlungs-Redereien schleiften und dabei so hochwichtige Gesichter schnitten wie römische Auguren, wenn die Hühner das Auspicien-Futter nicht fressen wollten, zu tun pflegten.
Marx hat in seinem Werke über das Kapital keine Mehrwert-Entdeckerei getrieben, sondern nur in einer sehr scharfsinnigen Weise, wir möchten sagen mathematisch auseinandergesetzt, wie das Kapital den Mehrwert der Arbeit abschwindelt; und gleichzeitig hat er jenen Professoren heimgeleuchtet, welche im Dienste und zu Gunsten der Bourgeoisie nie müde werden, diese Mehrwertstehlerei - nicht abzuleugnen, denn das geht eben nicht - , wohl aber zu beschönigen, zu bemänteln und zu rechtfertigen.
Mit dieser wissenschaftlichen Leistung von Marx sollten sich seine unwürdigen Jünger zufrieden geben. Wir haben an derselben nur das eine auszusetzen, daß sie ausschließlich von der Gelehrten-Aristokratie genossen und verdaut werden kann, für das Volk hingegen ein Buch mit sieben Siegeln ist.
Aus: Johann Most – Marxereien, Eseleien und der sanfte Heinrich. Verlag Büchse der Pandora, 1985. Zuerst erschienen in Mosts Zeitung „Freiheit“ am 22.1.1887. Digitalisiert von www.anarchismus.at