Johann Most - Lutherei
Am letzten Montag wurde zu Wittenberg eine ganz "schneidige" Fatzkiade aufgeführt, so eine Art Columberei in grün. Es handelte sich um die Eröffnung der renovierten Schloßkirche, an deren Portal am 31. Oktober 1517 Luther seine bekannten 95 Thesen heftete, welche nun, in Erztafeln graviert, an der nämlichen Stelle befestigt sind.
Daß anläßlich dieser Aufwärmung alten Kohles jene Elemente, deren wesentliches Geistesfutter solcher Stoff ist, Mucker, Junker und alte Weiber beiderlei Geschlechts, in Seligkeit zerschwammen, läßt sich schon begreifen, denn für solche Säugetiere kann es nichts Herrlicheres geben, als wenn der Begriff Altgebacken und der Begriff Neugebacken wie Gott Vater und Sohn zu einer "höheren" Einheit sich verfilzen. Daß aber auch Menschen, die angeblich einer eigentlichen Intelligenz sich erfreuen, wie z.B. viele Zeitungsschreiber vorgeben, diese Lutherei benützten, um daran Bemerkungen zu knüpfen, welche dazu paßten, wie eine Rosengirlande zu einer schmutzigen Sau; und daß zahllose Opfer dieser öffentlichen Meinungsmacher solches Kommentieren, Reflektieren und Dozieren verschluckten, ohne eine Miene zu verziehen, gerade als ob das so gebotene literarische Hasch mit den vorliegenden Tatsachen und dem gesunden Menschenverstand vereinbarlich wäre, - darüber möchte man förmlich in Weltschmerz zerfließen.
Dr. Martin Luther, großer Reformator, kühner Geisteskämpe, hochgelehrter Bibelfixer, riesenhafter Deutschverbesserer und Kulturmotor von Gottes Gnaden, wenn Du nicht getost hättest und wenn der Columbus nicht Amerika "entdeckt" hätte - wer weiß, die Erde drehte sich am Ende jetzt nach rückwärts.
Aber Spaß bei Seite - die Sache ist leider zu ernst -, nicht nur die Kreuzdummen und Grundschlechten, sondern auch die "Studierten" und Verbiedermannten schwören Stein und Bein darauf, daß Luther ein "großer Mann", ein Freiheitskämpfer, ein Epoche machender Kultur-Titane war, dem die ganze Menschheit ungemein viel Fortschritt zu verdanken habe. So verballhornt hat die meisten die Reformations-Legende, wie sie in die Weltgeschichte eingeschmuggelt und in hundert Variationen vorgetragen wurde.
Reformation - blutiger Hohn auf eine Narrenposse!
Die katholischen Pfaffen hatten es zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts gerade soweit gebracht, daß das Christentum, mit welchem sie selber schließlich nur noch Allotria trieben, weit und breit in Verschiß erklärt wurde. Versoffene, geile und unwissende Mönche betrugen sich dermaßen unflätig, daß sie oft den Kinderspott wider sich herausforderten. Der Respekt vor der Pfaffheit war auf den Gefrierpunkt gesunken und die Kirchen wurden mehr aus Jux, als aus einem anderen Grunde besucht. Man ging zu Predigt und Messe wie man heute etwa in's Theater geht, um eine Posse mit Gesang zu genießen. Noch ein Jahrhundert Entwicklung dieser Dinge und die ganze christliche Schweinerei hätte sich vollends in Gestank aufgelöst.
Da kamen diese Luthers, Calvins, Zwinglis und sonstigen Glaubenszeloten und wußten nichts Besseres zu tun, als diesen wirklich zivilisatorischen Fäulnisprozeß durch ihre "Verbesserungs"-Salbadereien zu unterbrechen. Der "Herrgott", aus welchem die katholischen Pfaffen schon längst die reinste Vogelscheuche gemacht, wurde von diesen Einfaltspinseln sozusagen wieder auf den Himmelsthron gesetzt und frisch eingeweiht. Der lustige Teil - das Theatralische - wurde aus den Kirchen verpönt und jene bocklederne Feierlichkeit, welche man heute noch in den protestantischen Gottesschafställen beobachten kann, wurde organisiert. Die Bibel mit all' ihren Widersprüchen und Verstand abmurksenden Quatschereien wurde dem Volk als beste Lektüre empfohlen und überhaupt alles aufgeboten, was nur immer denkbar war, das ehemalige bloße Religions-Vergnügen in eine finstere Büß- und Betfolterei zu verwandeln.
Man sollte denken, daß das Volk an solcher Änderung gar keinen Geschmack gefunden haben könne, und man irrt auch in dieser Hinsicht nicht. Die Luther und Kompagnie wußten sich aber zu helfen. Sie spannten, wo es nur immer angehen mochte, die weltliche Autorität vor ihre Herrgottskarren, und nur soweit ihnen das gelang, hatten sie mit ihrer Weltverfinsterung Erfolg.
Da ja dieser Umschwung in der religiösen Sphäre unter anderem seine Spitze gegen die Klöster und sonstigen Kirchengüter - die materiellen Machtmittel der katholischen Kirche - kehrte, so hatten die Fürsten, welche auf die Sache eingingen (und soweit das der Fall war, gingen sie eben nur aus diesem Grunde darauf ein), eine famose Gelegenheit, durch Aufhebung dieser Institutionen sich immens zu bereichern. Das war ein mächtiger Sporn zu einem diesbezüglichen Vorgehen. Die lieben Untertanen aber wurden einfach par ordre du Moufti in den Protestantismus hinein kommandiert.
Eine mächtige Beihilfe leistete auch dabei die schon damals in der Entwicklung begriffene Bourgeoisie. Da nämlich der Protestantismus mit den meisten außersonntäglichen Kirchenfesten aufräumte, so daß die betreffenden Tage in Arbeitstage verwandelt wurden, so bedeutete das für sie wenigstens 40 - 50 Tage im Jahre, an denen sie ihre Arbeitskräfte, die unter dem Katholizismus an solchen Tagen in Ruhe gelassen wurden, abrackern konnte.
Die "Reformatoren" begriffen alles dieses auch sehr wohl und es ist notorisch, daß sie fest auf Seiten der herrschenden Klasse standen und für das Volk nichts übrig hatten, als einen göttlichen Donnerkeil und die Drohung mit der weltlichen Zuchtrute. Am niederträchtigsten gebärdete sich in dieser Beziehung gerade Luther, der Ober-"Reformator."
Der deutsche Bauernkrieg, welcher nicht, wie manche glauben, ein indirekter Ausfluß der "Reformation" war, sondern sich vielmehr wesentlich deshalb so stark entwickeln konnte, weil das Ansehen der weltlichen wie geistlichen Autorität zu jener Zeit außerordentlich - und nicht zu wenig vermöge des verlotterten Zustandes der Pfaffheit - erschüttert war, sodaß sich die unterjochten Massen daran wagten, das verhaßte Joch mit vereinten Kräften zu zerbrechen, ist vielleicht gerade deshalb ein Fehlschlag geworden, weil die geschwollenen "Reformatoren" - allen voran Luther - ärger gegen die damaligen wahren Reformatoren, die aufständischen Bauern, hetzten und wühlten, als irgend ein ordnungsbestialischer Zeitungspfaffe unserer Tage je wider die Anarchisten und sonstigen Sozialisten zu tun wagte.
Bedenkt man vollends, zu welch' einer Reihe von Kriegen - man erinnere sich nur allein an den dreißigjährigen Krieg, welcher halb Europa an den Rand des Abgrundes brachte - der "Reformations"-Rummel, dieser höhere Wahnwitz, geführt hat, und welch' eine wütende katholische Reaktion mit ihren berüchtigten Ketzer-Verfolgungen durch denselben provoziert wurde, so wird man zugeben müssen, daß vielleicht nichts während des ganzen Verlaufes der sogenannten historischen Epoche der Menschheit so viel Unheil in die Welt gebracht hat, als die viel gepriesene "Reformation".
Man verdammt einen Dschingiskhan wegen seiner Massenmördereien in Asien, einen Attila wegen seiner Verheerungszüge in Europa, die römischen Cäsaren wegen der von ihnen verursachten Blutbäder, es ist aber noch sehr die Frage, ob nicht einem Luther und dessen Mitzeloten die intellektuelle Urheberschaft von mehr Blutvergießen zuzuschreiben ist, als von allen jenen scheußlichen Tyrannen zusammen genommen verübt wurde.
Man könnte über das alles hinwegsehen, wenn wenigstens im Großen und Ganzen ein vernünftiger Zweck, irgend ein Fortschritt erreicht worden wäre, wenn es sich wirklich um eine Reformation und nicht lediglich um eine - sagen wir es nur gerade heraus - intellektuelle Reaktion gehandelt hätte.
Jawohl, eine Reaktion bewerkstelligten die Luther und Konsorten - nichts weiter. Denn was da an wirklichem Fortschritt seit vier Jahrhunderten in die Welt kam, es steht wahrlich nicht im Mindesten im Zusammenhang mit der protestantischen Religionsmisere; es hat sich größtenteils unter dem heftigsten Widerspruche der Mucker aller Länder vollzogen.
Vor allem wurde durch die "Reformation" der Katholizismus zu neuer Energie und einer gewissen inneren Reinigung angeregt. Die katholische Kirche hat ungeachtet ihrer Verluste an "Seelen" nach der "Reformation" eine festere Position eingenommen, als je zuvor; sie wäre ohne die "Reformation", wie gesagt, in ihrem eigenen Unrat bald verfault und heute gäbe es vielleicht wenigstens keine Gottespest mehr in der Welt - konsequenter Weise wohl auch keine politische und soziale Tyrannei, denn nur religionsdurchseuchte Menschen - Kirchenschafe, denen die in's Gehirn geprägten Glaubenssätze die Fähigkeit zu logischem Denken raubte und die auf ein "besseres Jenseits" nach des Erdendaseins Last und Mühe hoffen, können bereit sein, sich einer solchen Behandlung zu fügen, wie sie bisher die Volksmassen zu ertragen hatten.
Betrachtet man die Sache von diesem Standpunkt aus, so kann man es freilich begreifen, daß Kerle, wie Fatzke, für Luther und die "Reformation" nicht wenig Anerkennung übrig haben. Ohne diesen Hexensabbat hirnverbrannter Finsterlinge wäre ja am Ende gar kein Feld mehr da, auf dem sich Kaiserlinge und sonstige Fossile tummeln können.
Wenn man aber Arbeiter, oft genug mehr oder weniger freisinnige Arbeiter von der "Reformation" als einer Fortschritts-Sache und von Luther als einem Bahnbrecher freiheitlicher Entwicklung reden hört, so wünscht man sich einfach einen "Nürnberger Trichter", um den fraglichen Gehirnen den nötigen Spiritus zuführen zu können. Solches gibt es leider nicht, aber sagen kann man, was in der Welt vorging und wie man daran ist. Deshalb müssen solche Artikel von Zeit zu Zeit geschrieben werden.
Wir respektieren einmal keine Götzen, wir reißen jeden Herrgott herunter in den Staub, wohin er gehört; weshalb sollen wir dann Teufel a la Luther schonen?
Freilich, der Kerl ist tot und begraben, aber das Andenken an ihn ist noch da; das muß man auszumerzen suchen. Sein unheilvolles Wirken macht sich noch täglich geltend, dem muß man entgegen operieren.
Nieder mit dem Protestantismus, wie mit dem Katholizismus! Nieder mit allem Gottesspuk und jeder Muckerei! Diese Devisen dürfen nicht vergessen werden in dem Kampfe des Proletariats gegen alles, was der Erringung voller Freiheit und ganzer Gleichheit im Wege steht.
Umso energischer müssen diejenigen, welchen das einleuchtet, in dieser Hinsicht vorwärts schreiten, als es in gewissen Kreisen sozialistelnder Auchreformatoren Mode wurde, die Religion samt allem, was damit zusammen hängt, fein säuberlich als unantastbar zu betrachten.
An die Theorie, wonach dieses Element von Ureselei von selbst verschwinden werde, mag glauben, wer da will, wir glauben gar nichts. Systematisch wie der Religionsmist in die Schädel gestopft wurde, muß er wieder daraus entfernt werden.
Nichts ist absurder, als anzunehmen, daß gerade die größte, die religiöse Dummheit geschont werden könne, und daß die Aufklärung lediglich politisch und sozial zu betreiben sei. Als ob ein Mensch, für den drei mal Eins Eins ist (Dreifaltigkeitslehre), ein Mensch, der sich einbildet, seine Seele werde dereinst irgendwo aus seinem Leibe fahren und sich ewig amüsieren etc., geeignet wäre, Dinge zu begreifen, die man nur verstehen kann, wenn man seine fünf Sinne beisammen hat!
Es werden seitens der Pfaffen aller Sorten jetzt Anstrengungen gemacht, eine Art Sozialismus mit der Religionspinselei zu verquicken; das sollte zu denken geben. Diese Nachteulen sehen ein, daß das Proletariat ihren Händen entschlüpft, wenn es den Star von anderer Seite gestochen bekommt, daher diese Heuchelei. Dem muß mit Geschick und Umsicht entgegen gearbeitet werden. Da gibt es kein Ausweichen, keinen Eiertanz. Rücksichtslos muß man die Kutten und Talare dem Pfaffengeschmeiß vom Leibe reißen, auf daß seine Blößen sichtbar werden. Machen Könige und Kaiser in Lutherei, so ist es an uns, der pfäffischen Luderwirtschaft den Krieg bis aufs Messer zu erklären.
Wir können nicht unsere Geschosse gegen Schloß und Börse schleudern und die Kirchen mit Respekt umgehen. Jeder Kirchturm, der in unserem Gesichtskreis sichtbar wird, sollte uns daran gemahnen, daß es noch allenthalben Institute gibt, deren Zweck Verstandesmord bedeutet.
"Ohne Religion kann das Volk das Elend nicht ertragen, in dem es lebt, es rebelliert." So sagte einmal Windthorst, der schlaue Mephisto, im deutschen Reichstag. Das stimmt ohne Zweifel. Deshalb rufen wir in die Welt hinein: Nieder mit den Pfaffen! Heraus mit der Religion aus den Köpfen!
Aus: Johann Most – Marxereien, Eseleien und der sanfte Heinrich. Verlag Büchse der Pandora, 1985. Zuerst erschienen in Mosts Zeitung „Freiheit“ am 5.11.1892. Digitalisiert von www.anarchismus.at