Johann Most - Der Kartätschenprinz

Der Tag des 18. März ist angebrochen, der König und Lehmann sitzen im altertümlichen Saale des Schlosses, vor dem das Volk sich sammelt, um dem Könige begreiflich zu machen, daß es nicht länger am Narrenseile sich führen lassen wolle. Ein Zittern und Zagen ist über den König gekommen, Lehmann aber kaut finster am Schnurrbart.

"Wie weh wird mir," sagt melancholisch der König mit Heine, die zitternde Hand nach dem Pokale streckend.

"Für das Vaterland zu sterben, ist süß, Du Memme," knurrte Lehmann verächtlich, während er mit dem Säbel rasselte, "wir werden dreinhauen."

Der König bekreuzigte sich und stürzte erblassend den Wein in den stets dürstenden Hals. "Und wenn sie dich hauen - wenn sie mich hauen? - Wie heißt? Ich werde den Hut ziehen und werde tun, was sie wollen, wenn sie mir nur nichts tun."

Lehmann sprang wütend auf. "Bei meinem Schnurrbarte schwöre ich es, du bist ein Hasenfuß. Ich werde mit dieser 'Kanaille' fertig zu werden wissen."

Er stieß mit dem Säbel auf den Boden, daß der König von Neuem erbleichte, dann ging er, und das Schießen, Hauen und Stechen nahm seinen Anfang. Er aber achtete, fern vom Schuß, sorglich darauf, daß keine Rebellen-Kugel ihm das teure Leben raubte.

Das Schießen, Hauen und Stechen ist vorüber; Lehmann ist ein geschlagener Mann. Der „Pöbel" hat das Ding schlecht verstanden und gemeint, zum Todschießen gehörten zwei, einer der schießt und einer, der auf sich schießen läßt, und dieser eine, d.h. der, der auf sich schießen läßt, wollte der Pöbel nicht sein, und das "freche Volk" schoß die Soldaten zusammen und trieb sie zur Stadt hinaus. Jetzt bekommt auch Bruder Lehmann Kopf- und Halsweh. Er hat sich vor der erbitterten Menge in die innersten Gemächer des Schlosses verkrochen. Sein Bruder, der König, hat ihn rufen lassen.

"Sie wollen Ihnen hängen," ließ sich eintretend Wrangel vernehmen.

"Sie werden doch nicht wahnsinnig sein" fuhr Lehmann entsetzt auf, während er ängstlich nach der Halsbinde griff.

"Sie sind so wahnsinnig" bestätigte Wrangel. "Volk ist aus Rand und Band, auch mir haben sie auf's Korn genommen."

"Fürwahr, für das Vaterland zu leben, hat auch seine Süßigkeit," philosophierte Lehmann und blickte unschlüssig auf seinen Bruder und Wrangel.

"Das will mich auch so scheinen," erklärte dieser. "Wie aber soll ich fort?"

"Königliche Hoheit müssen einen Bedientenrock nehmen."'

"Wenn man mich für einen vom Pöbel hält?"

"Schützt besser als ein Stern. Der Schnurrbart muß fallen."

"Besser als der Kopf," meinte der König ermunternd, als Bruder Lehmann mißbilligend den Kopf schüttelte. "Fällt der Bart, dann unterscheidet dich nichts von dem gemeinen Volke."

Der Schnurrbart fiel und ein bartloses Unteroffiziers-Gesicht blieb zurück.

"Er hatte immer eine gemeine Physiognomie," sagte sein Bruder, der König.

Lehmann ist bei Herrn von Schleinitz auf dem Karlsbad. Verkleidet war er durch die Straßen geschlichen, ein förmliches Spießrutenlaufen hatte er durchgemacht.

"Retten Sie mich, liebster Schleinitz, aus dieser Mördergrube. Man trachtet mir nach dem Leben, das Volk will Blut - Königsblut - mein Blut. Sagen Sie mir um Gotteswillen, wo verberge, wo rette ich mich? Schaffen Sie Rat. Orden gebe ich dutzendweise, ich belohne Sie königlich. Aber nur fort aus diesem Berlin."

"Daß es dahin kommen mußte," antwortete Herr von Schleinitz betrübt. Er wußte Rat. "Königliche Hoheit müssen nach Spandau -"

"Aber wie, liebster Schleinitz? Die Bande massakriert mich ja. Bei der französischen Revolution hat man den Menschen das Herz aus dem Leibe gerissen - mir ist unwohl, liebster Schleinitz."

"Ein guter Kremser wäre zu beschaffen - der Friedländer wird mir den Gefallen tun - "

"Er ist ein Jude, o lieber Schleinitz, Sie wissen nicht, wie ich diese Juden verachte - sie sind ja auch geborene Verräter - "

"Man wird Königliche Hoheit nicht in seinem Wagen suchen. Ich glaube im Übrigen für den Mann stehen zu können."

"In Gottes Namen denn. Ich habe so viel in diesen Stunden erlitten - ich kann auch das noch über mich ergehen lassen."

Friedländer kam und wurde in das Geheimnis eingeweiht.

"Aber berappen," sagte er verständnisvoll schmunzelnd, als man ihn aufforderte, Lehmann in Sicherheit zu bringen.

"Sie sollen gut belohnt werden."

Eine Stunde später nahm Friedländer den halbtoten Lehmann in Emfpang und kutschierte ihn in dunkler Nacht nach Spandau. Lehmann suchte den Kommandanten auf.

"In Spandau sind Königliche Hoheit nicht sicher," sagte der. "Hier suchen die Berliner Sie am ersten." "Und die Truppen?"

"Sie sind ein schlechter Verlaß in heutiger Zeit." , "O so retten Sie mich, ich flehe Sie an."

"Wir wollen Sie auf die Pfaueninsel zum Hofgärtner Fintelmann bringen.

"Das müßte gleich geschehen."

Noch in der nämlichen Nacht brachte ihn ein von Offizieren geführtes Segelboot zu Fintelmann.

"Sic transit gloria mundi," empfing ihn Fintelmann erschüttert.
"Ich will preussische Hilfe und keinen lateinischen Trost, lieber Fintelmann," erwiderte Lehmann gerührt.

"Stellen sich Königliche Hoheit an die Spitze der Armee," rief ein naiver Gardeleutnant, "Berlin ist bald erobert."

"Sie würden meinen Bruder hängen," - und Lehmann schüttelte sich wie im Fieber - "uns vielleicht auch. Sie kennen die Revolution noch nicht, meine Herren, am sichersten naht man ihr, wenn sie ausgetobt hat. Seien wir zufrieden, wenn wir unverfolgt bleiben."

"Sie wollen in Berlin morden und brennen," stöhnte Fintelmann, "ach du meine Güte."

Zwei Tage später trägt die Extrapost Lehmann der Grenze zu. Der Wahn, daß die Berliner ihn suchen könnten, war ihm Anlaß genug, sein Versteck beim Gärtner Fintelmann aufzugeben und abermals das Weite zu suchen.

Er kam ins freundliche Perleberg; in den Straßen standen viele Leute und unterhielten sich von der Berliner Revolution und vom Auskneifen des Prinzen. - Wenn man den Kerl nur hätte, meinten die Perleberger sehr vernünftig, so sollte Perleberg einen Galgen sehen, wie ihn Berlin gar nicht bauen kann! -  Da kam die Extrapost und der Postillon schmetterte in die Trompete: Ach du mein lieber Gott, Unser Prinz der ist fort, Hat jetzt kein Federbett, Schläft nur auf Stroh, Wissen nicht wo.

Die Perleberger trällerten den schönen Vers nach und betrachteten den Fremden im Postwagen, der alle möglichen Manöver machte, sein Gesicht der Neugier der Leute zu entziehen. Das kam den guten Perlebergern verdächtig vor. Er hatte ein Unteroffiziersgesicht wie Lehmann, allerdings besaß jener einen Schnurrbart; Ist es nicht der Prinz, folgerten die Perleberger, so ist er doch ein anderer Halunke, und das Beste ist, wir nehmen ihn fest. Lehmann merkte aber rechtzeitig diese menschenfreundliche Absicht und lief aus Leibeskräften der Chaussee zu, die zur Grenze führte.

Wer kennt Quitzow, das große Dorf an der mecklenburgischen Grenze, und wer kennt seinen frommen Pfarrer - Fridolin? Lehmann, der dort angelangt war, ließ sich von einem Bauer das Pfarrhaus zeigen und steuerte fest darauf los. Er trat ein in die große Stube, wo der Pfarrer mit langer Pfeife und im Schlafrock am Ofen saß und die schöne Auguste um den Bräutigam trauerte, der zum fünften Male schon durch das Pfarramtsexamen gefallen war.

"Gottes Segen diesem Hause," sagte Lehmann voller Salbung.

"Kennen das schon," brummte der Pfarrer, einen armen Reisenden vermutend; "man wird von allen Hottentotten überlaufen."

"Ich bin es, Herr Pfarrer - Lehmann - jetzt ein Unglücklicher - ein Verfolgter."

Der Pfarrer starrte ihn sprachlos an, die Pfeife rutschte ihm aus dem Munde. Dann fuhr er von der Ofenbank empor: "Sie wären Lehmann? Wie ist denn das möglich?"

"Ich bin Lehmann, mein würdiger Freund, verfolgt von den Berliner Blutmenschen."

"Guste, es ist Lehmann."

"Er ist Lehmann," wiederholte das schöne Kind und betrachtete ihn staunend. "Da kann mein Fritz vielleicht Pfarrer werden."

"Schwatze kein Blech, Guste. Herr Lehmann hat keine Pfarrer anzustellen. Die stellt Gott an, der ihnen zum Amte den nötigen Verstand gibt."

Die schöne Guste schwieg beschämt.

"Nicht wahr," sagte Lehmann, ich darf auf Ihre Hilfe hoffen. Ich will über die Grenze, um das Meer zu gewinnen - "

"Sie dürfen auf mich rechnen," antwortete der Pfarrer. "Guste, was stehst Du da und sperrst den Mund auf, backe unserem hohen Gaste schnell einen Eierkuchen und mache ihm Warmbier."

"Mit Kümmel?" fragte Guste, um doch etwas zu fragen.

"Mit Kümmel, versteht sich," sagte der Pfarrer.

Guste brachte Eierkuchen und Warmbier und Lehmann aß mit Heißhunger. "Die Stunde kommt," sagte er prophetisch, "wo der Herr mich wieder nach Berlin zurückführen wird. Dann will ich Ihnen tausendfach vergelten, was Sie mir heute erwiesen."

"Nicht wahr, dann darf ich doch meinen Fritz heiraten - ?"

"Das dürfen Sie, Gustchen, den Eierkuchen werde ich Ihnen nie vergessen - er hat zu gut geschmeckt."

Der heiteren Szene folgte bald der traurige Abschied. Guste war in die Speisekammer gegangen, hatte ein Stück Wurst abgeschnitten und in Papier gewickelt. Heimlich schob sie es Lehmann in die Tasche. "Der arme Lehmann," sagte sie seufzend, "wenn er verhungert, dann kann ihn der liebe Gott nicht mehr nach Berlin bringen und Fritz fällt wieder durch's Examen."

Pfarrer Fridolin brachte Lehmann über die Grenze. Jenseits der Grenzpfähle blieb der Prinz stehen, schüttelte den Staub von seinen Füßen, und sagte: "Wehe dir, Berlin, nicht mit Peitschen, nein, mit Skorpionen will ich dich züchtigen."

"So gebe es Gott," bekräftigte der Pfarrer.

Durch "Gottes wunderbare Fügung" war Lehmann auf den "Thron seiner Väter" gestiegen, nachdem sein Bruder dem Delirium tremens glücklich erlegen war. Lehmann war dankbar. Der Schleinitz wurde Hausmeister, Friedländer Lektor auf dem Berliner Polizei-Präsidium, wo er gegen hohes Geld staatsgefährlichen Artikeln in den Zeitungen nachschnüffelte; Fintelmann erhielt einen Orden; die Offiziere, die die Rettung nach der Pfaueninsel bewirkt, wurden durch Orden und Avancements belohnt; den Berlinern aber Bismarck beschert, um ihnen die
Skorpione beizubringen.

Aus: Johann Most – Marxereien, Eseleien und der sanfte Heinrich. Verlag Büchse der Pandora, 1985. Zuerst erschienen in Mosts Zeitung „Freiheit“ am 14.3.1885. Digitalisiert von www.anarchismus.at


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email