Gustav Landauer - Sind das Ketzergedanken? (1913)

Ein Kennzeichen unserer Zeit ist, daß vieles im Geiste, aber wenig in Wirklichkeit fertig wird. Vielleicht entspricht sogar dem Mangel an tatsächlicher Durchsetzung eine besondere Regsamkeit des Geistes, der fortwährend darauf aus ist, seine eigenen Gestaltungen, ohne daß sie die Form der Phantasie und der Doktrin verlassen, zu überwinden. Man könnte sich eine also beschaffene Gesellschaft der Menschen denken, daß die Ideen in ihr Werkzeugcharakter hätten, d. h. daß sie wie ein Spaten oder ein Fahrzeug nur im Gebrauch Sinn und Leben hätten und auch nur durch die Anwendung sich abnutzen könnten. Bei uns haben die Ideen die Art nicht von dienenden Werkzeugen, sondern von Gestalten eines Dramas, das sich in der Luft abspielt: die Ideen wandeln sich, bekämpfen einander, bringen einander und sich selber um, setzen natürliche und unnatürliche Kinder in die Welt, und derweile liegt die Wirklichkeit stumpf und geistlos da und kommt nicht von der Stelle. Fast unser gesamtes Parteiwesen ist eine solche dramatische, meist tragikomische Fata morgana als Ersatz wirklicher Lebensdramatik.

Man betrachte einmal z. B. die Geschichte des Sozialismus von diesem Standpunkt aus. Ist es nicht die Geschichte einer mit lebhaften Fiebergesichten verbundenen Gelähmtheit? Fast die einzige Wirklichkeit, die in dieser langen Geschichte zu gewahren ist, ist die sogenannte soziale Gesetzgebung, das Arbeiterschutz- und Versicherungswesen, das der Realpolitiker Bismarck begann. Die Untätigkeit aber im Lager der eigentlichen Sozialisten ist so stark, und die Hemmungen, die sie vor allem in sich selber vorfinden, sind so gewaltig, daß eine eigene Theorie, die Entwickelungslehre der Marxisten, erfunden werden mußte, damit die Idee sich selber und ihr eigenes Scheinleben ertrug.

Hier waltet ein Verhängnis über unserer Zeit. Die Ideen, die in den einzelnen entstehen, sind sozialer Natur, d. h. es ersteht ein Plan im Geist eines Individuums, der sich aber nur durchführen läßt, ja der erst Blut und Nerv gewinnt durch die Beteiligung vieler am Beginn. Da kommt Theodor Hertzka oder Silvio Gesell oder Franz Oppenheimer oder Josef Popper nach intensivem Miterleben unserer drückenden und beschämenden Zustände, und jeder von einem andern Erleben, Denken und Wünschen her sagt schlicht, klar, eingehend, was zu tun, gleich jetzt zu tun sei. Aber sie haben in die Luft gesprochen, und ihr ganzer Erfolg wäre etwa, daß ihre Anhänger einander gegenseitig totreden.

Möglich, daß dieser Zustand eine Blüte starker Kunst herbeiführt. Denn produktiv geladene Naturen, die solche Vereinsamung erleben, mögen schließlich erkennen, daß der Gegensatz zwischen der individuellen Form und dem sozialen Inhalt ihrer Idee die Schuld an dem tragischen Mißverhältnis trägt. Schöpferisch und aktiv wie sie sind, mag ihnen nichts übrig bleiben, als in ihre Idee die Erfüllung mit hineinzunehmen und also allein in der Phantasie zu vollbringen, was in Wirklichkeit nur die vereinte Kraft stark Fortgerissener tun könnte.

Ich glaube zu gewahren, daß auch die Idee der Erneuerung des Judentums keinen andern Gang geht als diesen. Noch ist nicht der kleinste Anfang einer Verwirklichung da, und schon nimmt der Parteienkampf alles vorweg, was irgend an Wirklichkeiten aufeinander folgen könnte. Man nehme alle Parteien, die es in irgendwelchen Nationen gibt, und sehe zu, ob die jüdische Nation, die noch gar keine äußere Gestalt hat, nicht noch ein paar mehr hat als sie alle zusammengenommen. Kennzeichnend für das, was hier Partei genannt wird, ist eine Art masturbierende Selbstbefriedigung der sogenannten Bewegung in sich selbst; die Partei ist wie ein Binnensee, in den die Idee eingeströmt ist, aus dem sie aber nicht wieder hervorkommt. Die Aktivität der Idee verwandelt sich so in die unpsychologische und lieblos verketzernde Unduldsamkeit der Partei. Haben nun die andern Nationen wenigstens das Scheingebilde ihres Staates, so daß sich die Politik, der Schein der Wirklichkeit, aus all dem Streit der Unfruchtbarkeit ergibt, so geht der Schemenkampf der sich selbst verzehrenden jüdischen Ideologie in noch dünnerer Luft vor sich: es wird um Auffassungen, um ein unendlich variables und variiertes „Wenn …“ gestritten. Welches soll die Sprache sein, wenn wir in Zion sind? Welches werden die gemeinsamen Sitten und Bräuche sein? Ich zweifle nicht, daß schon irgendwo untersucht worden ist, ob die Schweinezucht zulässig sein wird.

Dazu kommt noch ein sehr Wichtiges. Je stärker wir uns unserer jüdischen Nationalität bewußt werden, um so mehr werden wir uns ihrer als einer Tatsächlichkeit bewußt, die erst dann volles, schönes, strömendes und all unser Wesen erfüllendes Leben hat, wenn wir es nicht mehr nötig haben, sie mit dem Bewußtsein zu halten und zu umklammern. Die starke Betonung der eigenen Nationalität, auch wenn sie nicht in Chauvinismus ausartet, ist Schwäche. Schreibt ein Deutscher über die Romantik oder den Sozialismus oder die Erhaltung der Energie, so schreibt er eben über die Romantik oder den Sozialismus oder die Erhaltung der Energie. Der bewußte Jude schreibt über Romantik und Judentum, über Sozialismus und Judentum, über die Erhaltung der Energie und das Judentum und auch noch über das Radium und das Judentum. Aber auch hier geht der Kreislauf der Idee, im Geiste verharrend, ohne eine Verwirklichung äußerer Art auch nur zu berühren, rasch vor sich. Schon sind wir dieser unausgesetzten Betonung dessen, was nur wahr und wertvoll ist, wenn es selbstverständlich ist, müde. Schon erkennen wir, daß unser Judentum zu den Dingen göttlichen Unwissens gehört, von denen Meister Eckhart sagt: „Der Mensch ist, das muß wahr sein, ein Tier, ein Affe, ein Tor, solange er im Unwissen verharrt. Das Wissen aber soll sich formen zu einer Überform, und dies Unwissen soll nicht vom Nichtwissen kommen, vielmehr: vom Wissen soll man in ein Unwissen kommen. Dann sollen wir wissend werden des göttlichen Unwissens, und dann wird unser Unwissen geadelt und geziert mit dem übernatürlichen Wissen!“ Uns allen war es Bereicherung und Erhöhung und Befestigung unserer Tatsächlichkeit, als wir anfingen, mit vollem Bewußtsein Juden zu sein. Aber jetzt sind wir es so sehr, daß wir wissen: wir sind es in jeder geistigen und seelischen Regung und Tätigkeit, und sind es dann am wenigsten, wenn wir das Judentum für sich allein betonen. Nation ist eine Bereitschaft oder Disposition, die dürr und hohl und klappernd wird, wenn sie ohne Verbindung mit der Sachwirklichkeit, mit Aufgaben und Arbeiten auftritt und wenn sie anderes ist als deren Ursprung und Tönung.

Noch mehr also kommt dazu. Keiner, der eine Aufgabe in sich spürt, die ihm die Frage, wozu er lebe, erspart, vermag es, in suspenso zu leben. Man wirkt aus dem Grunde seiner Nationalität heraus für eine Sache, die wohl verschiedene Verzweigungen und Benennungen hat, aber in aller Vielfältigkeit die Sache der Menschheit ist, die zur Wirklichkeit werden soll. Wiewohl für diesen Kampf und Aufbau all das gilt, was eben über die Selbstverzehrung der Idee gesagt worden ist, gibt es doch eine Schar von solchen, die sich bereit halten und als Zusammengehörige fühlen. Nicht nur, daß sie aus allen Nationen kommen und sich eins und neu fühlen; zu wenig gesagt; sie fühlen sich so durch das Band des Geistes verbunden und von denen, die nicht mitgehen, getrennt, wie wenn sie eine neue Nation wären. Und sie nehmen das Beste, was sie von ihrer alten Nationalität fühlen, mit in diese neue auf. In jedem Volk sind heute entscheidende Trennungen zwischen den Vielen und den Wenigen; und dieser Riß geht durchs Judentum wie durch die andern Völker. In der neuen Nation, die im Werden ist, sind freilich eine überwiegend große Zahl Juden; aber diese Juden fühlen sich als Einheit, als einen Bund, der seinen Beruf an der Menschheit zu erfüllen hat; und je mehr sie das in sich spüren, um so mehr ist für sie Zion schon lebendig. Denn was anders ist die Nation, als ein Bund solcher, die von verbindendem Geist geeint in sich eine besondere Aufgabe für die Menschheit spüren? Nation sein heißt ein Amt haben.

Was da geschildert wird, ist ein neues Gebilde, etwas wie eine werdende Nation, die sich als neue Gemeinschaft zum Aufbauen der Anfänge einer gerechten, einer schöpferische Kräfte entfesselnden freien Gesellschaft empörerisch allen alten Nationalstaaten, dynastischen Staaten, Unrechts- und Gewaltstaaten entgegenwirft. Sie, die so das Werdende in sich spüren und das Schaffende aus sich loslassen wollen, sind bewußt Abgesonderte, die all das uralt heilige Gut der individuell nationalen Organisation ihrer Leiblichkeit und Geistigkeit in den Dienst ihrer vorbildlichen Arbeit an der Menschheit stellen, die durch sie Wirklichkeit werden soll. Die Bewußtheit und Betonung dieser, dieser erst werdenden Nation ergibt sich als immer frische Notwendigkeit, weil hier erst aus dem Geiste eine Wirklichkeit wachsen soll. Wir Juden nun, die wir geworden werdende Juden sind, können da nicht zweierlei und getrenntes in uns finden; die neu werdende Als-ob-Nation, von der hier gesprochen wird, und das, was uns eint, wenn wir aussprechen wollen, was wir als Juden sind, das beides ist ein und dasselbe. Wir haben uns abgetrennt und finden uns beisammen; der Dienst an der Menschheit treibt uns und unser Geist lechzt, mehr und anderes zu werden als Geist: Gesellschaft, Volk, Körperschaft, Organismus. So daß, je mehr wir unsere Nation aus der verborgenen Stille bloßer Tatsächlichkeit zu Worten des Willens und der Wandlung erheben, je mehr wir bewußte Juden werden, die unter Judentum unser Wesen verstehen, Judentum für uns zusammenfällt mit einer sachlichen Richtung einer Erfüllung zu. Je völliger und reiner und wirklichkeitsgesättigter wir dies unser Wesen und Drängen und Wissen und Bereiten aussprechen, um so zugehöriger werden sie aus allen Nationen zu uns stoßen und uns in liebevoller Gemeinschaft beibringen, daß das uralt Gewordene, das wir aus unserer Seele emporheben, der Weg der werdenden Menschheit ist, daß unserer gemarterten und sehnsuchtsvollen Herzen Tradition nichts anderes ist als die Revolution und Regeneration der Menschheit. Wie ein wilder Schrei über die Welt hin und wie eine kaum flüsternde Stimme in unserem Innersten sagt uns unabweisbar eine Stimme, daß der Jude nur zugleich mit der Menschheit erlöst werden kann und daß es ein und dasselbe ist: auf den Messias in Verbannung und Zerstreuung zu harren und der Messias der Völker zu sein.

Nation sein heißt ein Amt haben; und wo mein Amt ist, da ist mein Vaterland. Haben wir Abgesprengte als unser Judentum den Dienst an der Umwandlung der Gesellschaft, an der Begründung neuen Volkes und allererst neuer Menschheit entdeckt; haben wir gefunden, daß wir, im Suchen nach unserem inneren Wesen, der grenzenlosen und schrankensprengenden Erneuerung der Völker durch die Abstreifung oberflächlicher Gewaltbeziehungen und die Durchsetzung echter freudigliebevoller Gemeinschaft begegnet sind; haben wir staunend und beglückt als das urältest in uns Versenkte nichts anderes als all die ungeheuer mächtigen und innigen Triebkräfte der Reinigung zum Licht gehoben, — wer, der soweit ist, wer also, der der Dumpfheit entronnen, sich selbst vor Augen sieht und in der Hand hält als einen, der soll und will, wer wollte da nicht als den Ort seines Wirkens die Welt erkennen und als seine Welt die Gegenwart, in der es zu wirken gilt?

Kein rechter Mensch vermag es, sich nur als Brücke für kommende Geschlechter, als Vorbereitung, als Same und Dung zu wissen; er will selber etwas sein und leisten. Mag sein, daß die Muttersprache irgendwelcher aus meinen Lenden entsprossenen Nachkommen hebräisch sein wird; es rührt mich nicht; meine und meiner Kinder Sprache ist deutsch. Mein Judentum spüre ich in meiner Mimik, in meinem Gesichtsausdruck, meiner Haltung, meinem Aussehen und so geben diese Zeichen mir die Gewißheit, daß es in allem lebt, was ich beginne und bin. Weitaus mehr aber — sofern es da ein Mehr gibt — als Chamisso der Franzose ein deutscher Dichter war, bin ich, der ich ein Jude bin, ein Deutscher. Deutscher Jude oder russischer Jude — diese Ausdrücke empfinde ich als schief, ebenso wie jüdischer Deutscher oder Russe. Ich weiß da von keinem Abhängigkeits- oder Adjektivitätsverhältnis; die Schickungen nehme und bin ich, wie sie sind, und mein Deutschtum und Judentum tun einander nichts zuleid und vieles zulieb. Wie zwei Brüder, ein Erstgeborener und ein Benjamin, von einer Mutter nicht in gleicher Art, aber im gleichen Maße geliebt werden, und wie diese beiden Brüder einträchtig miteinander leben, wo sie sich berühren und auch, wo jeder für sich seinen Weg geht, so erlebe ich dieses seltsame und vertraute Nebeneinander als ein Köstliches und kenne in diesem Verhältnis nichts Primäres oder Sekundäres. Ich habe nie das Bedürfnis gehabt, mich zu simplifizieren oder durch Verleugnung meiner selbst zu unifizieren; ich akzeptiere den Komplex, der ich bin, und hoffe noch vielfältiger eins zu sein als ich weiß.

Da ich aber jetzt lebe und wirke, also auch als Jude jetzt bin und tue, was zu tun mir obliegt, kann ich mich innerlich nicht auf eine Sache bereiten wollen, kann den Willen zu einer neuen Vorkehrung nicht in mir finden, die einen Teil meines Wesens auslöschen oder hemmen würde.

Andere sind anderer Herkunft und haben anderes zu beschreiben. Sie mögen es so aufrichtig tun wie es hier geschehen ist. Noch wieder andere sind jetzt dabei, unsereins beibringen zu wollen, wir seien eine Halbheit und ein Mischlingsprodukt und müssten uns in Demut vor den östlichen Juden, den wahren Juden, beugen. Wer so geschwächt ist, daß er sich selber die Existenzberechtigung abzusprechen meint, soll nicht aufgehalten werden. Wir in unsrer Besonderheit und Vielfältigkeit werden unsre östlichen Brüder als ebenfalls, wennschon in anderen Abstufungen, Vielfältige erkennen. Russische oder polnische Juden gibt es nicht, wohl aber zumindest dreifach mit Nationalität Gespeiste: denn sie, die Östlichen, sind Juden und sind Bussen oder Polen oder Litauer und sind Deutsche eines besonderen Schlages (Mittelhochdeutsche, Jiddisch-Deutsche) zugleich. Trotz allen Verfolgungen und Entbehrungen fühlen sich die aus Bußland stammenden Juden, wenn sie bei uns wohnen, wie heimatlos und im Elend, nicht bloß und oft nicht in erster Linie, weil sie unter uns die ihnen gewohnten jüdischen Bräuche vermissen, sondern weil ihnen das russische Milieu, die spezifisch russische Güte und Weichheit fehlt; und wenn sie nicht die russische Zigarette und den Samowar und manche Einrichtung russischen Gemeinschaftslebens auch bei uns haben könnten, vermöchten sie es nicht bei uns auszuhalten.

Mag sein, daß eine Entwicklung kommt, die das Jüdische so um sich greifen läßt, daß unser Deutschtum, jener Russentum erdrückt wird; mag sein, daß ein hebräisches Judentum kommt, das das jiddische vertilgt. Bloß — wer, der sich zu sich selbst bekennt, wer, der sich in all seiner Vielfältigkeit als eins und einmalig., als an seiner Stelle zum Dienst an der Menschheit berufen fühlt, kann es wünschen und herbeiführen wollen? Nur die Doktrinäre könnten es wollen; doktrinär ist, wer das Eine so für das All nimmt, daß er die andern Offenbarungen des Einen mißachtet und unterdrückt; wehrt sich aber nicht gerade, Avas wir jüdisch in uns finden, gegen die kalte Lieblosigkeit und das dumme Verstandestum des Doktrinarismus?

Nur geworden-werdendes lebt; nur wer in seiner Gegenwart und Wirklichkeit Vergangenheit und Zukunft in eins begreift, nur wer sich selber, wie er wahrhaft und ganz ist, mitnimmt auf die Reise nach seinem gelobten Land, in dem nur scheint mir das Judentum ein lebendiges Gut zu sein. Die Nationen, die sich zu Staaten abgegrenzt haben, haben draußen Nachbarn, die ihre Feinde sind; unsere Nation hat die Nachbarn in der eigenen Brust; und diese Nachbargenossenschaft ist Friede und Einheit in jedem, der ein Ganzer ist und sich zu sich bekennt. Sollte das nicht ein Zeichen sein des Berufs, den das Judentum an der Menschheit, in der Menschheit zu erfüllen hat?

In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch - Herausgegeben vom Verein Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Leipzig, Kurt Wolff Verlag, 1913, S. 250-257.

Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2009/12/18/gustav-landauer-sind-das-ketzergedanken-1913/


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