H(elmut) R(üdiger) - Gustav Landauer

„Die folgenden Zeilen entstammen einem Artikel, der spanisch veröffentlicht wurde in der Zeitschrift LA REVISTA BLANCA – Barcelona. Wir halten es für unsere Pflicht, uns an dieser Stelle auch der deutschen Öffentlichkeit gegenüber zu Gustav Landauer zu bekennen, dessen Bedeutung für die sozialistische Bewegung durch die Grabschändung der Nationalsozialisten ebenso wenig herabgesetzt werden kann wie sie vermindert wurde durch seine Ermordung vor 15 Jahren“ (Anm. der Redaktion)

„Unser Bild zeigt das Grabmal für den deutschen Kameraden Gustav Landauer, das 1924 im Münchener Waldfriedhof von den Anarcho-Syndikalisten dieser Stadt errichtet und im Juni 1933 durch den Magistrat von München gesprengt wurde. Diese Schandtat geschah auf Grund eines Beschlusses des Stadtparlaments über „die Zerstörung der Grabdenkmäler marxistischer Revolutionäre“, und der Verwaltung des Friedhofes wurde ausdrücklich verboten, die Asche aus dem zerstörten Grabe dem gewöhnlichen Brauche folgend in einem Sammelgrab des Friedhofes wider zu bestatten, sondern die sterblichen Reste unseres Kameraden mussten dem jüdischen Friedhof zur Verfügung gestellt werden, „weil die Angehörigen der christlichen Kirchen nicht wünschten, dass die Asche des Juden sich vermischte mit der Asche von Christen“.

Das Denkmal auf dem Waldfriedhof hatte folgende Inschrift: Jetzt gilt, es, dazu noch Opfer anderer Art zu bringen – nicht heroische, sondern stille, unscheinbare Opfer, um für das rechte Leben ein Beispiel zu geben. 1870 Gustav Landauer 1919.

Es ist eine Ironie, dass die Nationalsozialisten Landauer als Marxisten klassifizieren. In Wirklichkeit war Landauer einer der systematischten und heftigsten Gegner, die der Marxismus in Deutschland gehabt hat. Sein „Aufruf zum Sozialismus“ ist eine harte und leidenschaftliche revolutionäre Anklage gegen den Marxismus, den Landauer charakterisierte als „die Pest unserer Zeit und den Fluch der sozialistischen Bewegung“.

Gustav Landauer war einer der grössten und edelsten Geister, die je durch die revolutionäre Bewegung gingen. Er war der bedeutendste Kopf innerhalb der freiheitlichen Bewegung Deutschlands, und allein sein „Aufruf“ hatte die Herzen von Tausenden und Abertausenden junger Menschen weit über die engen Kreise der revolutionären Bewegung hinaus tief ergriffen. Diesen friedlichen und philosophischen Revolutionär des Geistes, den grossen Deuter so vieler berühmter Schöpfungen der Literatur, den Bewunderer und profunden Kenner des Geistes und der Werke Goethes, Shakespeares und anderer liebten und achteten zahllose freie und fortschrittliche Menschen der verschiedensten Geistesrichtungen. Seine politischen, soziologischen und literarischen Schriften gehören zum Tiefsten, was während der letzten Jahrzehnte vor dem Kriege in deutscher Sprache geschrieben wurde. Übrigens fühlte sich Landauer in ganz besonderer Weise gerade mit den höchsten Werten des deutschen Geiste verbunden, den er von ganzem herzen verehrte.

Selbstverständlich kann das, was Gustav Landauer an Mitteln und Wegen während der Jahre 1909 bis 15 in Deutschland empfahl, weder auf das heutige Deutschland noch gar auf Spanien übertragen werden, aber die Grundieen seines Lebenswerkes erscheinen mir heute aktueller denn je. Sie enthalten einen einzigartigen Versuch wirklich tiefschürfender geistiger Erneuerung des freiheitlichen Gedankengutes, bedeuten eine kühne Loslösung der Begründung des Anarchismus von überwundenen Ideologien und einen glühenden Appell an die Zeit – würdig des Denkers und Revolutionärs Proudhon, der von Landauer immer als Leitstern betrachtet wurde. Mögen sie das schöne Denkmal zerstört haben, das wir damals in jenem stillen Winkel des Waldfriedhofes aufrichtete, sollen sie seine Asche in alle Winde zerstreuen, seine Bücher verbrennen. Die Ideen dieses grossen Anarchisten werden leben, und später einmal wird die freiheitliche Bewegung, wird eine erneuerte Welt die Grösse dieses Lebens erst verstehen, wird der denkerische und der seelische Gehalt des Landauerschen Werkes noch einmal Millionen ergreifen. Die barbarischen Herren des heutigen Deutschlands mögen die Macht haben, äussere Zeichen der Erinnerung an diesen Toten zu zerstören – unvergänglich ist das Denkmal, das sich Gustav Landauer selbst gesetzt hat durch sein Wirken, durch die in Jahrzehnten zu immer grösserem inneren Reichtum fortgeschrittene Entfaltung seiner wundervollen Persönlichkeit, durch sein vorbildliches, einer schöneren Menschheitszukunft hingegebenes Leben.

Landauers Werk, sein Denken und die Tätigkeit, die er im Laufe von 30 geistig unerhört fruchtbaren Jahren mit immer neuem Schwung und stets fortschreitender Vertiefung der Ideen in den unterschiedlichsten sozialen Kreisen verfolgte, war durch zwei grosse Leitgedanken bestimmt: Die Forderung der „Freiheit in der Fülle ihrer Gestaltungen“ – einer Freiheit, die ihm nicht nur Abwesenheit von Zwang bedeutete, sondern Entfesselung der innersten Schöpferkräfte des Menschen – und die Idee der „Verwirklichung“, nämlich der Verwirklichung dessen, was die grossen künstlerischen Gestalter der Jahrtausende nur in die Selbst-Aussagung ihrer eigenen grossen Persönlichkeit und in das oft nur von wenigen verstandene geniale Kunstwerk zu legen vermocht hatten: die Tendenz zur Verwirklichung, zur Volk-Werdung des ewigen bildnerischen Geistes, das war für Landauer freiheitlicher Sozialismus. Aber trotz seiner grossen sozialrevolutionären Leidenschaft blieb er selbst ein Einsamer und Missverstandener, und das Gefühl der entsetzlichsten inneren Verlassenheit überkam ihn gerade damals am stärksten, als er – in der Münchener Räterepublik – zum ersten male in der breitesten Öffentlichkeit zu wirken Gelegenheit gefunden hatte.

Seine Ideen mögen heute unzeitgemäss sein. Wenn aber die Menschheit das Blutmeer der faschistischen Barbarei durchschritten haben und auch der autoritäre Wahn der Befreiung durch den Staat zerbrochen sein wird, wenn der Ekel vor der Brutalisierung und Entpersönlichung des Einzelnen wächst und die betrogenen Völker sich einmal wieder hinwenden werden zum Menschen, der in jedem und allen ist, dann wird in Landauers Geist gesprochen werden könne und sein Werk eine Fortsetzung finden. „Ein erste Wort ist dies. Noch viel ist zu sagen. Es wird gesagt werden...“ Diese Schlussworte des „Aufruf“ sind wie der Epilog von Landauers Leben: Sein Wirken war ein „erstes Wort“, noch bleibt viel zu sagen. Es wird gesagt werden. Die in ihrer Zeit als Verkünder der Idee und als Unverstandene gekreuzigt worden sind, werden nicht umsonst gelebt haben. Auch Gustav Landauers Stunde wird kommen.“

Literaturtips:

  • Gustav Landauer: „Aufruf zum Sozialismus“
  • Siegbert Wolf: „Gustav Landauer“
  • Tankred Dorst (Hrsg.): „Gustav Landauer“, in: „Die Münchener Räterepublik. Zeugnisse und Kommentar“


Aus: „Die Internationale“ neue Folge, 1. Jg. (1934), Nr. 2

Überarbeitet nach: www.fau-bremen.de.vu


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