Malatesta über Bakunin (zum 50. Todestag)

Aus Pensieroe Volontà (Rom), 1. Juli 1926.*)

Heute ist der fünfzigste Jahrestag von Michael Bakunins Tode und die Anarchisten der ganzen Erde feiern, je nachdem die Verhältnisse es erlauben, die Erinnerung an den großen Revolutionär, den wir alle als unsern geistigen Vater betrachten.

Ich hätte hier einige seiner wirkungsvollsten und charakteristischsten Seiten anführen sollen, was der beste und nützlichste Beitrag zu seiner Erinnerung gewesen wäre. Aber diese von Glaube und Hoffnung glühenden Seiten würden in der jetzigen Zeit gewiß konfisziert werden und ich hätte sie vergebens gedruckt. So müssen sich die Leser mit meiner schlichten Rede begnügen, die doch so unzureichend ist, um einen solchen Mann wieder vorzuführen.

Er ist seit 50 Jahren tot, vor beinahe 51 Jahren sah ich ihn zum letztenmal in Lugano, schon von Krankheit auf den Tod getroffen, ein Schatten seiner selbst (er sagte mir halb ernst, halb scherzend: Lieber Freund, ich bin bei meiner Auflösung anwesend), und doch erwärmt noch der einfache Gedanke an ihn mein Herz, erfüllt es mit jugendlichem Enthusiasmus. Dies war ja vor allem Bakunins großes Werk: allen, die ihm näher traten, Glauben, fieberhafte Tatenlust und Opfermut einzuflößen. Er selbst pflegte zu sagen, man müsse den Teufel im Leib haben und er hatte ihn wirklich, körperlich und geistig, diesen rebellischen Satan der Mythologie, der keine Götter und keine Herren kennt und nie ruht im Kampf gegen alles, was Gedanken und Tat behindert.

Ich war Bakunist wie alle meine Genossen dieser jetzt, ach!, fern zurückliegenden Generationen. Heute — und schon seit langen Jahren — möchte ich mich nicht mehr als solchen bezeichnen. Die Ideen haben sich entwickelt und geändert. Ich finde heute, daß Bakunin in der Nationalökonomie und der Geschichtsauffassung zu sehr Marxist war; ich finde, daß seine Philosophie ohne Möglichkeit eines Auswegs sich herumstritt in dem Widerspruch zwischen einer mechanischen Auffassung des Weltganzen und dem Glauben an die Wirkung des Willens auf das Geschick des Menschen und der Menschheit. Aber all das macht wenig aus. Die Theorien sind ungewisse und veränderliche Vorstellungen und die Philosophie, die gewöhnlich aus über den Wolken schwebenden Hypothesen besteht, hat in Wirklichkeit geringen oder gar keinen Einfluß auf das Leben. Und Bakunin bleibt stets, trotz aller möglichen Abweichung unserer Ansichten, unser großer Meister und starker Inspirator (Anfeuerer).

Immer lebendig ist seine radikale Kritik des Prinzips der Autorität und des Staates, der dasselbe verkörpert; immer lebendig bleibt sein Kampf gegen die beiden Lügen, die beiden Formen der Unterdrückung und Ausbeutung der Massen, die demokratische und die diktatorische Form; es lebt seine meisterliche Widerlegung des falschen Sozialismus, den er den einschläfernden nannte und der bewußt oder unbewußt die Herrschaft der Bourgeoisie befestigt, indem er die Arbeiter mit leeren Reformen tröstet. Lebendig sind vor allem sein intensiver Haß gegen alles, was den Menschen herabwürdigt und erniedrigt, und seine grenzenlose Liebe zur Freiheit, zur ganzen Freiheit.

Mögen die Genossen an Bakunins Leben denken, das mit Kampf erfüllt war, idealem und praktischem, und ein Beispiel gab der Ergebenheit an die Sache der Revolution, und mögen sie suchen, suchen wir alle, diesen ruhmreichen Spuren zu folgen, wenn auch von weitem und jeder nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten.

Errico Malatesta

*) Diese Worte wurden in Italien konfisziert; eine zweite Ausgabe der Zeitschrift konnte nur mit Weglassung derselben erscheinen. Dort beschreibt auch Malatesta seine erste Begegnung mit Bakunin, 1872, und es werden drei unbekannte Briefe Bakunins an Ludmilla Assing in Florenz, die Nichte Varnhagens von Ense, abgedruckt. Neben diesen Briefen liegen in derselben italienischen Bibliothek noch 46 deutsche Briefe, die für Briefe Bakunins angesehen wurden- es stellt sich heraus, daß es Abschriften von Briefen Varnhagens an einen Baron Maltitz aus den Jahren 1843—58 sind.

M. N.

Konfisziert wurde noch das Folgende:

Die anarchistischen Prinzipien wie sie 1872 auf dem Kongreß von St. Imier durch Bakunins Anregung formuliert wurden.

1. Die Zerstörung jeder politischen Gewalt ist die erste Pflicht des Proletariats.

2. Jede Organisation einer sogenannten provisorischen und revolutionären Gewalt zur Erreichung dieser Zerstörung kann nur ein weiterer Trug sein und wäre für das Proletariat so gefährlich wie alle jetzt bestehenden Regierungen.

3. Jeder Kompromiß zur Erreichung der Durchführung der sozialen Revolution zurückweisend, müssen die Arbeiter aller Länder außerhalb jeder bürgerlichen Politik die Solidarität der revolutionären Aktion herstellen.

Diese Grundsätze weisen uns weiterhin den rechten Weg. Wer versuchte, gegen sie zu handeln, hat den richtigen Weg verloren, weil Staat, Diktatur oder Parlament, alle zusammen die Massen nur in die Knechtschaft zurückführen können. Alle bis heute gemachten Erfahrungen haben dies endgültig bewiesen. Es ist unnötig, hinzuzufügen, daß für die Kongreßteilnehmer von St, Imier, wie für uns und alle Anarchisten, die Abschaffung der politischen Gewalt unmöglich war und ist ohne die gleichzeitige Zerstörung der ökonomischen Vorrechte.

Aus: Der Syndikalist, 8. Jahrgang, Nr. 32, Berlin 7. August 1926. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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