Errico Malatesta - Die Anarchisten in der Arbeiterbewegung

Die Arbeiter - zu denen ich natürlich auch die Landarbeiter und alle rechne die von ihrer Hände Arbeit leben - sind, mit Ausnahme jenes Bodensatzes der Gesellschaft, den Elend und Unterdrückung zur völligen Ohmacht verurteilt haben, die hauptsächliche Kraft der Revolution. Sie sind es, die am unmittelbarsten die Auswirkungen der schlechten Gesellschaftsordnung verspüren, sie sind die ersten, unmittelbaren Opfer der Ungerechtigkeit, sie sehnen mehr oder weniger bewußt eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft herbei, die größere Gerechtigkeit und Freiheit mit sich bringt.

Angesichts der eigenen Machtlosigkeit gab es jahrhundertelang unter den Arbeitern stets das Bestreben, sich in verschiedenen Formen zusammenzuschließen, um sich gegenseitig in den lebensnotwendigen Bedürfnissen und der Verteidigung der eigenen Interessen unterstützen zu können. Infolge der Entwicklung der großen Industrie, des Fortschritts der Kommunikationsmittel und der allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft haben diese Arbeiterzusammenschlüsse nunmehr riesige Ausmaße angenommen und stellen eine der wichtigsten Erscheinungen der heutigen Gesellschaft dar, die allgemein als „Arbeiterbewegung“ bezeichnet wird.

Unmittelbarer Zweck dieser Bewegung ist es, die Lebensbedingungen des Arbeiters so weit wie möglich Tag für Tag zu verbessern. Wer in eine Arbeitervereinigung eintritt, tut dies im allgemeinen in der Absicht und Hoffnung mehr zu verdienen, eine weniger bedrückende Arbeit zu machen, unter menschlicheren hygienischen Bedingungen zu leben und setzt sein Vertrauen in die kollektive Macht, die es ermöglichen soll, diese Verbesserungen allmählich zu erringen. Aber da jede Aktion eine Idee entstehen läßt, tauchen sehr bald Theorien und Ideologien auf, die die Bewegung zu erklären und zu rechtfertigen suchen. Und da die Praxis des Kampfes zeigt, daß auch die Vereinigung, mag sie auch die gesamte Masse der Arbeiter umfassen, nicht imstande ist, über einen bestimmten Punkt hinaus Verbesserungen zu erreichen und die den vorherrschenden ökonomischen und politischen Kräften abgerungenen Fortschritte auf Dauer zu sichern, entsteht das Bedürfnis, nach den Gründen dieser Machtlosigkeit zu suchen, und sehr bald gehen die Bestrebungen und Theorien über die von den herrschenden Institutionen vorgezeichneten Grenzen hinaus. Bald wird das Recht des Unternehmers überhaupt in Frage gestellt, das Privateigentum an Grund und Boden und an den Arbeitswerkzeugen in Zweifel gezogen.

Von nun an reift innerhalb der Arbeiterassoziation der Gedanke der sozialen Revolution heran, und alle, die aus materiellen oder ideellen Gründen an der Aufrechterhaltung oder der Veränderung der gegenwärtigen Gesellschaft interessiert sind, machen sich ans Werk: die einen, um dem Impuls der Bewegung durch mehr oder weniger illusorische Konzessionen und alle möglichen Täuschungen oder Gewalttätigkeiten Einhalt zu gebieten, die anderen, um die Bewegung bis zur letzten Konsequenz voranzutreiben und sich zum Werkzeug der Verwirklichung der eigenen Ideale zu machen.

Jetzt geschieht im kollektiven Leben der Gesellschaft nichts mehr ohne Beteiligung oder zumindest Zustimmung der organisierten Massen. Selbstverständlich können die Anarchisten nicht gleichgültig gegenüber dieser Bewegung sein, sei es, weil sie selbst fast alle Handarbeiter sind und nicht interesselos den Kämpfen gegenüberstehen können, die die Arbeiter in den Fabriken und auf dem Land sowohl für die Erfordernisse des täglichen Lebens als auch aus Solidarität mit ihren Arbeitsgefährten führen, sei es, weil sie jeder Massenbewegung mit Sympathie begegnen, sie unterstützen und versuchen müssen, sie auf den Weg der vollständigen Befreiung mittels direkter Aktion zu führen, da sie davon ausgehen, daß ihr Ideal universellen Wohlstandes und völliger Freiheit nur direkt durch das Werk der Betroffenen verwirklicht werden kann.

Dies wurde stets von der großen Mehrheit der Anarchisten erkannt, die ja selbst sogar oft Initiatoren der Bewegung waren. Dennoch haben wir aufgrund unserer kritischen Einstellung und unserer seit jeher mangelnden Fähigkeiten, uns mit dem Vorhandenen zu begnügen, nicht immer den besonderen Charakter, die unvermeidlichen Zwänge eines naturgemäß in einer bürgerlichen Ordnung geführten Arbeiterkampfes erkannt. Wir haben es nicht verstanden, unsere Taktik als Anarchisten mit diesen Zwängen in Einklang zu bringen und haben zusammenhanglos und unschlüssig gehandelt mit dem Ergebnis, daß wir in der Bewegung nicht einen der Überlegenheit unserer Ideen und unserem Initiativgeist entsprechenden Einfluß ausgeübt haben und oft erleben mußten, daß andere aus der von uns begonnenen Arbeit Nutzen zogen. Es ist daher angebracht, auf diese Frage zurückzukommen, sie gründlich zu prüfen und sich über die Richtschnur einig zu werden, der wir zum größten Nutzen unserer Zielsetzungen folgen müssen.

Wenn man einmal absieht von den Konservativen und Bourgeois aller Schattierungen, die sich - wenn überhaupt - nur mit dem Zweck für die Arbeitervereinigungen interessieren, durch Täuschungsmanöver der aufkommenden Flut der Befreiung Einhalt zu gebieten und eine Bewegung, die ihrem Wesen nach auf Befreiung abzielt, zum Werkzeug der Versklavung zu machen, gibt es unter den gesellschaftlichen Neuerern drei hauptsächliche Parteien (oder Richtlinien). Diese sind sich in Bezug auf die kleinen, täglich zu führenden Kämpfe zur Verteidigung der Arbeiterinteressen im bürgerlichen System mehr oder weniger einig oder sollten dies sein, unterscheiden sich jedoch grundlegend in den Endzielen, zu denen sie die Bewegung führen wollen, und somit in der Art der Propaganda, die sie innerhalb der Bewegung betreiben, und in den Organisationsformen, die sie jeweils bevorzugen: es sind dies die Sozialisten, die Syndikalisten und die Anarchisten, die allesamt überzeugt davon sind, daß man zur Befreiung der Arbeiter und Errichtung einer besseren Gesellschaftsordnung das kapitalistische System beseitigen muß, jedoch unterschiedliche Vorstellungen von der zukünftigen Gesellschaft und den Mitteln und Wegen ihrer Verwirklichung haben.

Die Sozialisten, zu denen ich auch die Fraktion rechne, die sich jetzt kommunistisch nennt, wollen die Regierung übernehmen, wobei jetzt unwichtig ist, ob mit legalen Mitteln oder mit Gewalt. Sie glauben, das Rezept für die Heilung aller Übel und Lösung aller sozialen Probleme zu besitzen und wollen dieses ihr Rezept im Namen einer vorgeblichen, legal festgestellten Mehrheit oder durch eine von einigen Personen im Namen ihrer Partei usurpierte Diktatur durchsetzen. Die Massen sollen nur die nötigen Stimmen dafür liefern, daß die Parteiführer an die Macht gelangen können, und die ganze Taktik ist darauf ausgerichtet, die Arbeiterorganisationen der Partei zu unterwerfen. Aus diesem Grund entziehen sich die sozialistischen (und mehr noch die kommunistischen) Führer der Organisationen soweit wie möglich der Kontrolle der Organisierten, ersticken jede Autonomie und jeden Initiativgeist und erziehen die Arbeiter unter dem Vorwand der Disziplin der kollektiven Aktionen zum passiven Gehorsam gegenüber den Führern. Auf diese Weise schmieden sie sich die Waffen, die ihnen zur Macht verhelfen sollen und bereiten die Massen darauf vor, sich gelehrig dem Diktat der Regierung von morgen zu beugen.

Die Syndikalisten sind libertärer in ihren Vorstellungen. Sie wollen den Staat überflüssig machen, ihn mit Hilfe der Gewerkschaften entmachten und zerstören und diesen allmählich sämtliche Aufgaben des gesellschaftlichen Lebens übertragen. Natürlich müssen zu diesem Zweck die Produktionsmittel (Boden, Rohstoffe, Maschinen usw.) Kollektiveigentum der untereinander föderierten Gewerkschaften werden.

Es ist hier nicht der Ort, dieses Programm zu diskutieren. Sicher ist jedoch, daß man zu seiner Verwirklichung zuerst die Eigentümer des gesellschaftlichen Reichtums enteignen müßte, und da diese von der bewaffneten Gewalt des Staates geschützt werden, müßte man zunächst diese Gewalt besiegen. Und obwohl die Syndikalisten in der Theorie gerne behaupten, daß der Syndikalismus sich selbst genüge, sind sie dann in der Praxis gezwungen, entweder - durch Wahlen oder Gewalt - den Staat zu erobern und Sozialisten zu werden oder aber ihn zu zerstören und Anarchisten zu werden.

Diese programmatische Unbeständigkeit spiegelt sich in der Geschichte der Arbeiterorganisationen mit syndikalistischer Tendenz wider: früher oder später kommt eine Situation, in der man vom rein gewerkschaftlichen Terrain zum politischen Kampf im eigentlichen Sinne übergehen muß, und dann tritt die Divergenz und Unvereinbarkeit zwischen Reformisten und Revolutionären, Parlamentariern und Antiparlamentariern, Sozialisten und Anarchisten zutage, die sich unter dem Deckmantel einer vermeintlichen gewerkschaftlichen Neutralität zusammengefunden hatten. Und dann beginnen die inneren Kämpfe und Spaltungen. Unterdessen, solange dieses Mißverständnis andauert, wird in diesen Organisationen die direkte Aktion geprobt, läßt man auch den fortschrittlichsten Strömungen Propagandafreiheit und werden die Massen an Stolz und Kampfbereitschaft gewöhnt, was die beste Lehre für die Vorbereitung der Revolution ist. Wir Anarchisten können uns ebensowenig mit diesen wie mit irgendeiner anderen Arbeiterorganisation identifizieren, aber wir müssen diese Organisationen den anderen vorziehen, da sie ein geeigneteres Feld für die Ausdehnung unseres Einflusses sind; wir müssen sie unterstützen, uns in allen Formen, die nicht in Widerspruch zu unseren Ideen stehen, an ihnen beteiligen, ohne uns jedoch deshalb den Eintritt in irgendeine andere Organisation zu versagen, in der wir nützliche Propagandatätigkeit, Kritik und anspornenden Einfluß zu entfalten können glauben. Dies haben wir bisher mit mehr oder weniger Erfolg getan; jetzt ist es Zeit, so glaube ich, daß wir uns über ein einheitliches Vorgehen einig werden, damit wir mit größerer Wirkung Einfluß auf die Bewegung nehmen und sie besser für unsere Ziele einsetzen können.

Die Arbeiterorganisationen sind unter Bedingungen, und Zwängen tätig, die die Position der in ihren Reihen aktiven Anarchisten oft schwierig und manches Mal mit ihren Vorstellungen unvereinbar macht, immer vorausgesetzt, daß man von der theoretischen Aufklärung, von der zukunftsbezogenen Propaganda zu den praktischen Maßnahmen des konkreten Kampfes übergehen muß.

Da die Gewerkschaften den Zweck haben, die gegenwärtigen, unmittelbaren Interessen der Arbeiter in einer von Privateigentum und Lohnarbeit bestimmten Gesellschaftsordnung zu vertreten, da sie die größtmögliche Anzahl von Arbeitern ohne Rücksicht auf religiöse und politische Meinungsunterschiede oder auf das Vorhandensein irgendeiner bestimmten Überzeugung überhaupt vereinen wollen, da sie gezwungen sind, die Auswirkungen zu mildern, ohne die Ursache der Unterdrückung der Arbeiter zerstören zu können, mögen sie auch die Abschaffung der Lohnarbeit und die vollständige Befreiung in ihr Programm geschrieben haben, müssen sie in der täglichen Praxis die Tatsache der Herrschaft und des kapitalistischen Profits akzeptieren und sich darauf beschränken, diese Herrschaft durch ständigen Widerstand weniger absolut zu machen und dem Produzenten einen größeren Anteil am Produkt zu sichern.

In dieser Bewegung muß auch der entschiedenste Revolutionär den Weg des Reformismus beschreiten, der darin besteht, Schritt für Schritt Verbesserungen zu erringen, die dann mit einem Schlage verloren gehen, sobald Profit und kapitalistische Konkurrenz - die nach wie vor bestehenden Gründe für das gesellschaftliche Übel - immer neue Krisen der Arbeitslosigkeit auslösen, die zum Kampf um das tägliche Brot unter den Arbeitern selbst führen. Denn Vorteile der revolutionären Methode, die man vorbringen kann, um die Notwendigkeit der Revolution begreiflich zu machen, haben nur dann eine positive Wirkung, wenn die Revolution gemacht wird. Und die Revolution kann man nicht alle Tage machen!

Aber das ist das Wenigste. Die gravierendste Schwierigkeit liegt in den widerstreitenden Interessen der verschiedenen Berufsgruppen der Arbeiter einerseits und in dem Interessenkonflikt zwischen Produzenten und Konsumenten andererseits.

Man behauptet gewöhnlich, daß die Proletarier im Kampf gegen die Unternehmer ein gemeinsames Interesse haben und daher alle miteinander solidarisch sein müssen - und das trifft auch zu, wenn es um das Interesse geht, das Unternehmertum zu beseitigen und eine Gesellschaft zu errichten, in der alle für das größtmögliche Wohl aller und eines jeden arbeiten. Aber es trifft überhaupt nicht zu in der heutigen Gesellschaft, in der Industrielle und Landbesitzer darauf aus sind, die Produktion zu beschränken, um die Preise steigen zu lassen, sich einen höheren Profit zu sichern und darüber hinaus die Löhne niedrig halten zu können und auf diese Weise Mangel an Produkten und an Arbeit herbeiführen.

So ergibt sich ein oft ungewollter und unbewußter, doch natürlicher und zwangsläufiger Interessengegensatz zwischen dem Arbeitenden und dem Arbeitslosen, zwischen dem Inhaber einer guten und sicheren Stelle und den der weniger verdient und stets in Gefahr ist, entlassen zu werden, zwischen dem, der einen Beruf beherrscht und dem, der ihn erlernen will, zwischen dem Mann, der das Monopol der Berufsausübung hat und der Frau, die ihre Blick auf das Terrain der ökonomischen Konkurrenz richtet, zwischen dem einheimischen und dem eingewanderten Arbeiter, zwischen dem Spezialisten der den anderen das Erlernen seines Faches untersagen möchte und denen, die dieses Monopol nicht anerkennen wollen und schließlich ganz allgemein zwischen den einzelnen Berufsgruppen, wenn vorübergehende oder ständige Interessen der einen mit denen der anderen in Konflikt geraten. Einige Berufsgruppen ziehen Vorteile aus den Schutzzöllen, andere leiden darunter; einige wünschen gewisse Eingriffe staatlicher Autorität, gewisse Gesetze und Regelungen, während andere unter besseren Bedingungen kämpfen, wenn sich die Regierung nicht in ihre Angelegenheiten einmischt.

Darüber hinaus herrscht ein ständiger Interessenwiderspruch zwischen einer jeden Berufsgruppe und den anderen Arbeitern, sofern letztere Konsumenten der Produkte der ersteren sind. Jede Lohnerhöhung einer Gruppe drückt sich in einem erhöhten Preis ihres Produktes aus und schadet der Öffentlichkeit bis die Erhöhung der Löhne sämtlicher Berufsgruppen das Gleichgewicht wie der herstellt und den Vorteil der Lohnerhöhung zunichte macht.

So kam es, daß viele Arbeiterorganisationen, die durch die Initiative wenige großherziger, von Solidarität und stolzem Kampfgeist erfüllter Personen entstanden waren, schließlich ihre Forderungen mäßigten, sich korrumpierte und in geschlossene Korporationen verwandelten, je umfangreicher und mächtiger sie wurden und nur noch um das Interesse ihrer Mitglieder im Gegensatz zu dem der Nichtmitglieder besorgt waren.

Wenn wir zu alledem noch die parasitäre Bürokratie dieser Organisationen rechnen, die Führer, die sich an ihre Spitze stellen und - um sich dort zu halten - nicht besser als die Politiker ihr Spiel mit den antiproletarischen oder antilibertären Bestrebungen treiben, denen sie oft zu folgen gezwungen sind und schließlich die abstoßenden, doch unvermeidlichen Kontakte mit den Behörden, dann werden die Antipathie und die feindselige Haltung begreiflich, die einige Genossen - heute sind es meines Glaubens nur noch sehr wenige - den Arbeiterorganisationen gegenüber an den Tag legten.

Ist es denn für die Anarchisten ratsam, nützlich, ja überhaupt möglich, außerhalb der Arbeiterorganisationen zu bleiben oder sich nur passiv an ihnen zu beteiligen, nur insofern sie Arbeiter sind, die arbeiten müssen und nicht zu Streikbrechern werden wollen? Meiner Meinung nach wäre dies eine Dummheit, die in der Praxis auf einen Verrat an der Sache der Revolution oder, allgemeiner, an der Sache des Fortschritts und der Befreiung der Menschen hinauslaufen würde.

Die Arbeiterbewegung ist nunmehr einer der wesentlichsten Faktoren der Geschichte - heute und in der nächsten Zukunft. Sie außer acht zu lassen, hieße, sich außerhalb des wirklichen Lebens stellen, darauf verzichten, spürbaren Einfluß auf die Ereignisse zu nehmen und zulassen, daß Sozialisten, Kommunisten, Klerikale und andere Regierungsparteien das Vertrauen der Massen gewinnen, indem sie die gegenwärtigen, oft geringfügigen und nur vorübergehenden, doch unmittelbar wichtigen Interessen der Arbeiter verteidigen oder zu verteidigen vorgeben. Haben sie erst einmal dieses Vertrauen gewonnen, dann nutzen sie es aus, um mit dieser oder einer anderen Ordnung an die Macht zu kommen und das Volk weiterhin in Knechtschaft zu halten.

Die für den Widerstand gegen die Unternehmer gebildeten Arbeiterorganisationen sind das beste Mittel, vielleicht das einzige, das allen zugänglich ist, um in ständigen Kontakt mit den großen Massen zugelangen, um die Propaganda unserer Ideen zu betreiben, um sie für die Revolution vorzubereiten und für jede vorbereitende oder entscheidende Aktion auf die Straße zu bringen. Sie vermitteln den noch gelehrigen und unterwürfigen Unterdrückten ein Bewußtsein ihrer Rechte und der Stärke, die sie in der Einheit mit ihren Gefährten finden können. In diesen Organisationen begreifen sie, daß der Unternehmer ihr Feind ist, daß die Regierung, schon ihrem Wesen nach Dieb und Unterdrücker, stets bereit ist, die Unternehmer zu schützen und bereiten sich geistig auf den totalen Umsturz der herrschenden Gesellschaftsordnung vor.

Außerhalb der Arbeiterassoziationen können wir weder mündliche noch schriftliche Propaganda betreiben, keine Arbeits- oder Aktionsgruppen bilden, nicht bei allen Gelegenheiten unseren Mann stehen: wir wären niemals imstande, dem Lauf der Ereignisse unsere Richtung zu geben und müßten uns anderen anschließen, anderen anbieten, die Nutzen aus unserer Arbeit und unseren Opfern ziehen würden zu Zwecken, die nicht die unsrigen oder den unsrigen sogar entgegengesetzt wären.

Im übrigen sind wir aufgrund unseres Programmes mehr als jede andere Partei an einer breiten Entwicklung der Arbeiterbewegung interessiert. Wir wollen nicht regieren und wollen, soweit es in unseren Kräften steht, verhindern, dass andere regieren, das heißt mit Gewalt die eigenen Pläne und sozialen Systeme durchsetzen. Wir wollen, daß sich die neue Gesellschaft nach dem freien, wechselnden und fortschreitenden Willen der Massen (zu denen natürlich auch wir gehören) entwickelt, und zu diesem Zwecke ist es nützlich, ist es notwendig, daß am Tage der Revolution eine größtmögliche Anzahl von wie auch immer organisierten Arbeitern vorhanden ist, die bereit sind, die Produktion fortzusetzen, die notwendigen Verbindungen unter den einzelnen Ortschaften und Berufsgruppen herzustellen, für die Verteilung und für alle Bedürfnisse des Lebens zu sorgen, ohne jemandem die Macht zu geben, mit der Gewalt der „roten Garden“ den eigenen Willen und die eigenen Interessen durchzusetzen. Meiner Meinung nach müßten die Anarchisten daher in alle Arbeiterorganisationen gehen, dort Propaganda betreiben, Einfluß erringen und sämtliche Aufgaben und Verantwortungen übernehmen, die mit ihrer Eigenschaft als Anarchisten vereinbar sind.

Dabei besteht natürlich die Gefahr der Anpassung, der Abweichung, der Korruption, und viele schmerzhafte und schimpfliche Beispiele lassen sich gegen meine These anführen.

Doch was ist zu tun? Will man handeln, dann muß man auch die Risiken des Handelns in Kauf nehmen, in diesem Fall moralische Risiken, und sie durch die Einhaltung einer fest umrissenen Verhaltensrichtschnur und durch ständige gegenseitige Kontrolle unter den Genossen zu verringern suchen.

Wenn es Genossen gibt, die die Anarchie als ein Ideal individueller und gesellschaftlicher Vervollkommnung betrachten, das vielleicht in einigen tausend Jahren verwirklicht wird, und glauben, daß alles, was heute zu tun ist, sich darauf beschränkt, die Fackel des Glaubens für einige wenige weiterbrennen zu lassen, dann haben sie gute Gründe, sich in sicherer Entfernung von unsauberen Kontakten und kompromittierenden Positionen zu halten.

Doch die große Mehrheit der Anarchisten und besonders die Mitglieder der U.A.I. (1) sind der Auffassung - wenn ich sie richtig verstehe - , daß der Einzelne sich weder vervollkommnen noch die Anarchie sich - nicht einmal in einigen tausend Jahren - verwirklichen würde, wenn nicht zuvor in einer von den bewußten Minderheiten durchgeführten Revolution die notwendigen Bedingungen der Freiheit und des Wohlstandes geschaffen werden. Aus diesem Grund wollen wir die Revolution so schnell wie möglich machen, und dazu müssen wir alle nützlichen Kräfte und alle geeigneten Gelegenheiten ausnutzen, die die Geschichte uns bieten mag.

Die Arbeiterorganisationen können nicht ausschließlich aus Anarchisten bestehen, und dies wäre auch nicht wünschenswert, denn dann wären sie ein unnützes Duplikat der anarchistischen Gruppierungen und würden ihren besonderen Zweck verfehlen. Die Anarchisten, die in diesen Organisationen arbeiten, können sich nicht immer als Anarchisten verhalten, wie man sich eben in der gegenwärtigen Gesellschaft nicht als Anarchist verhalten kann, aber sie können anarchistische Gruppen bilden, die eine Antriebs- und Kontrollfunktion ausüben und soweit wie möglich ihren anarchistischen Prinzipien treu bleiben müssen.

Es gibt in Italien verschiedene, große Arbeiterorganisationen. Wir müssen in allen aktiv sein und kämpfen, in allen kann man Propaganda betreiben und ein Vorbild an Tatkraft und solidarischer Gesinnung sein. Wo es nötig ist, müssen wir die Organisationen vorziehen, die uns am nächsten stehen, aber deshalb dürfen wir nicht die anderen dem Monopol unserer Gegner überlassen.

Wir müssen uns in der Arbeit, die wir in den verschiedenen Organisationen leisten, gegenseitig unterstützen und verständigen und unsere Haltung und unser Vorgehen bei den verschiedenen, sich uns bietenden Gelegenheiten absprechen und koordinieren.

In diesem Sinne würde ich vorschlagen, daß alle Anarchisten, die einigen Einfluß in den Arbeiterorganisationen haben, untereinander eine permanente Verständigung herstellen und in regelmäßiger Verbindung bleiben, um gemeinsames Handeln zu ermöglichen.

(Umanita Nova, 26., 27., 28. Oktober 1921)

Fußnoten:

(1) Die Unione Anarchica Italiana wurde im April 1919 auf dem Kongreß der Anarchisten in Florenz gegründet.

Aus: Errico Malatesta - Gesammelte Schriften, Band 2; Karin Kramer Verlag Berlin, 1980

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