Errico Malatesta - Arbeiterbewegung und Anarchismus

Um gewisse Mißverständnisse zu beseitigen, halten wir es für richtig, den folgenden Brief Malatestas an die Genossen der in Barcelona erscheinenden anarchistischen Zeitung „El Productor“ abzudrucken. (Anmerkung der Redaktion von Pensiero e Volonta)

Liebe Genossen,

In Eurer Zeitschrift lese ich folgenden Satz: „Zwischen Malatesta, der sich auf die Klasseneinheit beruft, und Rocker, der die Arbeiterbewegung mit anarchistischer Zielsetzung verteidigt, entscheiden wir uns für den deutschen Genossen“.

Es ist nicht das erste Mal, daß mir in unserer spanischsprechenden Presse Ideen und Ziele unterstellt werden, die nicht die meinen sind. Obgleich ein jeder, der meine Ansicht kennenlernen will, sie bereits klar in meinen Schriften ausgedrückt finden kann, möchte ich Euch trotzdem bitten, die folgenden Zeilen zu veröffentlichen.

Als erstes möchte ich Euch sagen, daß, stünden die Dinge so, wie Ihr sie darstellt, auch ich mich für den Genossen Rocker entscheiden würde und nicht etwa für diesen Euren „Malatesta“, dessen Ideen über die Arbeiterbewegung den meinen sehr wenig ähnlich sind.

Verstehen wir uns recht. Eine Arbeiterbewegung mit anarchistischer Zielsetzung ist etwas anderes als eine anarchistische Arbeiterbewegung. Erstere ist naturgemäß Wunsch von uns allen, denn es liegt auf der Hand, daß jede gesellschaftliche Aktivität der Anarchisten den Sieg der Anarchie zum Ziel haben muß, umso mehr wenn diese Aktivität in der Arbeiterbewegung ausgeübt wird, die eine so große Bedeutung im Kampf für die Besserstellung und Befreiung der Menschen hat. Dagegen ist die zweite, das heißt eine Arbeiterbewegung, die nicht nur der Propaganda und den möglichen schrittweisen Verwirklichungen der Anarchie dient, sondern bereits ausdrücklich anarchistisch ist, etwas, was mir unmöglich zu sein scheint und in jedem Fall das Ziel verfehlen würde, das wir der Bewegung geben wollen.

Was mir am Herzen liegt, ist nicht die „Klasseneinheit“, sondern der Sieg der Anarchie, die alle Menschen betrifft, und in der Arbeiterbewegung sehe ich nur ein Mittel, das sittliche Niveau der Arbeiter zu heben, sie an die freie Initiative und an die Solidarität im Kampf für das Wohl aller zu gewöhnen, kurz, sie in die Lage zu versetzen, ein Leben nach anarchistischen Grundsätzen zu verstehen, zu wünschen und zu verwirklichen.

Daher liegt der Unterschied, der zwischen uns bestehen mag, nicht in der Zielsetzung, sondern in der Taktik, die wir für am geeignetsten halten, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen. Einige glauben, daß die Anarchisten versuchen müssen, die anarchistischen Arbeiter in getrennten Assoziationen oder zumindest solchen, die Sympathie für die Idee des Anarchismus empfinden, zu organisieren. Ich dagegen möchte, daß alle Lohnabhängigen sich in den gleichen Organisationen zusammenfinden, welches auch ihre - gesellschaftlichen, politischen, religiösen - Überzeugungen (oder auch nicht) sein mögen, verbunden nur durch die Solidarität im Kampf gegen die Unternehmer, und daß die Anarchisten in der großen Masse bleiben, um das Ferment ihrer Ideen und ihres Vorbildes in sie hineinzutragen. Es mag sein, daß besondere, durch Personen, Umwelt, historischen Zeitpunkt bedingte Umstände die Spaltung der organisierten Masse der Arbeiter in verschiedene, den unterschiedlichen, gesellschaftlich-politischen Überzeugungen entsprechenden Faktionen ratsam oder unvermeidlich macht, aber grundsätzlich glaube ich, daß man Einheit anstreben muß, denn diese verbrüdert und gewöhnt die Arbeiter unterschiedslos an die Solidarität, die sie in den heutigen Kämpfen stärkt und sie besser auf den entscheidenden Kampf und die nach dem Sieg erforderliche Übereinstimmung vorbereitet.

Natürlich darf die Einheit, die wir propagieren müssen, nicht Unterdrückung der freien Initiative, obligatorische Einförmigkeit, erzwungene Disziplin heißen: dies hieße aus einer Bewegung mit dem Ziel der Befreiung einen Hemmschuh, eine Sackgasse machen. Allein unsere Unterstützung der Arbeiterbewegung vermag die Freiheit in der Einheit zu retten: ist dies nicht der Fall, wird die Einheit zwar trotzdem hergestellt, da sie Voraussetzung der Stärke ist, doch dann wird dies auf Kosten der Freiheit geschehen.

Die Arbeiterbewegung ist keine künstliche Schöpfung von Ideologen, mit dem Zweck, ein bestimmtes gesellschaftlich-politisches Programm, sei es anarchistisch oder nicht, zu verfechten und zu verwirklichen, mit dem Zweck, in ihrem Verhalten und ihren Aktionen der Linie zu folgen, die dieses Programm vorschreibt: sie entsteht aus dem Wunsch und dem unmittelbaren Bedürfnis der Arbeiter, ihre Lebensbedingungen zu verbessern oder zumindest zu verhindern, daß sie sich verschlechtern. Sie muß daher in der gegenwärtigen Gesellschaft leben und sich entwickeln können und hat zwangsläufig die Tendenz, ihre Forderungen auf das im Augenblick Mögliche zu beschränken. Es kann sehr wohl geschehen - und geschieht sogar oft - , daß die Initiatoren von Arbeitervereinigungen Personen sind, die in ihren Vorstellungen auf radikale gesellschaftliche Umgestaltungen abzielen, von den Bedürfnissen der Masse profitieren und in ihnen den Wunsch nach Verbesserungen wachrufen, wobei sie in erster Linie ihre eigenen Zukunftsziele im Auge haben. Sie scharen Genossen mit der gleichen Anschauung um sich, die, zu jedem Opfer bereit, für die Interessen der anderen auch auf Kosten der eigenen zu kämpfen bereit sind. Auf diese Weise entstehen Arbeiterassoziationen, die in Wirklichkeit politische und revolutionäre Gruppen sind, für die die Lohnfrage und Fragen der Arbeitszeit und der internen Fabrikregelungen zweitrangig und eher ein Vorwand dafür sind, die Masse zu mobilisieren, für die eigenen Ideen Propaganda zu treiben und die Kräfte für die entscheidende Aktion vorzubereiten.

Je mehr jedoch die Anzahl der Mitglieder wächst, desto mehr gewinnen die unmittelbaren Interessen die Oberhand; die revolutionären Bestrebungen werden ein Hindernis und eine Gefahr, die „praktischen“, konservativen, reformistischen Personen, die zu allen Vergleichen und Kompromissen bereit sind, die die Umstände erfordern, geraten in Widerspruch zu den Idealisten und Unnachgiebigen, und die Arbeiterorganisation wird zu dem, was sie im kapitalistischen System zwangsläufig sein muß: ein Mittel nicht des Kampfes gegen die Ausbeuter, sondern ein Mittel, ihren Forderungen eine Grenze zu setzen.

Dies ist stets geschehen und geschieht unweigerlich, denn bevor die Masse die Idee und die Kraft hat, den ganzen gesellschaftlichen Organismus von der Basis her zu verändern, hat sie den Wunsch nach bescheidenen Verbesserungen und bedarf eines Organs, das ihre unmittelbaren Interessen verteidigt, das heißt das reale, jetzige Leben, während gleichzeitig das ideale Leben der Zukunft vorbereitet wird.

Was müssen die Anarchisten tun, wenn die Arbeitervereinigung aufgrund des Zulaufs der nur von ökonomischen Bedürfnissen in die Organisation getriebenen Masse aufhört, eine revolutionäre Kraft zu sein und zum ausgleichenden Faktor zwischen Arbeit und Kapital und vielleicht sogar zum Element der Erhaltung der herrschenden Gesellschaftsordnung wird?

Manche Genossen sind der Meinung, daß man sich zurückziehen und Minderheitsorganisationen gründen muß, was sie zum Teil auch getan haben. Meiner Meinung nach heißt dies jedoch, daß man sich dazu verurteilt, ständig wieder von vorne zu beginnen, denn wenn die neue Organisation nicht eine bloße Nebenorganisation bleiben will, die im Kampf der Arbeiter nicht zählt, dann wird sie die gleiche Entwicklung durchmachen wie die Organisation, von der sie sich abgespalten hat. Unterdessen wird sie jedoch Keime der Uneinigkeit innerhalb der Arbeiterschaft säen, ihre besten Kräfte in der Konkurrenz mit der Mehrheitsorganisation vergeuden, während sie dann später von Fall zu Fall mit der Mehrheit einig werden muß, sei es aus Solidarität, im Interesse der eigenen Mitglieder oder um nicht das Spiel der Unternehmer zu spielen.

Eine Arbeiterorganisation, die sich als anarchistisch bezeichnen und auch wirklich so bleiben würde und auch nur aus überzeugten Anarchisten bestehen würde, könnte unter bestimmten Umständen eine sehr nützliche Form anarchistischen Zusammenschlusses sein, aber sie wäre nicht mit der Arbeiterbewegung identisch, sie würde den Zweck dieser Bewegung verfehlen, der darin besteht, die große Masse für den Kampf zu gewinnen und - das gilt besonders für uns - ein weites Propagandafeld zu schaffen, um neue Anarchisten zu gewinnen.

Aus diesen Gründen bin ich der Auffassung, daß die Anarchisten in den bestehenden Organisationen bleiben müssen - natürlich nur, wenn dies mit Würde und Unabhängigkeit möglich ist - , um sie so weit wie möglich im Sinne ihrer Überzeugungen zu beeinflussen, bereit, sich in den kritischen Augenblicken der Geschichte des Einflusses zu bedienen, den sie möglicherweise in ihren Reihen erworben haben, um sie dann mit einem Male aus bescheidenen Waffen der Verteidigung in mächtige Instrumente des Angriffs zu verwandeln.

Dabei darf natürlich die eigentliche, die ideelle Bewegung, die das Wesentliche ist und der alles Übrige als Mittel und Werkzeug dienen muß, nicht vernachlässigt werden.

Euer für die Anarchie

Errico Malatesta

(Pensiero e Volonta, 16. Dezember 1925)

Aus:
Errico Malatesta - Gesammelte Schriften, Band 2; Karin Kramer Verlag Berlin, 1980

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