Interview mit der Erich-Mühsam Gesellschaft
Das folgende Interview führte das Punkfanzine “PlasticBomb” mit der Lübecker Erich-Mühsam-Gesellschaft.
Dass Texte gemeinfrei sind heißt nicht, dass sie auch veröffentlicht werden. Erich Mühsam ist eine der bekanntesten deutschsprachigen Stimmen des Anarchismus geworden, obwohl seine Texte jahrzehntelang unter Verschluss gehalten wurden – und das nicht von nur einem Staat, sondern gleich mehreren. Die „Befreiung der Gesellschaft vom Staat“ sollte eben nicht mehr sein als ein kaum bekannter Aufsatztitel. Auf der anderen Seite setzen sich engagierte Leute umso mehr für die Erinnerung an Mühsam ein. Die Erich Mühsam Gesellschaft (EMG) in Lübeck zum Beispiel trägt seit fast 25 Jahren seine Gedanken und Texte weiter und unterstützt ihre Verbreitung. Deshalb traf ich mich mal mit Conrad von der EMG und wir sprachen u.a. über die schwierige Veröffentlichungsgeschichte Mühsams, über die EMG selbst und darüber, was eigentlich passiert, wenn anarchistische Texte bei der GEMA landen.
Hallo Conrad! Die EMG pflegt seit 1989 das Andenken von Erich Mühsam und hat dafür die Organisationsform des Vereins gewählt. Wie verträgt es sich denn in der Praxis, an einen Anarchisten in einer doch recht hierarchischen Struktur mit Vorstand usw. zu erinnern?
Das geht wunderbar. Die Vereinsform an sich ist ja weder konservativ noch revolutionär oder sonst was… es ist bloß eine Organisationsform und da wir ein ideeller und gemeinnütziger Verein sind, kann man unsere Arbeit mit von der Steuer absetzbaren Spenden unterstützen. Früher gab es zum Beispiel ja auch die Arbeiterbildungsvereine. Dass wir kein starrer Verein sind, sieht man z.B. daran, wie die Mitgliederversammlungen ablaufen – einmal im Jahr als großes Treffen. Gerade versuchen wir, einzelne Arbeitskreise aufzubauen und den Verein umzustrukturieren, damit wir vielleicht noch mehr Leute integrieren können.
Und was genau macht die EMG? Wie viele Mitglieder gibt es, wie alt sind sie und was wird im Einzelnen so veranstaltet und veröffentlicht?
Wir haben ungefähr 180 Mitglieder mit leicht internationaler Aufstellung, aber ich persönlich kenne zur Zeit nur ein Mitglied, das aus Italien ist. Auf jeden Fall ist die Gesellschaft bundesweit aktiv, es gibt Mitglieder aus allen Ecken der Republik. Was die Altersstruktur angeht, merken wir schon, dass das Wort Verein doch abschreckend wirken mag, weil viele vielleicht denken „oh Gott, Kaninchenzüchter“ oder sonstwas in der Art. (lacht) Wir haben fast nur ältere Mitglieder und suchen immer wieder jüngere. Um das aber auch nochmal klarzustellen… wir sind keine anarchistische Vereinigung, wie man vermuten könnte, sondern eine literarische Gesellschaft. Von denen gibt es eine ganze Menge, z.B. für die linken Autoren Oskar Maria Graf, Ernst Toller und Peter Hille. Das Anliegen unseres Vereins oder der Gesellschaft – wir sagen immer lieber Gesellschaft… – ist es tatsächlich das Werk, die Person und Ansichten von Erich Mühsam zu transportieren, kennen zu lernen, seine Bezüge zu seinen damaligen Zeit- und Streit-GenossInnen zu erarbeiten und ebenso zu SchriftstellerInnen, die nicht unbedingt GenossInnen waren. Dazu machen wir einmal im Jahr eine Versammlung, die als Tagung oder Treffen läuft, mit themenzentriertem Programm. Die letzte im Mai 2012 trug wie das Slime Album den Titel „Sich fügen heißt lügen“. Wir haben das allerdings etwas umfangreicher nach dem Original zitiert: „Auch wenn sie mich erschlügen, sich fügen heißt lügen“. Dieser kleine Vorsatz war uns sehr wichtig. Dann machen wir noch ab und zu, eher sporadisch, ein paar Lesungen und Musikveranstaltungen. Und „zwischendurch“ geben wir vor allem noch regelmäßig zwei Heftreihen raus. In der einen werden jedes Jahr die Beiträge zur Tagung veröffentlicht und in der anderen, dem Mühsam-Magazin, werden themenbezogene Ausgaben publiziert.
Warum hält die EMG auch fast 80 Jahre nach Mühsams Tod noch die Verbreitung seines Werkes für ein wichtiges Ziel? Auf den ersten Blick erscheint er ja bereits als einer bekanntesten und am meisten gelesenen deutschsprachigen Anarchisten.
Meine ganz persönliche Motivation ist, dass ich selber noch zu den 68ern gehöre und wir in unserer Jugend das große Problem der Schriftlosigkeit hatten. Wenn man irgendwo mal in ner Bibliothek Texte für eine linke Theoriebildung oder von linken DichterInnen gefunden hat, hat man die dann kopiert und angefangen, Raubdrucke rauszubringen. Aber der Hauptgrund heute ist wohl eher, dass es immer noch keine vollständige Werkausgabe von Mühsam gibt. Vieles ist zwar irgendwo mal veröffentlicht worden, allerdings wurden meistens auch nur die bekanntesten Texte immer wieder nachgedruckt. Der Guhl-Verlag in Berlin hat in den 70er und 80er Jahren einige eher selten veröffentlichten Texte herausgegeben. Mühsam hat zum Beispiel auch Theaterstücke geschrieben, was wenige wissen. Den Verlag gibt es aber eigentlich nicht mehr, sodass diese Werke zum Beispiel nur alle zwei Jahre noch mal antiquarisch angeboten werden, für 8 bis 70 Euro. Das gilt zum Beispiel auch für die Gedichtbände. Eine Gesamtausgabe fehlt bis heute, zum Teil aus politischen, zum Teil aus Kostengründen; das ist sehr schade.
Ein großes Projekt ist derzeit die Veröffentlichung der Mühsam-Tagebücher. Online werden zurzeit alle 35 erhaltenen (von eigentlich 42) recht dicken Tagebuch-Hefte eingepflegt. Bis 2018 sollen die Tagebücher im Verbrecher Verlag in 15 Bänden auch gedruckt erscheinen, damit werden sie erstmals vollständig veröffentlicht. Warum hat das so lange gedauert, was ist vorher mit ihnen geschehen?
Zunächst mal würde ich gern erwähnen, dass dieses riesen Onlineprojekt nicht von der EMG bewältigt wird, das machen zwei einzelne Leute in Berlin, Chris Hirte und Conrad Piens. Mit der Herausgabe der Werke haben wir generell kaum was zu tun, aber wir dokumentieren sie natürlich, denn dazu gibt es eine lange spannende Geschichte, die auch die Tagebücher betrifft. Dass sie jetzt „vollständig“ erscheinen, ist nicht ganz richtig. Zenzl Mühsam, Mühsams Frau, ist 1936 auf der Flucht vor den Nazischergen über die Tschechoslowakei nach Moskau emigriert. Sie hatte damals die Manuskripte im Gepäck und hat sie dort dem Gorki-Institut gegeben, in der Annahme, dass man sie dort auch veröffentlichen würde. Wurden sie aber nicht, zumindest nicht vom Institut, sondern erst deutlich später und auch dann nicht vollständig. Teile der Originaldokumente sind in die DDR gekommen, und für einige Teile heißt es, es sind eben auch einige Hefte „verloren gegangen“. Es gibt Tagebücher, die fehlen, die sind verschwunden, und keiner weiß, wo die geblieben sind. Die gesamten Tagebücher und Manuskripte befinden sich immer noch im Gorki-Institut in Moskau. Ob das Institut den Textbestand schon zensiert hat oder das Material dann, als Teile in die DDR kamen, nochmal „sortiert“ worden ist… oder ob wirklich einfach nur auf dem Transportweg was verloren gegangen ist, das weiß keiner so genau. Als Anarchist war Mühsam auf jeden Fall sowohl im Osten als auch im Westen ungern gesehen und wurde ungern veröffentlicht.
Hat Zenzl die Texte dem Gorki-Institut denn freiwillig überlassen?
Ich würde sagen jein. Zenzl ist wie viele andere EmigrantInnen in der Zeit des Großen Terrors durch die Stalinisten ziemlich schlecht behandelt worden, wenn man das höflich ausdrücken will. Sie war acht Jahre im Arbeitslager und wurde 1949 eigentlich „auf ewig“ nach Nowosibirsk verbannt, wo sie erst 1954 frei kam. Auf jeden Fall hat sie die Texte nicht übergeben, damit sie lediglich an einem sicheren Ort liegen. Ihr Anliegen war immer eine ungekürzte und unzensierte Veröffentlichung. Und diese Erwartungen, die sie hatte, bzw. die Vereinbarungen wurden nicht erfüllt bzw. eingehalten. Auch später in der DDR nicht, wo nur mal einzelne Mühsam-Bände in kleiner Auflage erschienen sind. Auf der Homepage zu den Tagebüchern (http://www.muehsam-tagebuch.de/tb/vorwort.php) ist der Umgang der DDR mit dem Mühsam-Werk in zwei Sätzen ganz gut zusammengefasst: „1956 erhielt die Ostberliner Akademie der Künste von der SED den Auftrag, die aus Moskau eingetroffenen Mikrofilmkopien des Mühsam-Nachlasses vor öffentlicher Neugier zu schützen. So dauerte es fast weitere vierzig Jahre, bis 1994 bei dtv eine erste Auswahl aus den Mühsam-Tagebüchern erscheinen konnte, die allerdings nur etwa fünf Prozent des Gesamttextes umfaßt.“
Fünf Prozent des Gesamttextes; das sind 350 von 7000 Seiten. Über 6500 Seiten unveröffentlichtes Material werden mit den Tagebüchern also erst seit 2009 zugänglich gemacht. In Ausgabe 6 des EMG-Magazins ist darüber hinaus für die 90er Jahre noch ein komplizierter Urheberrechtsstreit dokumentiert. Kurz gesagt, was kam da nach Jahrzehnten politischer Zensur an Schwierigkeiten noch hinzu?
Von Mühsam-Erben, die Ende der 30er Jahre nach Israel geflüchtet sind, hat die EMG 1996 Rechte für Textveröffentlichungen übertragen bekommen. Daraufhin ging ein Streit los, ob die Rechte überhaupt bei den Nachkommen liegen, oder nicht doch bei der Akademie der Künste in Ostberlin als „literarischem Nachlassverwalter“. In Heft 6 stellt Chris Hirte seine Hypothese vor, inwieweit die Rechte der Berliner Akademie durch Manipulation erwirkt gewesen sein könnten. Was zum Beispiel Zenzls Testament angeht, soll sie kurz vor ihrem Tod gar nicht mehr in der Lage gewesen sein soll, irgendwas zu schreiben… es wurde in Frage gestellt, ob ihr das Testament zum Teil nicht quasi diktiert wurde. Der große Verdacht war aber nicht, dass die Akademie aus kommerziellen Gründen die Rechte haben wollte, sondern vielmehr, dass weitere Veröffentlichungen verhindert werden sollten und dafür die Rechte okkupiert wurden. Es gibt ja diesen schrägen Begriff des „Linksabweichlers“, und Mühsam ist natürlich ein extremer Linksabweichler gegenüber dem Kommunismus marxistisch-leninistischer Prägung (Bolschewismus) gewesen. Während die KP in den 20er Jahren auf sozio- bzw. politökonomische Ansätze baute, zählte Mühsam zu den Anarcholeuten, deren Gesellschaftskritik von der Unterdrückung des einzelnen Menschen ausging und die daraus eine freiheitliche Lebensphilosophie machten. Ihm ging es nicht so sehr um Analysen der wirtschaftlichen Verhältnisse. Es gab damals z.B. die Künstlerkolonien als neue Lebensformen, quasi den Vorläufer der heutigen Alternativ- und Wohnprojekte. Unter dem Begriff der „Lebensreform“ hat sich da Hochinteressantes in jener Zeit abgespielt. Auf dem Monte Verità in Ascona in der Schweiz zum Beispiel hatte ein belgischer Industriellensohn mit anderen Frauen und Männern einen Hügel gekauft, auf dem es ein lebensreformerisches vegetarisches Sanatorium geben sollte. U.a. AnarchistInnen aus der Schweiz, Russland, Deutschland und anderen Ländern fanden sich hier ein, um neue Lebens- und Arbeitsformen zu entwickeln und zu praktizieren. Auch Mühsam war eine Zeitlang da und schrieb hier – leicht sarkastisch und ironisch wie immer – die Persiflage „Der Gesang der Vegetarier“.
Vom Staatssozialismus war Mühsam tatsächlich meilenweit entfernt; was ihn aber nicht daran hinderte, mit bestimmten Organisationen wie der damaligen Roten Hilfe (RHD) zusammenzuarbeiten. Ich denke eigentlich schon, man kann ihn „KP-nah“ nennen. „KP-nah“ bedeutete damals ja auch noch was anderes, als man es heute auslegen würde. Die Parteienlandschaft war ja viel feiner untergliedert als heute – und sehr differenziert auf Seiten der Linken. Es gab ja links von der SPD zunächst mal die USPD als radikalere Form, dann gab‘s die KP, es gab aber auch die KAPD, es gab die FAUD, es gab anarchistische Verbände, also eine Vielzahl von Organisationen, deren Mitglieder teilweise wiederum eben auch in anderen Organisationen, die nicht zu ihrer eigenen gehört haben, gearbeitet haben – um der Sache willen.
Seit dem Übergang der Texte in den Status als Gemeingut haben sich zumindest die Vervielfältigungsprobleme zum Teil erledigt. Im vergangenen Jahr haben auf dieser Grundlage zum Beispiel Slime ein ganzes Album mit Mühsam-Texten aufgenommen. Kennt die EMG das Album eigentlich und wenn ja, wie findet sie es?
Ob die EMG das Album kennt, entzieht sich eigentlich meiner Kenntnis! Ein Teil der Mitglieder –vor allem wohl die jüngeren – kennt es wohl, ein größerer Teil wohl eher nicht. Kommentare oder Urteile habe ich aus Kreisen der Mitglieder jedenfalls keine gehört – mit einer Ausnahme: der Sohn eines Mitgliedes scheint schwer begeistert zu sein von der Musik – so der Vater. Ich selber erfuhr von seiner Existenz eher zufällig. Kontakt mit der Band hatte ich bis vor kurzem nie, ich kannte sie auch vorher nicht. Irgendwann, als das Album erschien, ist mal vom vorhergehenden Vorstand eine Promo-Email an mich weitergeleitet worden, in der das Cover abgebildet war und ein allgemeiner Text dazu geschrieben stand. Der Absender sagte mir nichts. Dass bisher sonst kein Austausch stattfand, finde ich schade, weil wir solchen Projekten eigentlich sehr positiv gegenüberstehen. Anlässlich des letztjährigen Todestages von Mühsam gab es zum Beispiel auch ein Treffen, eine Gedenkveranstaltung mit Mitgliedern der EMG und anderen Leuten an seinem Grab in Berlin-Dahlem. Da hatte im Vorfeld jemand gefragt, ob nicht jemand die Slime-CD mitbringen könnte. Wir hätten es gut gefunden, wenn uns die Band das Album für unser Archiv geschickt hätte… natürlich können wir es auch kaufen, aber irgendwie wäre das schon eine Geste gewesen. Zumal sie auch Leute sind, die sich offensichtlich schon länger mit Mühsam befasst haben. Trotzdem haben wir für längere Zeit einen Hinweis auf die CD und einen Link zur Band auf unserer Homepage platziert, um sehr deutlich auf diese Veröffentlichung hinzuweisen. Na ja, und wie ich sehen konnte, leitet die Gruppe Slime auf ihrer Homepage unter dem verlinkten Namen Erich Mühsam InteressentInnen per Klick auf unsere Homepage weiter. Inzwischen – das möchte ich betonen – besteht nach einem Telefonat zwischen dem Manager von Slime und mir ein guter Kontakt. Und: es ist sogar geplant, im 2. Halbjahr 2014 gemeinsam ein Konzert in Lübeck zu veranstalten, ein echtes Gemeinschaftsprojekt zwischen Slime, der EMG und möglicherweise noch anderen PartnerInnen. Das alles finde ich natürlich sehr gut. Darüber freue ich mich auch. Und das ist – ich erwähne es gerne – auch etwas, das im Zusammenhang mit diesem Interview klar geworden und gewachsen ist. Auch das freut mich sehr.
Kennst du denn andere musikalische Bearbeitungen von Mühsam?
Da fallen mir vor allem die recht berühmten Mühsam-Lieder von Ernst Busch ein. Der „Revoluzzer“ von Slime klingt auch ähnlich wie die Version von Busch, wie ich finde, was sich einfach aus der Textstruktur ergibt, es ist ja sozusagen alte Demonstrationsmarsch-Musik.
[Anm: Die nächste Frage beschäftigte sich ursprünglich mit der Verwendung der Mühsam-Texte auf dem Slime Album „Sich fügen heißt Lügen“ und mit ihrer Verwertung bei der GEMA. Bis vor einer Weile waren im Online-Werkregister der GEMA zwei Bandmitglieder als „Textdichter“ des Albums, also als Autoren der Texte eingetragen. Ich fragte daher Conrad, wie er es fände, dass aus dem Aussuchen und leichten Ändern von Mühsam-Texten auf dem GEMA-Papier nun so eine neue Urheberschaft geworden sei. Slime bekamen das Interview vor der Veröffentlichung allerdings auch zu lesen, das fand ich fairer, und sie teilten mit, dass im Werkregister nur ein Darstellungsfehler vorliege, der behoben werde. Die beiden Bandmitglieder seien eigentlich gar nicht als Autoren der Mühsam-Texte eingetragen, als „Textdichter“, sondern lediglich als „Bearbeiter“. Die ursprüngliche Frage wurde deshalb verworfen, aber es ergaben sich im Austausch mit der Band neue Infos, die in die nächste Frage eingeflossen sind.]
Slime haben auf ihrem Album die Texte Mühsams fast 1:1 übernommen, was ja weder etwas total neues noch verwerfliches ist. Wenn man allein danach geht, haben Busch und andere Mühsam ja auch „nur“ vertont, sich sogar weniger Mühe mit der Adaption der Texte gemacht. „Sich fügen heißt lügen“ wurde aber als Album bei der GEMA angemeldet und es bleibt die Frage, wie es eigentlich mit der Verwertung anarchistischer Texte ausschaut, wenn diese verarbeitet in Songs dort landen. Es hat sich jetzt herausgestellt, dass Slime keine direkte Ausschüttung erhalten, weil sie als Bearbeiter der Mühsam-Texte bei der GEMA eingetragen sind. Stattdessen läuft es so: Weil an Mühsam selbst die Einnahmen ja nicht mehr ausgeschüttet werden können, also weil sie nicht direkt einem Autoren/einer Autorin zugeordnet werden können, werden sie über einen Verteilungsschlüssel einfach an alle GEMA-Mitglieder ausgezahlt. Das bedeutet aber auch, dass sehr erfolgreiche GEMA-Mitglieder wie z.B. Dieter Bohlen ihren entsprechenden Anteil daran verdienen. Was sagst du dazu?
Quelle catastrophe!!!! Dieter Bohlen? Und womöglich auch noch Heino oder andere Sympathieträger wie die Wildecker Herzbuben oder andere Systemträger und Katastrophanten. Das kann doch wohl nicht wahr sein… völlig daneben ist das in meinen Augen. Gut, der französische Anarchist Proudhon hat gesagt, Eigentum ist Diebstahl. Aber mal ernsthafter: Das ist schon sehr problematisch in meinen Augen. Grundsätzlich ist ja erstmal alles, was an Publikationen rauskommt oder in künstlerischer Gestaltung oder Umgestaltung an Mühsam erinnert, zu begrüßen. Wenn Slime sich in der GEMA wirklich als „Textdichter“ eintragen lassen hätten, wäre das aus meiner Sicht so nicht okay gewesen, denn die urheberechtliche Lage hätte sich laut Auskunft der GEMA jedenfalls schon geändert … und das kann und will ich auf keinen Fall gutheißen. Die Texte Mühsams sind nun mal urheberrechtlich gemeinfrei und sollten es auch bleiben. Das ist für uns als ehemalige Rechteinhaber natürlich auch ein harter Brocken, aber so ist nun mal die rechtliche Lage. Ein schwieriges Feld, unerquicklich. Sagen wir es mal mit Volkesmund: am Besten ist, es bleibet dabei, die Gedanken sind frei! Aber inzwischen hat zumindest Slime tatsächlich und sofort nach Vorlage Deines Interviews zur fairen Vorab-Information und dem Bekanntwerden der Implikationen des Versehens – die ganze Sache sofort in unser aller Sinne korrigiert. Das hat mich sofort überzeugt. Für mich ist klar, dass sie keine pekuniären Absichten hatten. Das glaube ich ganz sicher. Ein sehr positiver Effekt. Wenn jetzt auch noch das Problem geregelt werden würde, dass die Einnahmen aus Mühsam-Texten nicht nach dem genannten Schlüssel an alle möglichen Leute verteilt werden würden, sondern beispielsweise an Institutionen, die in einem engen inhaltlichen Zusammenhang mit den Texten dieses sonst doch eher geschmähten Anarchisten stehen (z.B. literarische Gesellschaften, die normalerweise ja ein eingetragener Verein sind mit anerkannter Gemeinnützigkeit und immer sehr dringend Geld für ihre Arbeit brauchen und was für alle Dichter und Komponisten gelten sollte, deren Werke gemeinfrei geworden sind) verteilt werden, dann wäre das eine Sache, die ich sehr begrüßen würde.
Die GEMA und musikalische Verwertung sind hierbei natürlich zu Recht ein großes Streitthema…
Slime leben ja auch davon und wollen was essen. Also ich hab gar nichts gegen diesen kommerziellen Aspekt. Die GEMA, eine oft sehr umstrittene Einrichtung, trägt ja Sorge dafür, dass KünstlerInnen eine bestimmte Einnahme bekommen, wenn ihre Werke aufgeführt oder abgespielt werden. Das finde ich eigentlich eine sehr sinnvolle Sache. Das ist quasi eine Garantie für ein gewisses Grundeinkommen, und auch die Menschen, die bei der GEMA arbeiten, haben damit einen vielleicht ganz okayen Beruf. Da sollte man schon sozial denken und jedem ein Einkommen zugestehen. Mühsam war auch ein Leben lang knapp mit Kohle, der hätte sich sicherlich gefreut, wenn er was für seine Texte bekommen hätte. Er kommt ja aus ner Apothekerfamilie und er hat auch ein bisschen was geerbt, also er hatte auch Einnahmen. Aber er ist eigentlich bekannt dafür, zumindest für seine Zeit in München, dass er sich Geld gepumpt hat, um anderen Leuten Geld zu pumpen. Er war sehr empathisch und zu seiner Zeit haben sich gerade die KünstlerInnen, also MalerInnen, LiteratInnen, TänzerInnen und so weiter gegenseitig unterstützt. Da haben sich viele was geliehen, um es dann an andere weitergeben zu können. In der Szene gab’s ja auch ein großes Elend. Das ist auch noch ein Unterschied zur KP… die Partei kümmerte sich um die Arbeiterklasse, das Proletariat; Mühsam und andere eher um Lebenskunst und Subproletariat, das berühmte Lumpenproletariat zum Beispiel. Aber auch um alle anderen, insbesondere um den einzelnen Menschen in der Gemeinschaft. Schon sozial, aber ohne Klassenbegriff, der wurde zwar auch benutzt, war aber für die anarchistische Auffassung nicht sehr passend.
… Um auf die GEMA zurückzukommen, es gibt so eine Verwertungsgesellschaft auch für Literatur, „VG Wort“ heißt die, glaube ich. Wenn von der EMG publizierte Texte über Mühsam verwendet werden, bekommen wir auch manchmal was. Das einzige, was mich an der Kommerzialisierung wirklich stört, ist, dass sie das Zwischenmenschliche auffrisst und dominiert. Aber solange Geld das allgemeine Tauschmittel ist, bin ich dafür, dass man das auch allen zukommen lässt und allen zugesteht. Es ist unsinnig zu sagen, MusikerInnen kriegen da nichts. Wenn die Einnahmen groß genug sind, könnten sie allerdings auch Projekte unterstützen. Die Frage, wie die Veröffentlichung von Mühsams Werk eigentlich finanziert werden kann, ist ja auch immer noch nicht abgeschlossen. Es gibt zwar das Projekt der Tagebücher und es sieht jetzt noch gut aus, dass der Verlag das umsetzen kann. Dann ist aber auch die Frage, wie es weitergeht.
Die Verwertung von Musik nimmt im Gegensatz zu Literatur schon nochmal andere Ausmaße an, nicht umsonst gibt es ja auch den gesetzlichen Festpreis für Bücher, weil damit viel weniger verdient wird. Erscheint ein Album, bedeutet das für MusikerInnen oft gleichzeitig auch, für Festivals und Konzerte gebucht zu werden, Gagen zu erhalten und neues Merchandise zu produzieren. Die Verwertung passiert weniger durchs Album, das Werk an sich, als vielmehr durch die „Aufführung“, wie es die GEMA jetzt altbacken ausdrücken würde. Natürlich gibt es auch Lesungen und Lese-Touren, aber wohl noch in einem ganz anderen Verhältnis.
Grundsätzlich bin ich kein Freund des Mammonismus. Man muss nicht immer alles in Geld umsetzen. Aber ich kann wie gesagt verstehen, wenn jemand z.B. von der Musik leben möchte. Die EMG läuft seit 24 Jahren grundsätzlich ehrenamtlich; aber wir haben zum Beispiel das Problem, dass Leute sich den Besuch unserer Tagungen mitunter nicht leisten können. Wir haben so einen Tagungssatz von 120 Euro für 3 Tage Übernachtung, Essen und Programm, und wir werden ein bisschen subventioniert von einer Stiftung in Lübeck, von der Stadt Lübeck (Anm.: Mühsam ist in Lübeck aufgewachsen), dem Land Schleswig-Holstein und auch von der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften. Für Leute, die wenig Einkommen haben, haben wir daher die Regelung eingeführt, dass die Gesellschaft einen Teil der Kosten übernimmt, damit keiner aus Geldgründen ausgeschlossen ist. Das können wir aber nur bis zu einem bestimmten Punkt leisten, weil dann die Kohle halt alle ist, ganz klar. Auch andere Leute, zum Beispiel die anarchistischen bundesdeutschen Verlage, haben 30 bis 40 Jahre ohne große Einnahmen gearbeitet.
Chris Hirte zum Beispiel möchte den Erich-Mühsam-Preis auch gar nicht bekommen, den wir als Gesellschaft an Personen oder besondere Projekte verleihen, die mit Erich Mühsam und seinem Werk, Denken und Wirken zu tun haben. Weil die Herausgabe der Tagebücher vom Verbrecher Verlag finanziert ist und Chris und Conrad ihren eigenen Anteil an der Arbeit und an der Herausgabe als komplett ehrenamtlich begreifen. Selbst den Provider für die Online-Tagebücher zahlt Conrad aus der eigenen Tasche. Aber trotzdem kann das Projekt natürlich unterstützt werden. Und grundsätzlich könnten mit mehr Unterstützung die Texte ja auch noch weiter zugänglich gemacht werden…
Das waren jetzt viele Einblicke, danke! Abschließend für alle, die vielleicht noch nie Mühsam gelesen haben, warum würdest du seine Schriften empfehlen und was wäre ein guter Einstieg ins Werk, wenn man nicht gerade tausende Seiten Tagebücher lesen möchte?
Empfehlen, weil er einer der wenigen war und ist, die tatsächlich konsequent einen anderen Lebensstil und andere soziale Verhältnisse gefordert haben – rebellisch, künstlerisch, literarisch. Mühsam war Philanthrop. Und trotz der ganzen Scheiße, die er erlebt hat, war und blieb er auch ein sehr humoriger Mensch. Die Tagebücher sind natürlich sehr spannend und online wie gesagt frei verfügbar. Ansonsten sind die „Unpolitischen Erinnerungen“ klasse. Vieles ist, wie angesprochen, auch nach wie vor vergriffen. Im Internet bekommt man einige alte Ausgaben, aber verlagsneu wenig.* In unsere Veröffentlichungen kann man auch gern mal reingucken. (lacht) Zum Beispiel das Heft über Mühsam und die Frauenbewegung. Mühsam hatte weniger Kontakt zur politisierten Frauenbewegung, als zu Bohéme-Zirkeln und Persönlichkeiten wie Franziska „Fanny“ zu Reventlow, der „missratenen“ Tochter einer adeligen Familie.
Oh, da muss ich doch nochmal kurz einhaken. Mühsam hat über Frauen und seine Beziehungen zum Teil auch sehr fragwürdig geschrieben. Er hielt die Mutterrolle für unabdinglich, über eine Geliebte berichtete er in fast klinischer Sprache mal, eine „Deflorierung vorgenommen“ zu haben und darüber hinaus griff er zu abfälligen Bezeichnungen wie „Hurenweib“ – solche Prahlereien druckte selbst die Jungle World unkommentiert ab. Dazu fehlt eine Auseinandersetzung bislang noch.
Ich würde ihn schon als einen der fortschrittlichen bezeichnen. Franziska von Reventlow, mit der er befreundet war, hat ihn sehr beeindruckt, obwohl sie ihren freiheitlichen Lebensstil eher kulturell als politisch ausgelebt hat. Was auch kein Wunder ist, denn Bildung für Mädchen gab es ja faktisch fast nicht… gebildete Mädchen und Frauen wurden in der Gesellschaft als Bedrohung wahrgenommen. Wenn Frauen künstlerisch tätig werden wollten, ging das häufig mit einem Bruch mit der Familie einher. Aber ja, das stimmt auch schon. In den Tagebüchern gibt es Beschreibungen, in denen Mühsam sich als Frauenheld darstellt. In dem vergriffenen Buch „Sich fügen heißt lügen“ gibt es allerdings einen Tagebucheintrag, wo Mühsam sich selbst ein bisschen dekonstruiert und eingesteht, dass die „rasante Eroberung der Frau, weil sie das angeblich so möchte, nur eine Erfindung ist“, das ist der ungefähre Wortlaut. Vielleicht das als vorläufige Antwort dazu.
Danke für das ausführliche Interview!
* Inzwischen hat Christoph Holzhöfer, der auch viele Mühsam-Lieder vertont hat und singt, 3 preiswerte Hefte mit Mühsamtexten bei Books on Demand herausgebracht, die man überall bestellen kann.
www.erich-muehsam.de/
www.muehsam-tagebuch.de/tb/index.php
Quelle: Plastic Bomb
Originaltext: http://syndikalismus.wordpress.com/2013/11/30/interview-mit-der-erich-muhsam-gesellschaft/