Emma Goldmann 1869-1940. Anarchistin und Feministin
Vom Kampf für das Frauenstimmrecht hielt sie nichts, obwohl sie den Mut und die Energie der englischen Suffragetten bewunderte, denn das allgemeine Wahlrecht war für sie nur "ein moderner Fetisch". Es änderte ihrer Ansieht nach weder die gesellschaftlichen Verhältnisse noch die Menschen: "Die Frauen in Australien und Neuseeland können wählen und an der Gesetzgebung mitwirken. Aber sind die Arbeitsbedingungen dort besser als in England, wo die Suffragetten ihren heroischen Kampf führen? Gibt es dort eine schönere Mutterschaft, glücklichere und freiere Kinder als in England? Wird die Frau dort nicht mehr als Sexualobjekt betrachtet? Hat sie sieh von der puritanischen Doppelmoral für Männer und Frauen emanzipiert?"
Nach allem, was sie erlebt hat, glaubt sie nicht daran, daß ein paar Kreuzchen auf Stimmzetteln genügen sollen, um die Welt zu verändern.
Als Kind jüdischer Eltern wurde sie am 27. Juni 1869 in der Provinz Kowno im Nordwesten Rußlands geboren. Es ist eine unglaublich rohe und brutale Welt, die sie hier im zaristischen Rußland (wenige Jahre nach der Abschaffung der Leibeigenschaft) umgibt, und sie schafft es nicht, dagegen unempfindlich und abgestumpft zu werden, ist tief erschüttert, als sie miterlebt, wie ein Bauer von der Polizei mit der Knute ausgepeitscht wird, obgleich Grausamkeit in ihrer Umgebung etwas Alltägliches ist. Die einfache Bevölkerung ist fast rechtlos, und die Situation der Juden erschütternd. Demütigungen sind selbstverständlich, und immer wieder kommt es zu blutigen Pogromen.
Auch die Familie bietet für Emma wenig Schutz; die Mutter ist überarbeitet, zermürbt und hilflos, den Vater bezeichnet sie später als "den Alptraum ihrer Kindheit". Er ist verbittert, brutal und unbeherrscht, tyrannisiert die Familie und mißhandelt die Kinder. Er ist enttäuscht, daß Emma, sein erstes Kind, nur ein Mädchen ist, und als ihre Furcht vor ihm allmählich zu Haß und später zu Rebellion wird, kommt es zu scharfen Auseinandersetzungen.
Er versucht das Problem auf bewährte Art zu lösen und will seine aufsässige 17-jährige Tochter verheiraten. Emma wehrt sich verzweifelt, sie will sich nicht in eine Ehe einsperren lassen, will etwas lernen. Der Vater wirft ihre Bücher ins Feuer: "Mädchen brauchen nicht viel zu lernen", erklärt er. "Alles, was eine jüdische Tochter wissen muß, ist wie sie gefüllte Fische macht, Nudeln zubereitet und ihrem Mann vielw Kinder kriegt."
Juristisch ist der Vater im Recht, und nur mit einer Selbstmorddrohung erreicht Emma, daß er ihr die Auswanderung nach Amerika erlaubt.
Ihren Lebensunterhalt verdient sie dort durch Fabrikarbeit. Das ist nichts Neues für sie. Schon seit ihrem dreizehnten Lebensjahr hat sie gearbeitet, zuerst in den stickigen Räumen einer Handschuhfabrik, spater in einer Korsettfabrik. Aber obwohl die Kleiderfabrik in Rochester moderner ist, empfindet Emma die Arbeit als qualvoller als in Rußland. Dort hatten die Arbeiterinnen miteinander singen und sprechen dürfen, hier sind sie Teile der Maschinen, werden zur Eile angetrieben, dürfen ohne die Erlaubnis des Vorarbeiters nicht einmal zur Toilette gehen.
Aber es sind nicht nur die inhumanen Arbeitsbedingungen, die sie enttäuschen. In Petersburg, wo die Familie Goldman von 1882-86 gelebt hatte, war Emma mit der Gedankenwelt der russischen Revolutionäre in Berührung gekommen, hatte Leben und Widerstand gespürt. In Rochester gibt es einen kleinen deutschen sozialistischen Klub, dem sie sich anschließt, aber er erscheint ihr blaß in Erinnerung an die leidenschaftlich revolutionäre Stimmung in Petersburg.
Und dann lernt sie Jakob Kershner kennen, einen russisch-jüdischen Emigranten, sensibel, fähig zum Gespräch - die Familie, die inzwischen auch nach Amerika ausgewandert ist, ist glücklich, als sie 1887 einwilligt, ihn zu heiraten.
Die Ehe scheitert jedoch sehr schnell, denn Emma ist sofort allen Traditionen and Konventionen ausgeliefert: Als verheiratete jüdische Frau gehört sie ins Haus, muß ihre Arbeit aufgeben und damit ihre finanzielle Unabhängigkeit, und Kershner entwickelt sich schnell zum egoistischen, eifersüchtigen Ehemann.
Doch die Falle Ehe schnappt nicht ganz zu: Emma wird nicht schwanger. Die Ärzte sagen ihr, sie müsse sich einer Operation unterziehen, wenn sie Kinder haben wolle. Sie verzichtet - nicht ganz ohne Bedauern, aber in die enge Welt der Familie will sie sich nicht mehr einsperren lassen und in der kämpferischen Existenz der folgenden Jahre und Jahrzehnte ist kein Platz für Kinder.
1889 verläßt sie ihre Familie und geht nach New York. Es ist eine Flucht nach vorn. Die Zwanzigjährige will weiterkämpfen, aber nicht mehr in privater Vereinzelung, sondern zusammen mit Menschen, denen staatlicher und gesellschaftlicher Zwang ebenso zuwider ist wie ihr. Sie schließt sich den Anarchisten Johann Most und Alexander Berkman an.
Ihre Entwicklung zur Anarchistin ist nur logisch: Als Frau, Jüdin, Besitzlose, Arbeiterin und Immigrantin hat sie immer zu denen gehört, die von der staatlichen Macht nicht geschützt, sondern in ihren Rechten beschränkt wurden.
Ihre Hoffnung ist der von allen gesellschaftlichen Zwängen befreite Mensch. In kleinen Gemeinschaften, ohne Einmischung von außen, werden die Einzelnen freie Entscheidungen zu ihrem Besten und zum Wohl der Gemeinschaft treffen, wenn sie nicht mehr dem Zwang der Institutionen und Traditionen ausgesetzt sind. Von dieser Theorie Peter Kropotkins ist Emma überzeugt. Sie lebt danach, und sie kämpft dafür.
Das ist nicht immer ganz einfach, denn das schöne Wort Anarchismus, das einfach "ohne Herrschaft" (also Freiheit) bedeutet, war damals nicht weniger geächtet und zum Schimpfwort degradiert als heute.
Wie alle illusionslosen Anarchisten weiß sie, daß eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nur erreicht werden kann, wenn die Masse der Bevölkerung eine solche Veränderung will. Es geht also darum, die Massen aufzuklären und zu überzeugen, d.h. zu den Arbeitern zu sprechen.
Der von ihr bewunderte deutsche Anarchist Johann Most hat zwar erhebliche Vorurteile gegen Frauen in der Bewegung, ist aber bereit, Emma als Ausnahme zu akzeptieren; er unterstützt und berät sie bei ihren ersten Versuchen als Rednerin. Als sie nach einem halben Jahr vor einer großen Versammlung deutscher Emigranten in Rochester sprechen soll, wählt er das Thema und entwirft den Vortrag für sie. Mit seinen Ideen und ihrer dramatischen Vortragskunst muß es ein Erfolg werden, meint er. Aber trotz ihrer Bewunderung für Most widerstrebt es Emma, nur Sprachrohr und Werkzeug zu sein. Als sie die Rednertribüne betritt, hat sie Thema und Notizen Mosts vergessen und spricht von ihren Problemen und ihrer Zukunftsvision einer anarchistischen Gesellschaft ohne Unterdrückung. Die Zuhörer sind fasziniert.
Stolz erzählt sie Most von ihrem Erfolg, aber der ist empört, spricht von "Verrat", macht sich lustig über ihre Gedanken, sie ist für ihn "nur eine Frau". In den folgenden Jahren kommt es dann endgültig zum Zerwürfnis mit Most, während die Freundschaft mit Sascha (Alexander Berkman) trotz aller Belastungen ein Leben lang hält.
1892 wird in Homestead bei Pittsburgh ein Stahlarbeiterstreik blutig unterdrückt, Militär schießt in die Menge, zehn Streikende werden getötet, hunderte verletzt. Sascha und Emma sind viel zu jung und leidenschaftlich, um sich gegen eine so skrupellose Gewaltanwendung nur mit Worten zu wehren. Aus der Tradition der russischen Anarchisten gibt es die Vorstellung von einer "Propaganda der Tat". Wie 1881 die Ermordung des Zaren, so soll jetzt ein Akt der Vergeltung die Massen aufrütteln; Berkman plant ein Attentat auf den für das Massaker verantwortlichen Fabrikdirektor Frick. Um das Geld für die Waffe zu beschaffen, beschließt Emma, als Prostituierte auf die Straße zu gehen. Ihren Widerwillen argumentiert sie hinweg: Wenn Sascha sein Leben einsetzt, wird sie immerhin ihren Körper für ein oder zwei Nächte verkaufen können.
Sie macht sich sorgfältig zurecht und bemüht sich ernsthaft, die Rolle des Straßenmädchens zu spielen, aber obwohl sie damals noch sehr jung und hübsch ist, findet sie keinen einzigen Kunden, sie hat absolut kein Talent für diese Rolle. Schließlich gibt sie den Versuch auf und leiht sich das Geld für die Pistole von ihrer Schwester.
Berkman schießt auf Frick, verletzt ihn und wird zu 22 Jahren Zuchthaus verurteilt. Emma wird nur vorübergehend verhaftet und versucht in öffentlichen Reden die Motive des Attentats zu erläutern, stößt aber auch bei den einfachen Leuten fast überall auf empörte Ablehnung, sogar bei vielen Anarchisten. Nicht nur die terroristische Tat wird verurteilt, auch Saschas Motive werden mißverstanden, günstigstenfalls hält man ihn für einen Irren.
Emma leidet nicht nur seelisch unter der Feindseligkeit und Angst, die ihr begegnen. Niemand will ihr mehr Unterkunft geben, sie muß sogar zeitweise in Parks übernachten, bis sie schließlich ein Zimmer in einem Haus findet, wo man nicht viel nach den Personalien fragt. Es irritiert sie im ersten Moment, als sie erfährt, daß es ein Bordell ist, aber bald freundet sie sich mit den Straßenmädchen an und arbeitet als Näherin für sie.
Ihr Kampf für Alexander Berkman blieb erfolglos, aber in ihren Reden zu den Arbeitslosen - es gibt 1893 vier Millionen in den USA - findet sie bald große Resonanz. Wieder wird sie verhaftet und diesmal wegen "Anstiftung zum Aufruhr" zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.
Inzwischen hat die amerikanische Presse ein derart abschreckendes Bild von der "roten Emma" verbreitet, daß selbst ihre Mitgefangenen anfangs einen ängstlichen Bogen um sie machen. Als sie sich jedoch trotz Strafandrohung weigert, als Vorarbeiterin in der Näherei die anderen zur Arbeit anzutreiben, gewinnt sie deren Sympathie und Freundschaft.
Sie weigert sich auch, der Gefangnisleiterin russische Briefe von Mitgefangenen ins Englische zu übersetzen, und wird mit verschärfter Haft bestraft, erkrankt, kommt ins Gefängnishospital, und beginnt nach ihrer Genesung dort als Pflegerin zu arbeiten.
Viele politische Kämpfer haben das Gefängnis als Schule der Revolution bezeichnet. Für Emma ist es auch eine Schule des Feminismus. Hier ist sie ganz auf sich allein gestellt, sie spürt, daß sie die Anlehnung an Männer wie Johann Most und Alexander Berkman nicht mehr braucht.
Und sie hat in der Fabrik, im Bordell und im Gefängnis miterlebt, wie Frauen kaputtgemacht werden, wenn sie nicht so überdurchschnittlich stark und widerstandsfähig sind wie sie selbst. Auf den Vortragsreisen der Jahre 1896-97 wählt sie immer wieder Frauenthemen, greift vor allem die Zwangsinstitution Ehe an, die die Frauen einengt und nicht einmal den vorgeschobenen Zweck erfüllt, die Kinder zu schützen, sondern auch sie zu Untertanen macht. Sie verteidigt die "freie Liebe": "Als ob Liebe irgendetwas anderes als frei sein könnte!"
Trotz aller Anfeindungen sind Emmas Vortragsreisen ein Riesenerfolg. Daran, daß sie häufig mitten im Vortrag verhaftet wird, hat sie sich gewöhnt und für diese Fälle immer ein Buch als Lektüre bei sich. Im übrigen sei es ihr halbwegs egal, erklärt sie, ob sie im Gefängnis oder im Hotel übernachte.
Speziell für Frauenfragen zeigen aber auch die eigenen Kameraden nicht immer viel Engagement. Auf dem geheimen Internationalen Anarchistenkongreß 1900 in Paris, erlauben sie ihr nicht, einen Text von Kate Austen vorzutragen, der die sexuelle Freiheit für Frauen fordert. Sie fürchten die Öffentlichkeit zu sehr zu schockieren. Unter Protest verläßt Emma den Kongreß und besucht stattdessen ein Geheimtreffen des Neo-Malthusianischen Kongresses, der über Methoden der Schwangerschaftsverhütung und Geburtenkontrolle informiert. (Die Neo-Malthusianer propagieren aus bevölkerungspolitischen und sozialen Gründen eine bewußte Beschränkung der Kinderzahl, und zwar nicht mehr wie Malthus durch "Enthaltsamkeit", sondern durch die Verbreitung von Verhütungsmitteln und die Freigabe der Abtreibung).
Emma hat nach einer kurzen Ausbildung in Wien als Hebamme und Krankenschwester in den Slums von New York gearbeitet und weiß, wie nötig dieses Wissen gebraucht wird, kommt aber erst Jahre später dazu, es in öffentlichen Vorträgen weiterzugeben. Denn gegen ihren Willen tritt zunächst das Problem der Beziehung zwischen Anarchismus und Terrorismus in den Vordergrund.
In den zehn Jahren nach Berkmans Attentat auf Frick hat sich Emma immer weiter von den Ideen terroristischer Gewalttaten entfernt. Der Widerspruch bedrückt sie, daß die Attentäter "genau das tun zu müssen glauben, was sie am meisten verabscheuen: menschliches Leben zu zerstören".
Allerdings: "Verglichen mit der allgemeinen Gewaltanwendung von Kapital und Regierung sind diese politischen Gewaltakte nur ein Tropfen im Ozean", schreibt sie in dem Essay "The Psychology of Political Violence." Aber sie bedauert und bekämpft das populäre Schreckbild von den Anarchisten als bombenwerfenden Terroristen, weil es sie den Volksmassen entfremdet.
Da erschießt im September 1901 Leon Czolgosz den Präsidenten der Vereinigten Staaten, McKinley. Der junge Mann handelte als Einzelgänger, aber natürlich vermutet die Polizei eine "anarchistische Verschwörung." Eine Verhaftungswelle und allgemeine Anarchisten-Verfolgung setzt ein.
Emma hat Czolgosz nur einmal in ihren Vorträgen gesehen, kennt nicht einmal seinen Namen, wird aber aufgrund ihrer Berühmtheit als Anstifterin des Attentats verdächtigt und stellt sich freiwillig der Polizei, als die Zeitungen berichten, daß neun ihrer Chicagoer Freunde verhaftet worden sind und festgehalten werden sollen, bis sie gefunden ist. In brutalen Verhören versucht man durch Drohungen Geständnisse zu erpressen. Schließlich muß sie freigelassen werden, aber Czolgosz stirbt auf dem elektrischen Stuhl, und scharfe Gesetze gegen "Radikale" und "Staatsfeinde" werden erlassen. Emma ist zutiefst enttäuscht, wie wenig Widerstand sich gegen die Einschränkung der Meinungs- und Redefreiheit erhebt und daß die eigenen Kameraden zu feige waren, sich für Czolgosz Verteidigung einzusetzen.
Vorübergehend zieht sie sich sogar resigniert aus der politischen Arbeit zurück, aber schon nach einigen Monaten ist die persönliche Krise überwunden, und bald beginnt eine besonders aktive Periode: 1906 gründet sie die anarchistische Monatszeitschrift "Mother Earth", die 12 Jahre lang regelmässig erscheint, wenn sie nicht gerade von der Polizei beschlagnahmt wird, und in der auch viele Artikel zur Frauenfrage abgedruckt werden. So veröffentlicht sie hier im Januar 1910 ihren berühmten Essay "Marriage and Love", in dem sie die Parallelen zwischen Ehe und Prostitution aufzeigt.
1906 wird Alexander Berkman nach 14-jähriger Haft endlich entlassen. Körperlich und seelisch kaputt, braucht er Monate, um sich wieder zurechtzufinden, unternimmt auch einen Selbstmordversuch, spürt dann aber, daß er in der Gruppe um Emma gebraucht wird und übernimmt zeitweilig sogar die Redaktion von "Mother Earth", wenn Emma auf Vortragsreisen geht.
Auf einer solchen Vortragsreise lernt sie 1908 in Chicago einen abenteuerlichen Typ kennen: Dr. Ben Reitman "The Hobo King": Als die städtischen Behörden zu verhindern suchen, daß die gefährliche "rote Emma" einen Saal für ihren Vortrag bekommt, helfen die "Hobos", die Wanderarbeiter, mit einem alten Schuppen aus.
Während der folgenden Jahre begleitet Ben Reitman Emma auf ihren Vortragsreisen. Emmas New Yorker Freunde sind entsetzt über diesen faszinierenden, aber reichlich vergammelten Hippie Typ - umgekehrt fühlen sich Bens Chicagoer Freunde von ihm verraten und inszenieren sogar eine Zeremonie, in der sie ihn als "Hobo King" absetzen - aber Ben und Emma unterwerfen sich keinen Gruppenzwängen. Die Freiheit, die sie für andere fordern, nehmen sie auch für sich selbst in Anspruch.
Die Beziehung bleibt bei aller Intensität problematisch. Aber Ben ist nicht nur Liebhaber, sondern bald auch tüchtiger und engagierter Mitarbeiter in allen Schwierigkeiten und Risiken. Einmal wird er übel zusammengeschlagen, geteert und gefedert von Leuten, die sich an die berühmtere Emma nicht heranwagen, und als Emma 1915/16 eine aufsehenerregende Vortragsreise über Geburtenkontrolle hält, werden schließlich beide gemeinsam zu Haftstrafen verurteilt, denn die Verbreitung von Informationen über empfängnisverhütende Mittel ist damals gesetzlich verboten.
Inzwischen ist auch Amerika von Kriegshysterie erfaßt und rüstet auf. In "Mother Earth" kämpft Emma dagegen an und wird wieder einmal wegen "Verschwörung" vor Gericht gestellt. Diesmal zusammen mit Alexander Berkman. Es folgen Verhaftungen, Internierung und schließlich 1919 die Deportation nach Rußland.
Emma und Sascha hatten 1917 begeistert die Februarrevolution begrüßt, vorübergehend sogar geplant, zurück nach Rußland zu gehen und sich dort in den Dienst der großen Sache zu stellen. Voller Hoffnung betreten sie jetzt das Land, das sie Jahrzehnte vorher als Emigranten verlassen hatten.
Die weltberühmten Anarchisten werden in Petersburg ehrenvoll empfangen, und Emma und Sascha sind auch vollkommen bereit, hier die Verwirklichung ihrer revolutionären Traume zu erleben, selbstverständlich mit Zugeständnissen an die Schwierigkeiten und Probleme der Wirklichkeit.
Aber sehr bald regt sich Unbehagen. Gewiß ist da bei manchem, den sie treffen, ehrliche revolutionäre Begeisterung, aber warum gibt es diese Ungleichheit bei der Verteilung der Rationen? Warum beginnt eine verwirrende Bürokratie krebsartig zu wuchern? Warum haben so viele Menschen Angst? Rechtfertigt die außenpolitische Bedrohung wirklich die vielen Verhaftungen, Deportationen und Erschießungen? Können sie sich dieser Revolution anschließen, oder sollen sie sie kritisieren? Wird ihre Kritik nicht Beifall von der falschen Seite erhalten?
Schließlich bietet die Regierung Sascha und Emma Arbeit an: die Sammlung von Dokumenten für ein Museum der Revolution. Ein Eisenbahnwaggon wird ihnen als Büro und Wohnung zur Verfügung gestellt, in dem sie kreuz und quer durch die Sowjetunion reisen, Material für ihr Museum sammeln und immer mehr Zwang, Ungerechtigkeit und Terror kennenlernen. 1921 beantragen sie tief enttäuscht ein Ausreisevisum. Ihre Erlebnisse beschreibt Emma später in dem Buch "My Disillusionment with Russia".
Zunächst aber beginnt eine qualvolle Odyssee durch Europa. Kein Land will den beiden berüchtigten Anarchisten eine Aufenthaltsgenehmigung geben. Auch das Verhältnis zu vielen ehemaligen Freunden ist gespannt: Sie mochten sich ihren Glauben an das sowjetische Rußland erhalten, und Emma nimmt keine Rücksicht darauf.
Schließlich findet Berkman eine Zuflucht in Deutschland. Und Emma kommt durch die Scheinehe mit einem Walliser Bergmann zu einem britischen Paß, mit dem sie Vortragsreisen nach Kanada unternimmt.
1928 zieht sie sich nach Südfrankreich zurück und schreibt dort ihre Autobiographie "Living My Life". Als das Buch 1932 abgeschlossen ist, stürzt sie sich in den Kampf gegen den überall in Europa erwachenden Faschismus. Es ist ein Kampf voller Niederlagen und Enttäuschungen, und als im Juni 1936 Berkman stirbt, ist sie eigentlich auch lebensmüde.
Da flammt nach dem Franco-Putsch endlich der Widerstand gegen den Faschismus auf, und als Emma im September in Barcelona eintrifft, erlebt sie das, wofür sie ihr ganzes Leben lang gekämpft und was sie jetzt kaum noch für möglich gehalten hat: eine vom Volke getragene anarchistische Revolution, in der die Menschen sich als Gleiche akzeptieren, wo die Arbeiter sich in Kollektiven organisieren und selbst verwalten. Die Stadt lebt. Die Räder der Fabriken stehen nicht still, Gas, Wasser, öffentliche Transportmittel und Lebensmittelversorgung funktionieren. Freiheit bedeutet nicht Chaos, die einfachen Menschen können mit ihr umgehen.
Aber die Freiheit ist von außen bedroht, die Soldaten brauchen Waffen. Emma geht nach England und versucht, durch Reden und Artikel Unterstützung für die Volksfront zu gewinnen - aber die Resonanz ist gering. Während Deutschland und Italien Franco massiv unterstützen, liefert nur die Sowjetunion Waffen an die Volksfront - und nicht gerade an die Anarchisten, die auch im eigenen Lager immer mehr zurückgedrängt werden.
Im Januar 1939 erobert Franco Barcelona. Emma kämpft weiter für die verlorene Sache, versucht in Kanada Geld für Spanien aufzutreiben und stirbt dort am 14. Mai 1940 im Alter von 70 Jahren nach einem Schlaganfall.
Die unbequeme Frau, die sich gegen jeden Zwang und gegen jede Form der Unterdrückung gewehrt hatte und deshalb zu ihren Lebzeiten als "die gefährlichste Frau der Welt" bezeichnet wurde, geriet schnell in Vergessenheit. Ihre Kompromißlosigkeit war zu vielen lästig und unheimlich.
Erst seit 1970 - neuentdeckt von amerikanischen Feministinnen - werden ihre Bücher wieder gedruckt. Demnächst kommen im Karin-Kramer-Verlag Berlin sogar deutsche Übersetzungen heraus. Im Oktober eine Auswahl der Essays und gegen Ende des Jahres die Autobiographie "Living My Life". (1)
Elisabeth Mühlfriedel
Fußnoten:
(1) "Frauen in der Revolution", Band 2: Emma Goldmann, 160 Seiten, 10 DM. Emma Goldmann: "Gelebtes Leben", ca. 1.000 Seiten.
Originaltext: Elisabeth Mühlfriedel - Emma Goldmann 1869 - 1940. Anarchistin und Feministin. In: Courage: Berliner Frauenzeitung, 1977, H. 11, S. 32 - 35. Digitalisiert von www.anarchismus.at an Hand eines Scans des Originalartikels.