Erich Mühsam - Schmach und Schande (1928)

Wenn ihr, anarchistische Genossen, in den sozialdemokratischen und kommunistischen Parteiblättern nächstens die Überschriften lesen werdet „Anarchisten rufen den Staat um Hilfe vor einander an“, „Bürgerliche Richter kleistern die ramponierte Ehre von Anarchisten beleidigter Anarchisten“, „Anarchisten bringen einander ins Gefängnis“ -  schleudert nicht wütend die Zeitung in die Ecke und klagt nicht darüber, bis zu welchem Maße niedriger Verleumdung die Gehässigkeit der proletarischen Organisationskonkurrenz schon herabgesunken ist: sie werden die Wahrheit schreiben, und wir haben keine Möglichkeit, sie zu bestreiten und zu widerlegen.

Wir können nichts tun, als was hier geschieht: den lachenden Dritten zuvorkommen und selber beim Namen nennen, was leider Tatsache ist. Rudolf Oestreich, ein in früheren Jahren um die anarchistische Sache verdienter Mann, dessen Verhalten in der Nachkriegszeit zu immer häufigeren Konflikten und Mißhelligkeiten in der Bewegung geführt hat, Hauptschriftleiter des Organs der Föderation kommunistischer Anarchisten, hat es fertig bekommen, die Genossen Rudolf Rocker und Helmut Rüdiger dem Gericht wegen verleumderischer Beleidigung zu denunzieren und gegen sie Bestrafung zu verlangen. Die Leser des FANAL sind durch zwei auf Beschluß der Anarchistischen Vereinigung hier veröffentlichte Entschließungen (Jahrgang II, Nr. 9, S. 215 und Nr. 12, S. 287) über den Streitfall unterrichtet. Gegen die im „Freien Arbeiter“ gegen ihn erhobenen verleumderischen Beschuldigungen, die auf Angelegenheiten zurückgingen, die im Jahre 1896 in der Londoner Emigration erörtert worden waren und bei denen übrigens Gen. Rocker vollkommen einwandfrei gehandelt hat, hatte Rocker im „Syndikalist“ einen ausführlichen, sehr klaren, allerdings auch angemessen groben Antwortartikel veröffentlicht, in dem er Rudolf Oestreich mit starken Gründen seine ehrabschneiderische Gemeinheit hinrieb. Der ehemalige Anarchist Oestreich sieht nun ringsum keine andere Instanz mehr, die ihm Schutz gegen anarchistische Gegner bieten könnte als ein vom Staat eingesetztes, der Autorität des Staates dienstbares bürgerliches Schöffengericht, und er verlangt vom Staate die Bestrafung nicht nur des Genossen, dem der Charakter des anarchistischen Staatsverehrers schon vor der Anzeige beim Amtsgericht Anlaß zu näherer Beleuchtung bot, sondern zugleich gegen den der Staatsbehörde verantwortlichen Redakteur des „Syndikalist“, den Genossen Rüdiger. Der Staat schafft die Möglichkeit, für die Handlung eines Menschen zwei „bestrafen“ zu lassen. Unser Patentanarchist benutzt diese Möglichkeit. Die Staatskasse verdient dabei doppelt so viel oder aber die Staatskasse hat für die Beleidigung eines Anarchisten gleich zwei Anarchisten im Kittchen zu beköstigen. Der Verhandlungstermin wird ja wohl bald bekannt gegeben werden.

Kommt alle hin, Genossen, besonders ihr Jugendlichen, und seht euch die größte Sehenswürdigkeit an, die jemals in der anarchistischen Bewegung aller Zeiten und Länder gezeigt wurde, den Anarchisten, der den Amtsrichter des Staates anruft, damit er zwei andere Anarchisten bestrafe. Steht Spalier, wenn der Freie Arbeiter durch die Korridore des Neuköllner Amtsgerichts schreitet, froh, aus zwei anderen Arbeitern Unfreie, Zellenbewohner gemacht zu haben.

Ich habe einmal zwei Monate Gefängnis abbrummen müssen, weil ich jemanden einen Lumpen genannt hatte. Das war allerdings bloß ein bayerischer Minister, und ich möchte erst die Verhandlung gegen die Genossen Rocker und Rüdiger abwarten, ehe ich mich mit einer Äußerung meiner Empfindungen an den Anarchisterich Rudolf Oestreich herantraue. Ich werde mich hüten, ihn einen Lumpen zu heißen. Bewahre doch: Ehrenmann! Ehrenmann!

Aus: Fanal, 3. Jahrgang, Nr. 1, Oktober 1928. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand des Nachdrucks aus dem Impuls Verlag (bearbeitet, Ue zu Ü usw.)


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