Erich Mühsam - Der weiße Terror (1927)
Entsetzliche Nachrichten kommen wieder aus den Ländern, deren Proletariate zur Zeit am brutalsten niedergeknüppelt und wehrlos gemacht sind und deren Machthaber, in der richtigen Erkenntnis, daß die Verzweiflung zwar die Massen zur Apathie, die charakterstarken Einzelnen aber zu Entschlüssen treibt, ihr Heil in der physischen Ausrottung der Persönlichkeiten suchen, denen sie revolutionäre Initiative glauben zutrauen zu dürfen. Der paralytische Renegat Mussolini hat es seinem Gesinnungsfreunde Noske abgelernt, daß die heißesten Herzen, die differenziertesten Gehirne gegenüber den Fäusten, Knüppeln, genagelten Absätzen, Patronen und Kolben verhetzter Mordgarden von recht illusionärem Wert sind und, als blutige Fetzen und breiige Massen vor die Augen der Menge gebreitet, nicht sonderlich anregend auf den schönen Trost wirken: Ihr tötet den Geist nicht, ihr Brüder!
In Italien rast Mord und Brand; wer noch Urteil, Kritik, selbständige Meinung oder gar soziale Empfindung hat, wird verfolgt, gejagt, eingekerkert, gemartert, entrechtet, enteignet und bestenfalls mit Weib und Kind über die Grenzen seiner Heimat gehetzt. Die große russische Revolutionärin Angelika Balbanoff, deren Schüler als Sozialist der italienische Noske war, sprach dieser Tage in Berlin über den Terror der Fascisten; aber sie sprach nicht, um zu beschreiben, um zu belehren oder zu erklären; sie sprach, um anzuklagen, und zu werben für ihren Haß, für ihren Ekel, für ihren Abscheu. Es war herrlich, die alte Kämpferin, der das russische, der das italienische Proletariat unendlich viel dankt, lange Jahre die Emigrantin des russischen Zarismus, dann als linke Sozialrevolutionärin Emigrantin des russischen Bolschewismus, jetzt auch, aus ihrer Wahlheimat vertrieben, Emigrantin des italienischen Fascismus, in ihrer großen, reinen Liebe zu den kämpfenden Arbeitern der Welt den Haß predigen zu hören. Es war eine Symphonie des Hasses, sie selbst der personifizierte Haß gegen das System des Fascismus und gegen den Mann, dessen Namen sie aus Ekel nicht in den Mund nahm, gegen den Verräter und den Verrat am italienischen, am internationalen Proletariat.
Mussolini ist ein Tyrann ohne Gewissen, aber auch ohne Format. Der Zynismus, der ihm das infame Wort eingibt: Die Freiheit ist ein stinkender Leichnam! hat so wenig genialen Inhalt wie die Reorganisation einiger öffentlicher Einrichtungen Italiens, die die Bourgeois aller Länder mit so hohem Respekt vor der trefflichen Persönlichkeit des Duce erfüllt. Daß der Kerl ein bischen Schlamperei und Unpünktlichkeit im Eisenbahnbetrieb nur mit Blutbädern und Gewissensfoltern und mit den haarsträubendsten Schuhriegelungen der Arbeiterschaft reformieren konnte, stört die deutschen Hochzeits- und französischen Weinreisenden nicht; sie rühmen die Ordnung, die jetzt im Lande der Zitronen herrscht. Das Sensationsbedürfnis des internationalen Vergnügungsmobs kommt auf seine Rechnung; für die Luxusbanditen Europas und Amerikas ist in Italien gesorgt, - laßt die Menschen, mit deren Arbeitsschweiß ihr Amüsement geschmiert wird, verbluten und verrecken. Evviva Mussolini!
Italien liegt immerhin noch in Europa. Völlig zeugenlos gehen dort die Schweinereien der Fascisten nicht vor sich. Anders ist es in den Balkanländern. Von Rumänien und Bulgarien wüßten wir nichts wesentlich neues, wenn nicht die politischen Gefangenen des Systems Zankoff-Liaptscheff mit der ungeheuren Aktion eines Hungerstreiks, an dem sich an 2.500 gemarterte Genossen beteiligen, die erregte Aufmerksamkeit der arbeitenden Welt wach gerufen hätten. Sie verlangen die Durchführung der Amnestie, die Liaptscheff versprach, als er dem Massenmörder Zankoff das Regiment abnahm, und statt deren er bisher nur die Fortsetzung und Steigerung der Zankoffschen Foltermethoden gegen die Kommunisten und Anarchisten praktiziert hat.
Zugleich rüstet der weiße Schrecken in Horthy-Ungarn zu einem gewaltigen Schlage gegen die Revolutionäre, deren Aktivität zu brechen allen Bestialitäten der Reaktion noch nicht gelungen ist. 52 kommunistische Genossen sind angeklagt, zur Propagierung ihrer revolutionären Ideen eine Geheimorganisation geschaffen zu haben. Sie sollen deswegen nicht vor ein gewöhnliches Gericht gestellt werden, das sie nach den Bestimmungen der bestehenden hanebüchenen Gesetze zum Schutz der ungarischen Staatssicherheit toll genug verurteilen würde, sondern man hat ihre Aburteilung einem Standgericht übertragen. Die ungarischen Standgerichte, besetzt mit den magyarischen Fascisten vom Schlage des Halunken Hejas, dürfen nur erkennen auf Freispruch oder Tod. Da auf Freispruch selbstredend nicht die leiseste Hoffnung besteht, ist das Leben der 52 Genossen in der denkbar schwersten und drängendsten Gefahr. Dem entschlossenen Teil des internationalen Proletariats ist die Aufgabe gestellt, die wenigen Tage, die noch zu Gebote stehn, zu benutzen, um es zu retten.
Massenversammlungen in aller Welt fassen Protestresolutionen und entsenden Delegationen in die Gesandschaften der Terror-Regierungen. Ich fürchte, daß solche Aktionen allein nicht mehr ausreichen. Die tieferen Gründe der Vernichtungskampagnen gegen die Revolutionäre liegen in materiellen Erwägungen. Die Beziehungen der europäischen Staaten zu den Regierungen Italiens, Ungarns und Bulgariens sind, da gemeinsame Geschäfte im Spiele sind, die allerkameradschaftlichsten. In ihrem Völkerbund sitzen die Nobelpreisträger Chamberlain, Briand und Stresemann freundschaftlich vereint mit den Herren Bethlen, Liaptscheff und Mussolini bei vortrefflichem Wein und milden Importen. Die Arbeiterschaft Europas hat nur ein wirksames Mittel, in die Entschließungen der kapitalistischen Länder einzugreifen, das ist die Störung ihrer Geschäfte. Mit politischen Demonstrationsstreiks kann auf die eigene Regierung gedrückt werden, damit sie unter Androhung wirtschaftlicher Repressalien mit diplomatischen Mitteln die Unterlassung der scheußlichsten Unmenschlichkeiten von ihren Völkerbundskollegen fordere, und darüber hinaus können die Arbeiter selbst durch den Boykott der betreffenden Länder, durch Verweigerung jeder Arbeit für ihre Handelsinteressen, des Ladens, Löschens und der Beförderung ihrer Waren den Punkt jener fascistischen Regierungen schmerzhaft treffen, wo ihre Seele sitzt, den Geldpunkt.
Solidarische Hilfe heißt kämpferische Aktion, and Respekt vor seinen Forderungen weckt das Proletariat auch bei den Kapitalisten des eigenen Landes nur, wenn es zeigt, daß hinter den Forderungen tatkräftige Entschlossenheit und der Wille zum Kampfe steht.
Aus: Fanal, 1. Jahrgang, Nr. 7, April 1927. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand eines PDF der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien