Gerhard Wartenberg - Fragen der Revolution

I. Vergleichende Revolutionsgeschichte (1928)

Im vergangenen Jahr hat in der anarchistischen Presse eine Diskussion über den Wiener Aufstand vom 15. Juli 1927 stattgefunden. Leider war die Diskussion nicht sehr fruchtbar, da sie sich zum Teil zu sehr in unwesentliche Einzelheiten verlor, zum andern Teil starr auf einem gewaltlosen Standpunkt verharrte (Pierre Ramus). Um die Auffassung Ramus` richtig zu beurteilen, müßte man eine genaue Analyse der Wiener Vorgänge vornehmen, die man aber nur durch aktive Teilnahme so gut kennen kann, wie es nötig wäre. Es bleibt also nur übrig, Ramus` Theorie nicht nur durch die Ergebnisse des Wiener Aufstandes, sondern ganz allgemein an Hand einer Art vergleichender Revolutionsgeschichte zu prüfen. Die Ereignisse selbst werden als bekannt vorausgesetzt.

Pierre Ramus hat einmal die Waffenanwendung bei der Revolution als "veraltet" bezeichnet. Was soll das heißen? Doch nur zweierlei: Entweder ist die Taktik der bewaffneten Revolution soziologisch überholt, d.h. die Art der jetzigen Klassenschichtung und des Klassenkampfes (Proletariat gegen Bourgeoisie) verbietet die Anwendung der militärischen Mittel, mit denen das Bürgertum sehr wohl über den Feudalismus siegen konnte. Oder diese Taktik ist durch die Fortschritte der Waffentechnik, durch Giftgas, Flammenwerfer, Tanks erledigt. Beide Behauptungen sind falsch.

In militärischer Beziehung war es schon von jeher so, daß die Staatsmacht besser bewaffnet war als das Volk. "Das Heer ist organisiert, ist in jeder Stunde beisammen, ist trefflich diszipliniert und in jedem Augenblick bereit, auszurücken; die in der Nation ruhende Macht, wenn sie auch in Wirklichkeit eine unendlich größere ist, ist nicht organisiert." So sagte sehr richtig Lassalle (Über Verfassungswesen, 1862). 

Es war schon zu Zeiten der bürgerlichen Revolution nicht die Überlegenheit an technischen Mitteln, die Zahl der Kanonen, Festungen (heute Maschinengewehre, Minenwerfer, Panzerwagen) ausschlaggebend, sondern die Organisation, die Disziplin. Und diese, sowie stete Übung, Bereitschaft fehlt auf der Seite der Revolution. Hierin hat Pierre Ramus ganz recht, wenn er sagt, daß "auf die Dauer kein Krieg mit einer Freiwilligenarmee zu führen ist". (E.u.B. 1926 Nr. 8-13 "Die Katastrophe der veralteten Revolutionsmethode".) Aber da bleibt doch die Frage offen, wie nur eine einzige von den vielen Revolutionen der Neuzeit gelingen konnte! Sehr einfach: Eine längere Dauer der Kämpfe, die soeben angenommen wurde, setzt voraus, daß Heer und Polizei und womöglich noch Freiwillige den Revolutionären hartnäckigen Widerstand leisten, d.h. daß die Truppen fest in der Hand der Reaktion sind. Dann ist ihre Disziplin der Tod der Revolutionen.

Die gelungenen Aufstände fanden ohne Ausnahme unter ganz anderen Verhältnissen statt. Bei der großen französischen Revolution, bei den Revolutionen von 1830, 1848, 1870, 1917, 1918 waren stets die Truppen unzufrieden, unzuverlässig, fraternisierten teilweise mit dem Volke, liefen scharenweise davon, so daß nur kleine Trupps erbitterter Reaktionäre übrigblieben, die von der großen Welle einfach überrannt wurden. Das, nur das ist der Sieg der Revolution, wenn die Disziplin der Truppen infolge der allgemeinen revolutionären Gärung zerstört wird. Natürlich wird diese Zersetzung bewußt weitergetrieben, dabei läßt sich auch freiwillige Disziplin auf der proletarischen Seite schaffen, aber in der Hauptsache wird der Sieg des bewaffneten Volkes durch die Desorganisierung des bewaffneten Staates ermöglicht. Also kann die militärische Technik von heute kein Grund für die Annahme sein, daß eine bewaffnete Revolution nur gegen Kanonen, Gewehre und Bastillen möglich war, aber gegen Minenwerfer, Maschinengewehre und Tanks aussichtslos sei.

Prüfen wir die andere Behauptung, daß, wie z.B. Kautsky sagt, militärische Operationen wegen des sozialen Unterschiedes zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution überflüssig und schädlich seien. Kautsky begründet das etwa so: Die Demokratie sei ein getreues Barometer der Volksstimmung, und wenn die Kapitalisten sähen, daß die Mehrheit der Wähler gegen sie sei, brächten sie nicht mehr den Mut auf, ihre Position zu behaupten. Nur der Absolutismus, der kein "Barometer" oder "Sicherheitsventil" hatte, sei dazu verurteilt gewesen, durch Explosionen zugrundezugehen, die man dann bürgerliche Revolutionen genannt habe. - Das ist alles Unsinn. 

Zunächst gibt es überhaupt keine strengen Scheidungen zwischen bürgerlichen und proletarischen Revolutionen, sondern auf die rein bürgerlichen folgen die halbbürgerlichen, die kleinbürgerlichen Revolutionen, die Revolutionen des Proletariats mit bürgerlich-politischen Zielen und Ergebnissen, bis vielleicht einmal rein proletarische Revolutionen kommen werden. Auch bei ihnen wird es noch bürgerliche Revolutionäre geben. Weiter ist das mit dem "Barometer" einfach Geschichtsfälschung. Vor der französischen Revolution wußte man ganz genau, daß man auf einem Vulkan lebte, Bauernaufstände waren an der Tagesordnung; in Rußland war vor dem Sturz des Zarismus auch einiges vorgekommen, was nicht wie Liebe zum Väterchen Zar schmeckte; in Deutschland hatte es vor 1848 einen Heine, eine demokratische Presse, Burschenschaften usw. gegeben. Umgekehrt wußte 1923 unter dem deutschen Parlamentarismus niemand genau, wie stark die revolutionäre Bewegung seit den Reichstagswahlen von 1920 geworden sei, bis man sich im Mai 1924 über die Millionen kommunistischer Stimmen wunderte, die man hier vielleicht als einen gewissen Gradmesser der revolutionären Stimmung ansehen kann. Also gibt auch die Demokratie mit ihren langjährigen Wahlperioden keinen Aufschluß über die Stärke der revolutionären Bewegung, und es fällt daher nie einer herrschenden Klasse ein, ohne bewaffneten Widerstand nachzugeben und zu verschwinden.

Man könnte hier noch einwenden, daß das Proletariat den Kapitalismus nur durch seine wirtschaftliche Tätigkeit aufrechterhält und ihn also auch nur durch deren Entziehung oder Verwendung für sich selbst stürzen könne. Aber auch der Handwerker, Bauer und Bürger in den bürgerlichen Revolutionen hatte das ganze wirtschaftliche Leben in der Hand und mußte sich trotz der Enteignung der Schmarotzer bewaffnen, um die "Kavaliere", die "Vendee", das Militär niederzuschlagen. Hiermit ist die Behauptung von der "veralteten" Revolutionsmethode zurückgewiesen, und wir haben den gewaltlosen Standpunkt rein taktisch zu prüfen.

Pierre Ramus hat öfters gesagt, die Soldaten der Gegenrevolution seien "in überwiegender Mehrheit Arbeiter und Bauern", die durch den Anblick der restlos glücklichen sozialistischen Gesellschaft für die Revolution zu gewinnen seien, nicht aber durch militärische Methoden. Man solle sich also nur mit positiver Aufbauarbeit in der Revolution befassen, und nicht mit der militärischen Bekämpfung der Gegenrevolution, was nur ein Bruderkampf zwischen Arbeitern bedeute. Wie steht es damit? 

Als im Mai 1919 die oberbayerischen Bauern von ihren Bergen herunterstiegen, grimmig, schwer bewaffnet, in ihren "heiligsten Gefühlen" durch die Ausrufung der Räterepublik in München verletzt und fest entschlossen, sie zu vernichten, da war München bereits von den Roßbach- und Ehrhardt-Leuten "erobert", den ehemaligen Baltikumern, die Weihnachten 1918 bis Anfang 1919 Berlin "beruhigt" hatten, dann im Ruhrgebiet "geordnete Zustände" schufen und nun nach München kamen. Wer waren diese Leute? Waren es "in überwiegender Mehrheit Arbeiter und Bauern"? Nein, es waren hauptsächlich Studenten, ehemalige Offiziere, Kleinbürger, deklassierte Abenteurergestalten, Leute, die am Kriege Geschmack gefunden hatten. Es war keine Hoffnung, sie unschädlich zu machen, außer sie zu schlagen, zu entwaffnen, und sie ihren Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen zu lassen. 

Auch in Rußland gab es etwas Ähnliches. Unter Denikin kämpften ganze "Offiziersregimenter". Und sie waren die tapfersten; ihre Herrschaft war ja in Gefahr. (Siehe Arschinoff: Die Machnobewegung.) Für die Revolution zu gewinnen sind solche Elemente nicht. Gewiß sind in den Heeren der Gegenrevolution auch Arbeiter, wenigstens zu Anfang. Aber im Laufe der Revolutionen klären sich die Klassenfronten relativ schnell, der Rest aller alten und rückschrittlichen Mächte sammelt und bewaffnet sich und muß schnell vernichtet werden. Noch immer gilt der Satz Rosa Luxemburgs, daß eine Revolution schnell vorwärtsstürmen müsse. Je schneller die Gegenrevolution entwaffnet, niedergeworfen, enteignet ist - gleich mit welchen Mitteln -, desto mehr ist die Revolution gesichert, desto schneller kann der sozialistische Aufbau beginnen.

Natürlich wird das Proletariat bei seiner Revolution die wirtschaftlichen Kampfmittel benutzen, wie ja auch schon in bisherigen proletarischen Aufständen der Generalstreik, die Sabotage, die Fabrikbesetzung eine große Rolle spielten. Aber gegen eine Truppe aus Bourgeois, die mit den Machtmitteln der modernen Kriegstechnik ausgerüstet ist, richten solche Mittel allein nicht viel aus. Die Arbeiter werden von derselben Kompagnie Soldaten aus einer Fabrik nach der andern vertrieben; Sabotage wird durch sorgfältige Überwachung und durch Erschießungen verhindert; einen Teil der Streikenden treibt der Hunger zur Arbeit, denn die bewaffnete Macht beschlagnahmt alles, was sie braucht, für sich. Die Propagandisten werden eingesperrt, Zeitungen und Versammlungen verboten, und schließlich verlöscht das revolutionäre Feuer, auch wenn es von der Erinnerung an die Freiheit und den Aufbau vor der Besetzung genährt wird. Wir kennen diesen Gang der Dinge nur zu gut aus den Oktobertagen 1923 in Sachsen und Thüringen. Im Frühjahr 1924 konnte dann der Belagerungszustand aufgehoben werden, die Reichswehr zog ab, es waren wieder "normale Zeiten". Ich bin deshalb der Ansicht, daß es verfehlt ist, die Truppen der Gegenrevolution in ein revolutionäres Gebiet einmarschieren zu lassen, wenn die Aussicht besteht, sie zu vernichten.

Allerdings fehlte in Sachsen und Thüringen jenes Moment, das Pierre Ramus für so wichtig hält: die vorangegangene Verwirklichung des Sozialismus. Aber kann denn der Sozialismus in so kurzer Zeit, wie sie in einer Revolution zur Verfügung steht, vollständig durchgeführt werden? Pierre Ramus zweifelt selbst daran (Fr. Arb. 1927, Nr. 48), ohne daraus Konsequenzen zu ziehen.

Anders verhielt es sich mit der Durchführung revolutionärer Forderungen bei bürgerlichen Revolutionen. Die soziale Veränderung, welche die große französische und die russische Revolution so wirksam und widerstandsfähig gemacht hat, war die Aufteilung des Großgrundbesitzes. Das war eine schnelle, offensichtliche und wirksame Hilfe für die armen Bauern, die infolgedessen begeistert und opferbereit für die Revolution eintraten. Wie liegen die Dinge hingegen bei der Sozialisierung der Produktion und Konsumtion in einem industriellen Lande? Die moderne Weltwirtschaft ist ein komplizierter Mechanismus, der nicht sofort vom Profitinteresse auf Plan- und Bedarfswirtschaft umgestellt werden kann. (Diese Tatsache bildet für Kautsky einen der Hauptgründe, den Bürgerkrieg abzulehnen. Er meint, dadurch komme jener komplizierte Apparat in Verwirrung, und wir müßten alle verhungern, wie Rußland gezeigt habe. Der einfache Produktionsapparat des 18. Jahrhunderts habe solche Püffe vertragen, aber heute - nein! Das ist natürlich echt Kautskysche Sophistik. Paris hat von 1789-93 mindestens ebenso gehungert wie 1871 oder wie Berlin und Moskau 1918-19. Die Unruhen unterbrachen die Arbeit, ob es nun die des Handwerkers und Bauern oder die des Proletariers war.) 

Es braucht Jahre angestrengtester Tätigkeit, um die sozialisierte Wirtschaft so auszugestalten, daß die Vorteile für dit schaffenden Massen deutlich sichtbar sind. Wird der Proletarier, der während der Revolution unter Mangel, besonders an ausländischen Produkten leidet, dem ganz neue Funktionen übertragen werden, der eine neue, strenge, ethische Haltung, ein soziales Verantwortlichkeitsgefühl entwickeln soll, heroisch und ausdauernd sein? Wird er imstande sein, längere Zeit unter Entbehrungen und Bedrohungen einen Gesellschaftszustand aufrichten zu helfen, der sich erst später günstig für ihn auswirken kann? Wenn wir die Schwungkraft bisheriger bürgerlicher und proletarischer Revolutionen vergleichen, so finden wir, daß die der ersteren unvergleichlich größer war. Die Aufwärtsentwicklung der französischen Revolution dauerte 5 Jahre, die der russischen, die hier als hauptsächlich bäuerliche betrachtet werden kann, 4 Jahre (bis zur NEP), die der deutschen von 1918 bestenfalls 2 Tage; als Scheidemann in Berlin die Republik ausrief und Noske seine Ehrhardtgarde sammelte, war sie nur noch zu einigen schnell unterdrückten Zuckungen fähig. (Januarkämpfe, Räterepublik, Hoelz usw.) In Deutschland war das Proletariat eben durch die Revolution wirtschaftlich noch um nichts gebessert, deshalb war nach dem Mißlingen der ersten Kämpfe auch keine Schwungkraft mehr vorhanden.

Es ergibt sich aus alledem, daß in erster Linie die Reaktion auf allen Gebieten, militärisch, politisch, wirtschaftlich schnell niedergeworfen werden muß, weil nur dann der Aufbau gelingen, ja überhaupt in Angriff genommen werden kann.

Es bleibt noch zu untersuchen, ob die bisherigen mehr oder weniger proletarischen Aufstände und Revolutionen die Neigung zeigen, das militärische Mittel durch das wirtschaftliche überflüssig zu machen und zu ersetzen. Sind denn die proletarischen Aufstände der Kommune, der deutschen Revolution von 1918, der italienischen Bewegung von 1920 unblutiger verlaufen als die großen bürgerlichen Revolutionen? Nein! Gewiß tritt bei den neueren Revolutionen auch der Generalstreik als Waffe auf (1905, 1917,1920), aber niemand wird behaupten, daß die Anwendung des "letzten Mittels" deshalb zurücktrete. Die italienischen Metallarbeiter besetzten im August 1920 nicht nur die Fabriken, sondern hoben auch Schützengräben aus (M. Nettlau, Errico Malatesta S. 165); die Kappregierung dankte wohl wegen des Generalstreiks ab, aber die Kappformationen in den Provinzen mußten erst durch blutige Kämpfe niedergeschlagen werden. Wir können jede beliebige proletarische Erhebung betrachten - keine konnte die bewaffnete Gegenrevolution nur durch Anwendung wirtschaftlicher Kampfmittel besiegen oder versuchte es auch nur allein damit. Der Instinkt der Arbeiter weiß, daß der Einmarsch der Weißen das Ende der Revolution ist, und daß diese also sofort vernichtet werden müssen.

Zwei Einwänden gegen diese Folgerung soll hier gleich begegnet werden. Man könnte sagen, daß die genannten proletarischen Erhebungen noch einen bürgerlichen oder bäuerlichen Charakter trugen und daß die wirklich proletarischen Revolutionen der Zukunft ganz anders aussehen werden. Das ist aber falsch. Zunächst wird es, wie erwähnt wurde, immer eine kleine Schicht bürgerlicher Revolutionäre geben. Weiter haben in den genannten Erhebungen stets die Arbeiter die Führung gehabt, ganz gleich, wie stark sie zahlenmäßig waren. Drittens gab es auch einige Aufstände, die ganz von Arbeitern gemacht wurden: der mitteldeutsche Aufstand 1921, der Hamburger Aufstand 1923. Und diese haben gar nicht auf die Waffen verzichtet. Im Gegenteil.

Als zweiten Einwand machte Pierre Ramus geltend, daß der Schwerpunkt der russischen Oktoberrevolution doch die Landteilung gewesen sei, daß dieser Akt im allgemeinen unblutig verlaufen sei, und daß damit also die Gewaltmethode erledigt sei. Diese Beweisführung ist sehr merkwürdig. Wie hätten die Bauern das Land nehmen können, wenn nicht vorher das Heer durch den Krieg zerstört worden wäre? Wie hätten sie es behalten können, wenn die Denikin und Koltschak nicht besiegt worden wären? Weiß Ramus nicht, daß Denikin hauptsächlich durch Bauernaufstände in seinem Rücken (unterstützt und allgemein gemacht durch Machno) geschlagen wurde, und daß diese Aufstände dadurch hervorgerufen wurden, daß Denikin den Bauern das Land wieder nahm, dessen Besitz er ihnen zuerst notgedrungen hatte garantieren müssen?

Nun sagt Pierre Ramus noch, daß die Hauptgefahr der militärischen Betätigung für den Anarchismus darin liege, daß er "absurde Methoden" anwenden müsse, die den Anarchismus selbst vernichten. Das Militärische bringe Disziplin, Unterordnung, Zwang mit sich, was schließlich die Errungenschaften der Revolution wieder aufheben müsse. Sicher ist daran etwas Wahres. Aber eine proletarische Revolution wird nicht, wie z.B. die große französische Revolution, lange Kriege führen, sondern wird die Waffen nach der Niederwerfung der Reaktion weglegen, weil das Proletariat kein Interesse an nationaler Vorherrschaft, sondern an internationaler Verständigung hat. Die verhältnismäßig kurze Zeit, die die bewaffnete Revolution in Anspruch nehmen wird, kann keinesfalls den Charakter der proletarischen Erhebung verändern.

Nun bleibt natürlich noch die Frage zu beantworten, warum denn die meisten proletarischen Aufstände besiegt wurden, wenn ihre Taktik im Prinzip richtig war. Meiner Ansicht nach sind hierfür zwei Hauptgründe verantwortlich zu machen. Erstens die geistige Unklarheit des Proletariats selbst, die durch die Umstände bedingt war, unter denen sich die meisten Arbeitererhebungen abspielten. Zweitens die Tatsache, daß sie meist zu spät kamen, als die revolutionäre Welle bereits wieder abnahm. Um das näher zu beleuchten, müssen wir den gewöhnlichen Verlauf derartiger Bewegungen betrachten, die bisherigen proletarischen Erhebungen waren ja fast immer im Gefolge einer bürgerlichen Revolution, die ihrerseits wieder die Folge irgendeiner Erschütterung der Gesellschaft (durch Krisen oder Kriege) war. Irgendeine halb oder ganz absolutistische Regierung wurde vom Proletariat und dem fortschrittlicheren Teil des Bürgertums gestürzt, das Proletariat vertraute den zur Macht gekommenen bürgerlichen oder scheinbar proletarischen Elementen, die natürlich an alles andere dachten, als an die Vertretung der Interessen des Proletariats. 

Diese Unklarheit über die Klassenfronten, die wegen der soeben betätigten Kampfgemeinschaft gegen den Absolutismus nur langsam wich, bedingte die Schwäche der zweiten Revolution. Außerdem kam diese meist zu spät. Die neue Regierung hatte sich bereits gefestigt, die revolutionäre Wehe war schon im Abebben, deshalb mußten die Kommune, die Münchner Räterepublik, die Machnobewegung zugrundegehen. (Die russische Oktoberrevolution bildet eine Ausnahme, die aber die Regel bestätigt, weil sie sie erprobt. Die Fortführung des aussichtslosen Krieges durch die Kerenskiregierung brachte es mit sich, daß keine Festigung eintrat, sondern daß die revolutionäre Welle nur noch stärker und rascher stieg.) Für Delescluze und Varlin war der Augenblick des Handelns im September 1870 gekommen, als das Kaiserreich zusammenbrach und die Republik mit Thiers und Gambetta noch nicht fest stand. Damals wollte auch Bakunin handeln, in Lyon und Marseille. Aber das Volk sah damals nicht klar genug. Im März 1871 war die Klarheit da, aber nun war der Friede mit Deutschland geschlossen, der Staat gesichert. Die Kommune mußte fallen.

Im November 1918 waren Ebert und Scheidemann große Männer, weil sie die Republik begründeten. Sogar Liebknecht mahnte in den ersten Tagen zur Ruhe. Als die Arbeiter von 1919 anerkannten, was für Führer sie sich gewählt hatten, da war es zu spät. Noske und später Seeckt fegten mit dem eisernen Besen ihrer Landsknechtshorden über das Land und unterdrückten alle Regungen des Proletariats. Ähnlich war es mit anderen Arbeiteraufständen, für die genug Beispiele vorliegen. Wenn die Arbeiterklasse einmal Kraft genug haben wird, allein, ohne Unterstützung fortschrittlicher Elemente anderer Klassen, und ohne besonderen politischen Anlaß, sich nur für Arbeiterforderungen zu erheben, dann werden die erwähnten Momente fortfallen, der Sieg wird bei Einsetzung aller Kräfte und aller Mittel sicher sein.     

G. Berg (Pseudonym von Gerhard Wartenberg)
 
Aus: Fanal, 2. Jahrgang, Nr. 8, Mai 1928. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand eines PDF der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien (bearbeitet, Oe zu Ö usw.)


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II. Das Problem der Übergangsperiode (1928)

Seit dem Kriege und der russischen Revolution gibt es vielfach Strömungen im Anarchismus, die mit der ungenügenden Rolle unserer Bewegung in den revolutionären Ereignissen unzufrieden sind; und infolgedessen verschiedene der überlieferten Anschauungen revidieren, weiterentwickeln oder klären wolen. Dieses Gefühl der Unzufriedenheit findet sich schon in De Ligts "Anarchismus und Revolution" vom Jahre 1922 und weiter in vielen verstreuten Artikeln bis zu denen Rudolf Rockers im "Fanal". Einen bedeutsamen Anteil an diesen Bestrebungen hat die sog. "Plattform" der russischen Gruppe "Djelo Truda" in Paris. Besonders die Antwort einer anderen russischen Gruppe, mit Wollin in ihrer Mitte, die bisher nicht ins Deutsche übersetzt wurde, gibt wertvolle Gesichtspunkte.

Das Problem der Übergangsperiode, das bei diesen Diskussionen ebenfalls eine gewisse Rolle spielte, ist m.E. eins der wichtigsten, dessen Lösung erst eine günstigere Entwicklung des Anarchismus ermöglicht. Denn auf die Frage der Arbeiterschaft: Was wollt ihr unmittelbar nach dem Siege der sozialen Revolution machen? müssen wir eine klare und einleuchtende Antwort geben können. Der ältere Anarchismus hat diese Frage nicht mit der nötigen Klarheit gestellt. Entweder beschäftigte man sich überhaupt nicht näher mit den Zuständen, die einst herrschen sollen, oder man gab eine Schilderung des vollständig durchgeführten Anarchismus (zum Beispiel Kropotkins "Eroberung des Brotes", A. Rollers "Der soziale Generalstreik" usw.), wobei man die Frage nach den Wegen, um dahin zu gelangen, mit ein paar Wörtern über den "Instinkt des Volkes", "das angeborene Gute im Menschen" oder einfach den "guten Willen" (siehe Jean Grave in seiner Antwort auf die Plattform, Fr. Arb. 1927) abtat.

Dabei ist der Gedanke, man könne durch eine soziale Revolution unmittelbar jenen idealen Zustand "Anarchie" erreichen, eine Vorstellung, die im schärfsten Widerspruch zu jeder Art Entwicklungsgesetz steht. Diese Vorstellung würde bedeuten, daß die ganze jahrtausendalte, mühevolle, manchmal raschere, dann wieder langsamere, oft von Rückschlägen unterbrochene Entwicklung der Kultur plötzlich aus irgendeinem Grunde stillstehen sollte, zu Ende sein sollte. Die Anarchie wäre nach dieser Meinung eine Art Paradies, das irgendwo in der Zukunft verborgen wäre, und in das man durch eine außerordentliche Anstrengung, genannt "soziale Revolution", eindringen könnte. Man wird zugeben, daß das eine Vorstellung ist, die bedenklich nahe an christliche Erlösungsgedanken herankommt, und die auch, durch indirekte Einführung des Zweckgedankens ("teleologischen Prinzips") in die Geschichte einen längst überwundenen wissenschaftlichen Standpunkt wiederkehren lassen würde. Wenn man diese Konsequenzen ablennt, dann bleibt nur übrig, die Anarchie ihres Charakters als Ideal zu entkleiden, sie ebenfalls für eine Etappe auf dem Wege der Menschheitsentwicklung zu erklären, und man wäre dann gezwungen, als weitergehendes Ziel eine "Überanarchie" aufzustellen - eine Vorstellung, die ebenso absurd ist.

Wenn wir all das bedenken und auf dem Boden induktiv-deduktiver Forschung bleiben wollen, dann müssen wir uns sagen, daß die Anarchie in ihrer reinsten Form ein Idealzustand ist, der vielleicht überhaupt nicht, sicher aber erst nach langer Zeit erreicht werden wird. Unsere Aufgabe nach einer Revolution muß es sein, auf dem Gegebenen aufbauend, Schritte zur Annäherung an unser Ziel zu tun. Wie weit wir kommen werden, wird die Zukunft lehren. Wahrscheinlich wird die nächste Etappe - nach dem Feudalismus und der bürgerlichen Demokratie - eine Art industrieller Demokratie sein, die sich des Rätesystems für ihren praktischen Aufbau bedienen wird. Dahin deuten jedenfalls die Ansätze der letzten proletarischen Erhebungen.

Das Wort "Übergangsperiode" hat in unseren Kreisen einen sehr schlechten Klang. Bei den Diskussionen um die Plattform wagte niemand, sich offen zu diesem Gedanken zu bekennen. Das hat aber eine ganz bestimmte, naheliegende Ursache. Was man meist unter "Übergangsperiode" verstand, oder was unter diesem Namen in den bisherigen Revolutionen vor sich ging, waren nämlich keine vorläufigen Maßnahmen zur Einführung von etwas Neuem, zur Zerschlagung von Herrschaftseinrichtungen usw., sondern es war die Unterlassung lebenswichtiger Maßregeln, meist auf wirtschaftlichem Gebiete, resp. die Wiederherstellung alter Verhältnisse, die vom Volke schon spontan beseitigt waren. Es geschah dies entweder aus Unkenntnis der gesellschaftlichen Bedeutung derartiger Maßnahmen oder infolge des Einflusses reformistischer, unentschiedener Elemente. Später rächte sich das, indem die reaktionären Gewalten, die man hatte bestehen lassen, bei günstiger Gelegenheit die ganze Revolution liquidierten. Diese Auffassung der Übergangsperiode ist allerdings gefährlich und rechtfertigt unser Mißtrauen.

Aber zwischen dem etwas phantastischen Gedanken eines Netschajeff u.a., die Gesellschaftsformen bis auf den Grund niederzureißen, nichts bestehen zu lassen, und dann alles von neuem aufzubauen, und der Nachlässigkeit bei bisherigen Revolutionen, wichtige Funktionen in autoritärem Sinne bestehen zu lassen, gibt es doch noch einen Mittelweg. Man muß die Aufgaben, die etwas weiter ab liegen, die sich nicht sofort lösen lassen, bis auf weiteres sich selbst überlassen und dafür mit ganzer Kraft an der Neugestaltung der gesellschaftlichen "Schlüsselstellungen" arbeiten, von denen aus man dann die ganze Gesellschaft in die neuen Lebensformen bringen kann. Solcher Schlüsselstellungen gibt es nur drei: Die politische Staatsmacht mit allen ihren Zweigen, die restlos beseitigt werden muß; die Organisierung der Betriebe unter Ausschaltung des Einflusses von Unternehmern, Direktoren, Spezialisten, aber auch von Kommissaren, "Roten Direktoren" usw., nur gemäß dem Rätegedanken von unten nach oben; und drittens die militärische Verteidigung der Revolution durch ein auch von unten nach oben organisiertes Volksheer. Wenn keine militärischen Operationen nötig sein sollten, was sehr zu wünschen wäre, aber wenig wahrscheinlich ist, so würde dieser Punkt wegfallen und es blieben nur zwei wichtige Aufgaben: Die Organisierung des wirtschaftlichen Lebens im freiheitlichen Sinne und die Abschaffung des Staates. Ist das geschehen, so läßt sich keine autoritative Macht denken, die sich noch irgendwo in der Gesellschaft halten könnte. In Presse, Schule, Theater, Familienleben, politischem Leben, sexuellem Leben, Erziehungswesen, überall wird sich, wie heute auch, der überwiegende Einfluß der Wirtschaft geltend machen und diese Gebiete, wo es nicht schon geschehen ist, im freiheitlichen Sinne reorganisieren. 

Das Umgekehrte ist ausgeschlossen. Nie wird die Presse, die Kunst oder sonst etwas, rein aus sich, ohne wirtschaftlichen Hintergrund, ja gegen die Tendenzen des Wirtschaftslebens, mehr als vorübergehende Erfolge aufweisen können. Wenn es uns also gelingt, das Wirtschafsleben in unsere Hand zu bekommen und es in freiheitlichem Sinne vorläufig in Gang zu bringen, so brauchen wir uns um den Verlauf der Revolution weiter keine Sorge zu machen, auch wenn wir notgedrungen als Übergangskonzession noch irgendwo einen Priester predigen lassen müssen, nichts Durchgreifendes gegen die Prügelstrafe in Arbeiterfamilien machen können oder das giftige Gewäsch irgendeines Presseschmocks über unsere Arbeit dulden müssen. All das kann keinen Hund hinterm Ofen hervorlocken; es wird sich kein Mann zur Verteidigung der alten Prinzipien finden, weil die Reaktionäre wirtschaftlich ohnmächtig sind, nichts zahlen können und weil es dem Volk zu gut geht, um sich auf Abenteuer einzulassen.

Man glaube nicht, daß das eine Bejahung des historischen Materialismus und eine Verneinung revolutionärer Erziehungsarbeit sei. Die Umgestaltung der Wirtschaft ist eine Tätigkeit, die bereits einen hohen Grad von revolutionärer Reife beim Proletariat voraussetzt. Karl Roche drückte das Verhältnis zwischen Idee und Realität einmal folgendermaßen aus: Wenn ein Tischler einen Tisch machen will, also eine durchaus materielle Handlung, so muß er doch erst wissen, wie dieser aussehen soll und muß eine geistige Tätigkeit dabei verrichten - das Entwerfen. So ähnlich ist es auch in der Gesellschaft. Diese Frage müßte einmal in einem besonderen Artikel geklärt werden, in dem unsere prinzipielle Stellung zum historischen Materialismus darzulegen wäre.

Wenn wir den Verlauf bisheriger Revolutionen auf die Durchführung derartiger wirtschaftlicher Forderungen hin untersuchen, so können wir feststellen, daß man meist ganz andere Dinge für die wichtigsten hielt, nur nicht die Eroberung der wahren Grundlagen der Gesellschaft. Man bildete Regierungen, berief Parlamente oder Nationalversammlungen, beriet des langen und breiten über Gesetze und Verfassungen, vergaß aber dabei, den Einfluß der Reaktion, die sie durch die Beamtenschaft, die Großgrundbesitzer, Bauern, Fabrikbesitzer, Offiziere und Soldaten hatte, zu brechen. So kam es, daß die Revolutionen immer nach kürzerer Zeit wieder niedergeschlagen werden konnten und eine Zeit furchtbarer Reaktion nach sich zogen.

Nachdem die Regierenden, die Besitzenden, die Reaktion sich von dem ersten Schrecken der eben ausgebrochenen Revolutionen erholt hatten und sahen, daß man ihre wichtigsten Privilegien, Besitz, Polizeigewalt, Heeresführung usw., nicht antastete, begannen sie einen systematischen Krieg gegen das neue System. Das Wirtschaftsleben funktionierte nicht, die Kurse fielen, die neue Regierung geriet in Schwierigkeiten, die Arbeiter hungerten und murrten, die Reaktion steckte sich hinter den rechten Flügel der Revolutionäre - meist Bürgerliche, Kleinbürger oder scheinbar proletarische Elemente - um die Linken - die Arbeiter und ihre Wortführer - maßlos anzugreifen. Schließlich wurde ein Aufstand provoziert und niedergeschlagen, wodurch die Kraft der Revolution gebrochen und die Bahn für die Reaktion frei war. Das war der Verlauf der meisten bisherigen Revolutionen - 1848, 1871, 1918 -, weil man den Mechanismus der gesellschaftlichen Gesetze nicht verstand oder nicht verstehen wollte.

Die Ursache für dieses Nichtverstehen muß in dem trügerischen Vorbild großer bürgerlicher Revolutionen, besonders der französischen von 1789, gesucht werden. Man übernahm nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt, während die gesellschaftliche Lage ganz anders geworden war. Der Irrtum war der, daß wohl 1789 ein Parlament, eine Verfassung etwas Erstrebenswertes darstellten, weil es sich um eine bürgerliche Revolution mit politischen Zielen handelte, wenigstens in den Städten. Aber die späteren Revolutionen, von Arbeitern gemacht, konnten nach diesem Schema nicht arbeiten, wenn sie etwas für die Arbeiter leisten wollten, weil es sich gar nicht mehr um eine bloße politische Umwälzung, sondern um eine wirtschaftliche, soziale Revolution handeln mußte. Der Parlamentarismus war das Ziel der bürgerlichen Revolutionen, und er hat dem Bürgertum große Dienste geleistet, aber das Proletariat kann damit nichts anfangen. Aus diesem Grunde waren die Arbeiter von den bisherigen Revolutionen nicht befriedigt, und deshalb endeten sie alle mit einer starken Reaktion.

Eine einzige Ausnahme bildet die russische Oktoberrevolution von 1917. Da hat man, stellenweise schon vor dem Oktober, die Besitzer der Fabriken davongejagt, das Herrenland unter die Bauern verteilt, die Polizisten erschlagen oder vertrieben, dan Staat zerstört. Und es ist eine Tatsache, die man auch als Gegner der russischen Regierung, wie sie heute ist, anerkennen muß, daß diese Revolution eine ungeheure Lebenskraft gezeigt hat. Sie hat sich gegen Sabotage und Minierarbeit im Innern, gegen Unverstand mißleiteter Bauern, gegen konterrevolutionäre Banden von allen Seiten, die von England und Frankreich unterstützt wurden, gegen Blockade und Krieg, gegen Isolierung und Hungersnot gehalten. Sie ist heute nur noch ein Schatten, aber sie ist nie überwunden worden. Das ist ein Beweis dafür, was eine tiefgreifende Umwälzung sozialer Natur vermag, welche Kräfte entfesselt werden, wenn das Volk weiß, daß es für sich selbst kämpft.

Wollte man die Ursachen für den enttäuschenden Verlauf der russischen Revolution, wie sie bis heute vorliegt, suchen, so müßte man in erster Linie die wirtschaftliche Struktur: 85 Proz. Bauern und 10 Proz. Arbeiter, erwähnen. Es ist klar, daß diese starke Bauernklasse, die wohl revolutionär war, solange sie unterdrückt wurde, aber mehr und mehr individualistisch wurde, sobald sie zufriedengestellt und Herr ihres Landes war, keine Stütze für sozialistische Bestrebungen abgeben konnte. Im Gegenteil, sie zwang die regierenden Bolschewisten, selbst kapitalistische Methoden anzuwenden. Als weitere Ursachen des Niederganges wären die Unbildung des russischen Volkes, die Isolierung Rußlands und die sonstigen äußeren Gefahren, der vorhergegangene Krieg und die autoritäre Theorie der Bolschewiki zu erwähnen.

Trotzdem sich aber Rußland heute wenig von anderen diktatorisch regierten Staaten unterscheidet, hat uns diese Revolution doch gelehrt, was es heißt, wenn die Grundfesten der bisherigen Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Heer, von den Revolutionären erobert resp. vernichtet werden. Was sich in Rußland mit 85 Proz. Bauern nicht durchführen ließ, das wird bestimmt in Deutschand gehen, wo man 60 Proz. der Arbeiterschaft oder ihr gleichgestellten Schichten zurechnen kann.

Eine sehr wichtige Frage des Überganges wirft die erwähnte Plattform auf: Sollen in der Übergangsperiode andere als unsere anarchistischen Prinzipien angewandt werden? Das müßten dann also irgendwie autoritäre Prinzipien sein. Aber so kann man die Frage nicht stellen. Wäre es so, dann könnte man sich nur für anarchistische Prinzipien entscheiden und käme zur Ablehnung der Übergangsperiode. Die Frage muß aber nicht lauten, anarchistische Prinzipien oder autoritäre, sondern Handeln überhaupt oder Nicht-Handeln. Dort, wo wir in der Lage sind, einzugreifen, werden wir selbstverständlich anarchistische Prinzipien zur Geltung bringen; es muß aber bezweifelt werden, daß wir genügend Kräfte haben, oder daß das Volk einen genügend sicheren Instinkt hat, um die Gesellschaft von allen Seiten zugleich umbauen zu können. Wir werden vorläufig noch autoritäre Einrichtungen, Vorurteile, Gebräuche bestehen lassen müssen, ja uns vielleicht mit so etwas abgeben, es dulden müssen, bis wir das Fundament der neuen Gesellschaft befestigt haben und keine bewaffnete Gegenrevolution mehr zu befürchten ist. Wollten die Anarchisten in einer solchen Lage auf alles praktische Handeln verzichten und sich in eine mißvergnügte Opposition zurückziehen, weil sie nicht mit autoritären Einrichtungen Kompromisse schließen wollen, so würden sie das Feld anderen Strömungen überlassen, und die Revolution würde in autoritäre Bahnen lenken.

Nein, man muß hier wohl zwischen Maßnahmen bzw. Unterlassungen unterscheiden, die den weiteren Verlauf der Revolution hemmen müssen und solchen, die sich später nachholen lassen. Die Art der Landverteilung der russischen Bauern 1917, wodurch eine zahlreiche, zufriedengestellte Klein- und Mittelbauernschaft wie in Frankreich und Deutschland geschaffen wurde, war bestimmt ein Akt, der einen großen Teil der späteren Schwierigkeiten verursachte. Rosa Luxemburg hat dies gleich im Anfang erkannt und hat die Bolschewisten in ihrer Schrift über die russische Revolution gewarnt, sich dadurch nicht den weiteren Weg zu verrammeln. Ähnlich war es mit den Unterlassungssünden in bezug auf Fabrikskontrolle, Zerstörung des Staates usw. bei früheren Revolutionen. So hat auch die Abwürgung der Rätebewegung in Deutschland 1918 und ihre Ersetzung durch den Parlamentarismus den weiteren Weg dieser Revolution vollständig verlegt. Sie mußte bei Hindenburg landen.

Das schließt aber nicht aus, daß es auch Versäumnisse gibt, die sich später nachholen lassen. Zum Beispiel hat der französische König nach dem Ausbruch der Revolution 1789 noch volle zwei Jahre regiert. Die endgültige Bestätigung der agrarischen Neuordnung in Frankreich erfolgte sogar vier Jahre nach Ausbruch der Revolution. Die Ursache, die so etwas ermöglichte, war die tatsächliche Umwälzung der Fundamente gleich im Anfange der Revolution; dagegen konnten keine Reaktion, keine Vendée, keine Einfälle vom Rhein her etwas ausrichten, und erst recht konnten sich solche Schönheitsfehler oder Formalitäten, wie die Staatsform usw., nicht als gegenrevolutionäre Tendenzen bemerkbar machen. Man vergleiche aber hiermit die Tatsache, daß die 1918 versäumte Enteignung der deutschen Fürstenhäuser sich 1926 ganz einfach als unmöglich erwies.

Wenn ich hier der Übergangsperiode das Wort rede, so will ich natürlich nicht gegen eine mögliche anarchistische Aktion sprechen, nur um des Wortes Übergangsperiode willen. Im Gegenteil bin ich selbstverständlich der Anslicht, daß soviel wie möglich sofort "endgültig" im freiheitlichen Sinne gestaltet werden soll.

Was ich mit obigen Darlegungen bezwecke, das ist, den starren Dogmatismus der Anarchisten zu bekämpfen, der sich mit nichts befassen will, was nicht garantiert innen und außen zu 100 Proz. autoritätsfrei ist. Beispiele für solches Verhalten sind genug vorhanden. (Betriebsrätefrage, Gewerkschaftsbewegung, Volksentscheid, Tätigkeit in der deutschen und russischen Revolution usw.) Ich will die Anarchisten darauf aufmerksam machen, was sicher auch schon viele unter ihnen erkannt haben, daß es in einer so großen Umwälzung, wie es eine soziale Revolution sein wird, nicht immer so reinlich zugehen kann, wie es in den Büchern steht. Es kann sein, daß da verschiedene, in den Theorien bisher nicht vorgesehene Schwierigkeiten auftauchen werden, die man nicht durch grollendes Abseitsstehen, sondern nur durch kräftiges Zupacken überwinden kann.

Die Anarchisten brauchen keine Angst vor Reformismus oder Verwässerung der Ideen zu haben; bisher hat sich diese Gefahr noch nicht gezeigt. Das Grundprinzip der Anarchie ist so klar und kräftig, daß es alledem trotzen kann und sogar mit Ideen wie Urchristentum, Religiosität, Idealismus, Individualismus usw.. verbunden werden konnte, ohne dauernden Schaden zu nehmen. Die Gefahr für den Anarchismus liegt gerade auf der entgegengesetzten Seite: Absonderung, Reinhaltung von allen Einflüssen der Zeit, dadurch Weltfremdheit, Verkalkung, Einflußlosigkeit. Diese Erscheinungen können wir jeden Tag in den verschiedensten Ländern beobachten, in Deutschland so gut wie in Frankreich, Österreich, Holland, Argentinien, überall, wo unsere Bewegung existiert. Es gibt nur wenige Ausnahmen, zum Beispiel Spanien, Portugal, Italien. Es ist Zeit, daß sich alle, denen wirklich an der Vorwärtsentwicklung der Gesellschaft in anarchistischem Sinne liegt, gegen diesen Zustand auflehnen, wie es Kam. Rocker in dieser Zeitschrift schon öfters getan hat, und eine sachliche Diskussion über die neuen Wege des Anarchismus beginnen.

Ich möchte den Gedankengang dieser Darlegungen in eine Art kurzen Programms, eines revolutionären Minimalprogramms, zusammenfassen, das meiner Meinung nach den Bestrebungen bisheriger proletarischer Revolutionen entspricht:

  1. Auflösung der Staatsorgane: Justiz, Polizei, Verwaltung, Steuerwesen, politische Organe. Keine dekretierte Auflösung, sondern von den revolutionären Arbeitern praktisch bis ins letzte Dorf durchgeführte. Keine Neuerrichtung unter irgendeiner Verkleidung.
  2. Umbau des Wirtschaftslebens, Abschaffung des Eigentumsrechts an Produktionsmitteln, des Erbrechtes usw. Übernahme der Betriebe durch die Arbeiterräte, die sich lokal, national, international und beruflich zusammenschließen. Abschaffung des Geldes, Inbesitznahme der Banken durch die Arbeiterschaft. Zunächst Einführung eines gleichen Bezugsrechtes aller für die nötigsten Bedarfsgegenstände und Nahrungsmittel. ("Rationalisierung".) Später nach Maßgabe der Verhältnisse Einführung des freien Bezugsrechts für alle Arbeitenden, Verteilung durch die Betriebe oder auf Grund einer Haushaltkarte, die vom Betrieb ausgestellt wird. Einordnung der Parasiten, Beamten usw. in die Produktion.
  3. Auflösung und Entwaffnung des Heeres, der Polizei und bewaffneter (bürgerlicher) Verbände. Wenn nötig, Bildung einer freiwilligen Miliz aus allen waffenfähigen Männern, auf der Basis freier Führerwahl und des Rätesystems.

Die Durchführung dieser Forderung bedeutet noch nicht den Anarchismus. Darüber müssen wir uns klar sein. Aber es ist die Gewähr gegeben, daß sich solch eine Gesellschaft gesund weiter entwickeln kann, zur Anarchie, wenn sie nicht durch Krieg usw. vernichtet wird. Die Umwälzung wird so grundlegend sein, daß diese Gesellschaft nie wieder auf den heutigen Stand zurückgebracht werden kann.

Natürlich stellt dieses Mindestprogramm noch nichts Endgültiges dar. Es soll nur zur Diskussion dienen. Sicher werden auch viele die ganze Idee der Übergangsperiode ablehnen. Es gibt aus den früheren Zeiten eine Menge klassischer Argumente dagegen, die ich kenne, aber nicht mehr für stichhaltig ansehe.

Es ist Zeit, den Anarchismus aus seiner dogmatischen Erstarrung zu befreien, dem Proletariat unsere Ziele in einfachen, verständlichen Formen zu erklären, die Erfahrungen der letzten Jahre in guten Parolen auszudrücken. Gelingt uns das, dann wird der Anarchismus auch diejenige Rolle in der proletarischen Bewegung spielen, die ihm zukommt.

H. W. Gerhard (Pseudonym von Gerhard Wartenberg)

Aus: Fanal, 2. Jahrgang, Nr. 12, September 1928. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand eines PDF der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien (bearbeitet, Oe zu Ö usw.)


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