Selbstversorgung der Arbeiter? (1928)

Die Göppinger Gruppe der herrschaftslosen Sozialisten Deutschlands (Anarchosyndikalisten) wendet sich mit einer Kundgebung an das Proletariat, worin die Arbeiter aufgerufen werden, ihre Arbeitskraft durch die Organisation der Bedarfswirtschaft aus eigener Initiative frei zu machen. Die Absicht der Genossen erhellt aus der der Kundgebung beigegebenen "Einleitung zur Errichtung von Fabriken und Wirtschaftsbetrieben für die Bedarfswirtschaft durch die syndikalistische Gewerkschaft". Die Anarchistische Vereinigung Berlin hat sich mit den Göppinger Anregungen beschäftigt und ist nach eingehender Diskussion einmütig der Auffassung gewesen, daß der Gedankengang der Göppinger Gruppe den Lesern des FANAL bekanntzugeben sei, zugleich jedoch eine Entgegnung der Redaktion jeden Zweifel darüber zerstreuen soll, daß die Anarchistische Vereinigung die Vorschläge für völlig illusionistisch und sogar der Revolution abträglich hält. Hier folgt der der Kundgebung angefügte Arbeitsplan der Gruppe nebst der vorläufigen redaktionellen Erwiderung.

Göppinger Gruppe der herrschaftslosen Sozialisten Deutschlands (Anarchosyndikalisten) - Selbstversorgung der Arbeiter

Der Grund zu neuen Vorschlägen für die Tätigkeit der Anarchosyndikalisten, wie sämtlicher Gewerkschaften, ist die Ergebnislosigkeit der aufgewendeten Streikgelder durch regelmäßig darauf folgende Warenpreiserhöhung oder durch Geldentwertung, ferner treibt die Hilflosigkeit der Gewerkschaften gegenüber der Rationalisierung und dem hereinbrechenden Faschismus zu besonderen Maßnahmen.

Die Vorschläge gehen dahin, daß die Gewerkschaftsbeiträge auf wöchentlich 1 Mark festgesetzt werden und daß diese Gelder vorwiegend oder ausschließlich zur Errichtung von Betrieben für den nötigsten Bedarf verwendet werden, wie z.B. Schuhfabriken und Gerbereien, Webereien, Spinnereien, Kleiderfabriken, Teigwarenfabriken, Siedlungen mit Werkstätten für die Arbeitslosen u.a. notwendige Einrichtungen mehr.

Die Leistungsfähigkeit der Syndikalisten ist durch ihre Mitgliederzahl schon bedeutend genug, um bahnbrechend in dieser Richtung vorgehen zu können, gleichzeitig die indifferente Masse aufzurütteln und die übrigen Gewerkschaften zu gleichgerichteten Maßnahmen zu bewegen. Eine Gruppe von nur 300 Mitgliedern vermag mit einem Beitrag von monatlich 1200 Mk.bereits recht beachtenswerte Erfolge zu erzielen. Das sind schon Kapitalien, die in den Händen eines Privatunternehmers unter Benützung von Krediten zu erheblichen Geschäftsentwicklungen führen würden. Der syndikalistischen Zeitung müßte ein wirtschaftlicher Teil angegliedert werden. Wegen des Absatzes der Produktion, die zum Teil bei den Mitgliedern selbst liegt (Selbstversorgung), müßte man sich an die gesamte Arbeiterschaft und an die Konsumvereine wenden. Die einzelnen Gruppen können sich vorerst zusammenschließen, um gemeinsam einen Betrieb zu eröffnen und auf diesem Wege sich weiter entwickeln. Die Produkte werden dann von Gruppe zu Gruppe (Sektionen), von Kreis zu Kreis, Provinzen und Ländern ausgetauscht.

Bei jeder Betriebseröffnung dürfte eine Fabrik der Privatunternehmer stillgelegt werden und so haben wir bald die Oberhand, um die Arbeitszeit, die Geldverkehrsfragen und andere Fragen, die im Interesse der werktätigen Bevölkerung liegen, im ganzen Reiche nach deren Bedürfnissen regeln zu können. Es wird jedem Genossen einleuchten, daß hierbei nach und nach alle politischen Fragen und Rätsel in die Betriebe hineinverlegt werden, d.h. sie werden größtenteils beseitigt durch die selbstversorgerische Tätigkeit und dabei kommen wir in absehbarer Zeit gegenüber dem Staate auf ebenbürtige Stufe mit den Privatunternehmern zu stehen, während wir heute nur eine geduldete Masse darstellen, ein notwendiges Übel.

Der Sinn dieser Maßnahmen liegt weniger in dem Gedanken, billiger produzieren zu können, als darin, dem Unternehmer die Verfügung über Warenpreis und Arbeitslohn - die beiden Pole der Existenz eines jeden Menschen - zu nehmen, die bekanntlich die Ursachen allen Elends darstellen.

Die Überwindung der Privatwirtschaft liegt, wie jeder sehen kann, in den Händen der Arbeiter selbst. Die Arbeitnehmer zählen heute in Deutschland etwa 22 Millionen Menschen, deren Beiträge hinreichen könnten, in kürzester Frist Betriebe für die Bedarfswirtschaft des gesamten deutschen Volkes zu errichten. Damit würde der Einfluß so groß, daß er hinreichte, den Militarismus zu beseitigen, Kriege unmöglich zu machen. Es fände sich niemand mehr zur Waffenherstellung, weil anderweitig die Existenz gesichert wäre. Es handelt sich auch um unsere Nachkommen, denen wir nicht den Schießprügel und die Giftgase hinterlassen wollen.

Alle andern Betriebe, wie Maschinenfabriken, Hüttenwerke u.a., hängen von den Betrieben der Bedarfswirtschaft ab, von den Abnehmern (Verbrauchern). Weigert sich ein Syndikat, Rohmaterial oder fertige Maschinen zu liefern, dann haben wir genügend Mittel, diese Herren eines andern zu belehren. Die Machtverhältnisse sind dann längst andere geworden.

Kameraden! Es ist Zeit, daß wir vom Reden zum Handeln übergehen, was nicht zur Tat wird, hat keinen Wert. Der politische Knoten muß durchhauen werden, dann ist auch die Einigkeit in der Arbeiterschaft da. In der Arbeit, im Betrieb liegt unsere Stärke. Alle Pflicht- und freiwilligen Beiträge gelten als Anteilscheine, die zurückverlangt werden können.

Die Göppinger Gruppe


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Anmerkung der Redaktion (der "Fanal")

Wir bringen den Aufruf unserer Göppinger Kameraden lediglich deshalb, damit auch ihre Meinung gehört werde, obgleich wir diese Meinung beim besten Willen nicht teilen können. Es ist sicher kein Doktrinarismus, der unsere Stellung bestimmt. Wir begrüßen mit Freude jeden neuen Gedanken in der Bewegung, der dazu angetan ist, die Initiative zu beleben und neue Anregungen zu schaffen. In diesem Falle aber glauben wir bestimmt, daß unsere Genossen, an deren guten Willen wir nicht eine Sekunde zweifeln, sich die Sache etwas zu leicht vorstellen. Vor allem ist der Gedanke selbst durchaus nicht neu; er wurde Jahrzehnte lang von der Arbeiterbewegung ganzer Länder vertreten und führte zu tausenden kleinerer und größerer Versuche, die leider alle mit einem vollständigen Mißerfolg endeten. Die Hauptursache dieser Mißerfolge bestand gerade darin, daß man glaubte, innerhalb des bestehenden kapitalistischen Organismus kleinere sozialistische Organismen mit besonderem Eigenleben ins Leben rufen zu können.

Jedes gesellschaftliche Gebilde entwickelt unvermeidlich seine eigenen Gesetze, die in jedem Zweige seines geistigen und materiellen Lebens immer wiederkehren. Der Mensch mag im Laufe der Zeit die Ungerechtigkeit und wirtschaftliche und soziale Verkehrtheit eines gesellschaftlichen Systems erkennen und aus dieser Erkenntnis den Schluß ziehen, daß dieses System gestürzt und an seine Stelle etwas Neues treten muß. Er kann sich mit seinesgleichen zu diesem Zwecke vereinigen und Bewegungen entfachen, die immer breitere Massen ergreifen und eines Tages dazu gelangen, ihr Ziel zu verwirklichen. Aber er kann dieses Ziel nie erreichen, indem er sich eines Tages vornimmt, fortan nach seiner eigenen Überzeugung zu leben und mit seinen Kameraden innerhalb der bestehenden Gesellschaftsorganisation ein Sonderdasein zu führen.

Der Gedanke an und für sich ist sehr verlockend, aber seine praktische Verwirklichung ist eine andere Sache. Solange wir gezwungen sind, in der heutigen Gesellschaft zu leben, werden wir uns ihrem Einfluß nie entziehen können. Gewiß, wir können in unserem Privatleben manche unserer Ideen verwirklichen, aber da handelt es sich immer nur um bestimmte Gewohnheiten, nicht aber um die Grundlagen des heutigen Systems. Dieser Gedanke mag uns niederdrückend erscheinen, allein an seiner brutalen Wahrheit läßt sich nichts ändern. Aus diesem Grunde sollte er uns ein steter Ansporn sein, an dem Sturze dieses menschenfressenden Systems zu arbeiten.

Die praktische Erfahrung langer Jahrzehnte hat uns bisher immer nur das eine gezeigt: Alle Versuche, die während der letzten hundert Jahre von Sozialisten der verschiedensten Richtungen unternommen wurden, um das kapitalistische System durch sozialistische Experimente sozusagen von innen auszuhöhlen und zu Fall zu bringen, sind entweder gescheitert oder sie mußten sich dem heutigen System anbequemen und gerieten dadurch selbst in kapitalistisches Fahrwasser. Vor allem kann die Grund- und Bodenfrage, die nun einmal die wichtigste ist, nur gelöst werden durch die Expropriation der Erde, also durch einen offensichtlich revolutionären Akt, der nur durch eine soziale Revolution denkbar ist. Man kann das Land dem Kapitalisten nicht durch Kauf entreißen, sondern nur durch gewaltsame Enteignung.

Damit sind aber alle weiteren Konsequenzen gegeben. Gerade heute, wo der alte Privatkapitalismus sich immer deutlicher zum Kollektivkapitalismus entwickelt, sind die Aussichten dieser Versuche zweifelhafter als je. Die riesigen Trusts und internationalen Verkaufsgesellschaften sind jederzeit imstande, unbequemen Produzenten die Rohstoffe zu entziehen und jeden Versuch, der ihnen gefährlich scheint, im Keime zu ersticken. In Amerika sehen wir es nur zu oft, wie durch diese Methoden unbequemen Konkurrenten, die durchaus nicht sozialistisch eingestellt sind, das Lebenslicht ausgeblasen wird. Wieviel mehr würde dies der Fall sein, wenn es sich erst einmal um einen direkten Ansturm der Arbeiterklasse handelte, durch welchen die Existenz des ganzen Systems bedroht werden könnte!

Gerade die wichtigsten Produktionszweige der Gesellschaft, Bergwerke, Hochöfen, Transportmittel usw., von denen alles andere abhängig ist, befinden sich heute in den Händen gewaltiger Trusts, die man weder auskaufen, noch durch Konkurrenz beseitigen kann. Der Gildensozialismus, der von allen praktischen Versuchen noch die meisten Aussichten hat, und dem wir in vielen Hinsichten durchaus sympathisch gegenüberstehen, ist nur auf ganz bestimmte Gebiete der Industrie beschränkt. Und sogar dort, wo er erfolgreich arbeiten kann, muß er sich nach den Regeln des kapitalistischen Systems richten. Die Hafenarbeitergewerkschaft von Tampico in Mexiko hat das Unternehmertum vollständig von den Hafenarbeiten ausgeschlossen und das Ein- und Ausladen der Schiffe in eigene Regie genommen. Aber auch sie kann über die Grenzen des Lohnsystems nicht hinausgehen, weil ihre Mitglieder gezwungen sind, innerhalb des heutigen Systems zu leben und sich diesem Einfluß nicht entziehen können. Trotzdem ist das Experiment durchaus zu begrüßen, da es den sozialen Instinkt der Arbeiter stärkt und sie der revolutionären Bewegung nicht entfremdet, was bei vielen anderen Versuchen leider der Fall ist. Im übrigen werden wir in einer der nächsten Nummern noch einmal ausführlich auf diese Frage zu sprechen kommen.

X. Y.

Aus: Fanal, 2. Jahrgang, Nr. 7, April 1928. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand eines PDF der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien (bearbeitet, Oe zu Ö usw.)


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