Augustin Souchy - Reise durch die Kibbuzim (1984)
Vorwort
Der Sage nach gab es in vorgeschichtlichen Zeiten zwischen den Strömen Euphrat und Tigris den schönsten Garten der Welt. Die Propheten des Alten Testaments machten aus der Mär einen Mythos. Die Sehnsucht nach dem Garten Eden ist ungestillt geblieben. Ein irdisches Paradies mochten sich auch die jüdischen Einwanderer erhofft haben, die Anfang unseres Jahrhunderts nach Palästina gekommen waren. Als sie das Gesuchte nicht fanden, errichteten sie sozialistische Siedlungsgemeinschaften, die ihnen das biblische Eden nahebringen sollten. So entstand der Kibbuz.
Die Kunde von den sozialen Neuschöpfungen im alten Palästina drang nach außen. An Sozialexperimenten seit jeher interessiert, wanderte ich von einem Kibbuz zum andern, um das Konzert der neuen Sozialharmonie in seinen wechselnden Variationen kennenzulernen. Zurück in Mexiko, veröffentlichte ich 1953 meine Erfahrungen in dem Buche El Nuevo Israel, un viaje a Kibutzia. 1962 und 1979 hielt ich mich aufs neue zu Studienzwecken in Israel auf. Ich wollte mich mit den Veränderungen vertraut machen, die Praxis und Erfahrungen gebracht hatten. Was ich sah und erlebte, veröffentlichte ich in Zeitschriften.
Vorliegende Schrift ist ein konzentrierter Auszug aus meinen früheren Publikationen. Mir ging es darum, die wirtschaftlichen Grundlagen und die sozialen Lebensformen und Verhaltensweisen kennenzulernen und zu beschreiben sowie auch die Kibbuzim mit den spanischen Colectividades während des Bürgerkrieges zu vergleichen.
Zur Zeit werden die Völker von dem im vorigen Jahrhundert groß und mächtig gewordenen Privatkapitalismus und dem im 20. Jahrhundert geborenen Staatskapitalismus und durch Nationalismus dominiert. Doch diese Mächte werden nicht ewig herrschen. Auch sie sind Entwicklungsetappen, keine Endstationen. Im 21. Jahrhundert, dem wir uns nähern, sind neue Wirtschaftsstrukturen und neue Sozialformationen zu erwarten. Die nächste Entwicklungsstufe dürfte der freiheitliche Kollektivismus sein, in dem soziale Gleichheit sich mit persönlicher Freiheit paart. Den Anfang hierzu haben die israelischen Gemeinschaftssiedlungen gemacht. Wie das geschah und wie die solidarische Freiwirtschaft funktioniert, darüber gibt diese Schrift Auskunft.
Zur Geschichte der Kibbuzbewegung
Ein Endziel wird's nie geben, uns bleibt allein das Streben.
Immer wieder wurde mir die Frage gestellt, was der Kibbuz eigentlich ist, ein Dorf besonderer Art, eine Siedlung, eine Genossenschaft, eine Gemeinwirtschaft, ein Kollektiv? Der Kibbuz ist all das und noch mehr. Er ist eine Großfamilie, eine Gesamtwirtschaft, in der die Produktionsmittel allen gehören und die Mitglieder gemeinsam beschließen, wie die Früchte der gemeinsamen Arbeit allen gleichmäßig zukommen sollen.
Die Idee derartiger Gemeinschaften, die eine soziale Regeneration einleiten sollen, war nicht neu. Sie wurde anfangs des vorigen Jahrhunderts von sogenannten Utopisten erdacht und vorgeschlagen. Die Gesellschaft sollte so vollkommen sein, wie es die Unvollkommenheit der menschlichen Natur zuläßt. Anhänger von Robert Owen, Charles Fourier, Cabet und anderen Theoretikern gründeten auf dem neuen Kontinent Wirtschaftsgemeinschaften, die einer gesellschaftlichen Erneuerung als Vorbilder dienen sollten.
Zur sozialen Misere, unter der die armen Bevölkerungsschichten in allen Ländern zu leiden hatten, kam in Osteuropa, vor allem im russischen Polen und in der zaristischen Ukraine der Antisemitismus. Die Juden wurden ihrer Rasse wegen Pogromen ausgesetzt. Um den Verfolgungen zu entgehen, wanderten Massen des jüdischen Volkes nach dem Westen aus. In den Jahren 1881 und 1882 betrug ihre Anzahl 225.000. Nach England immigrierten von 1891 bis 1901 198.113 Ostjuden.
Als 1896 die Wogen des Antisemitismus im Dreyfusprozeß sich auch in Frankreich bemerkbar machten, gründeten die Juden Mitteleuropas eine nationale Verteidigungsbewegung. 1897 wurde in Basel der erste zionistische Kongreß abgehalten. Seine Begründer setzten sich das Ziel »eine öffentlich rechtlich gesicherte Heimstätte für die Juden in Palästina zu schaffen, die zweckdienliche Besiedlung des Landes mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden zu fördern und das jüdische Volksbewußtsein zu stärken.«
In den nachfolgenden Jahren nahm die Einwanderung osteuropäischer Juden nach Palästina zu. Die Urheimat des jüdischen Volkes, damals eine türkische Provinz, war ein unentwickeltes Land, ohne Industrie, ohne Fabriken, ohne Handelsunternehmen, ohne große Landwirtschaftsbetriebe. Die jüdischen Immigranten fanden keine Arbeitgeber, denen sie ihre Arbeitskraft hätten anbieten können. Dagegen gab es brachliegendes Land, das nutzbar gemacht werden konnte. Die Weltjudenheit sammelte Geld - wobei die reichen Juden, die Barone Rothschild, Hirsch und andere sich generös zeigten - man kaufte Land, das den Haluzim, wie man die Einwandererpioniere auf Hebräisch nannte, zur freien Verfügung gestellt wurde.
Die Besiedelung konnte beginnen, die Frage war wie, individuell oder gemeinschaftlich? Sollte der Boden in Kleinparzellen aufgeteilt oder als landwirtschaftlicher Großbetrieb kollektiv bewirtschaftet werden? Die äußeren Bedingungen - es mußten Brunnen gegraben, Wasserrohre gelegt, Häuser gebaut, Wege gezogen werden - sprachen für Zusammenarbeit. Auch innerlich standen die sich zum Sozialismus bekennenden Einwanderer der Siedlungsgemeinschaft nahe.
Bereits einige Jahrzehnte vorher hatte Moses Hess, sozialistischer Theoretiker und Gesinnungsfreund von Karl Marx, das Palästinaproblem mit dem Sozialismus in Verbindung gebracht. Der Vater des Zionismus, Theodor Herzl, spricht in seinem Buche „Der Judenstaat“ nicht expressis verbis vom Sozialismus, doch sein Zeit- und Glaubensgenosse Theodor Hertzka beschrieb in seinem Zukunftsroman „Freiland“ ein sozialistisches Gemeinwesen, das seine Phantasie in fruchtbare Gefilde Zentralafrikas verlegt. Hertzkas Sozialvision wirkte anregend auf viele Haluzim. In Rußland wurde 1905 die zionistisch-sozialistische Arbeiterpartei gegründet, deren nach Palästina ausgewanderte Mitglieder von einer sozialistischen Zukunft im Lande ihrer Urväter träumten.
Im Geburtsjahr des ersten Kibbuz (1910), wurde auch in Oranienburg bei Berlin - vor allem dank der Initiative zweier deutscher Juden: Franz Oppenheimer und Gustav Landauer und des Nichtjuden Silvio Gesell - die genossenschaftliche Obstbaukolonie Eden gegründet. Die Edenkolonie, die heute noch besteht, ist ein Einzelfall geblieben. Der zur gleichen Zeit in Palästina gegründete Kibbuz Degania hingegen war ein leuchtendes Beispiel, das hundertfache Nachahmung fand.
Der Kibbuz hat auch noch andere historische Quellen, die weiter zurück liegen. Die Geschichte weiß zu berichten, daß ein Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Essener, eine jüdische Religionssekte, eine Gemeinde ohne Privateigentum gründeten. Die aus dem Judentum stammenden ersten Christen lebten im alten Rom gleichfalls in Gütergemeinschaft. Auch in Spanien hat sich der Kollektivgeist der Sephardim (1) vor allem bei der gerechten Wasserverteilung in den Reisfeldern und Obstplantagen der Levante fortschritt- und kulturfördernd ausgewirkt. Der spanische Geopolitiker Gonzalo de Reparaz weist in seinem Buche „La Tragedia Iberica“ auf die Bedeutung des semitischen Einflusses für die Entwicklung der Iberier ganz allgemein hin, während der liberale Historiker Joaquin Costa in seinem anfangs unseres Jahrhunderts erschienenen Geschichtswerk „El Colectivismo Agrario en Espana“ im besonderen auf die Kollektivtraditionen bis zu den Sephardim zurückgeht. Hiermit dürfte sich zum Teil erklären, daß im vergangenen Jahrhundert die kollektivistischen Ideen Bakunins und später Kropotkins kommunistischer Anarchismus nirgends so starken Anklang gefunden hatten wie in Spanien.
Zu Beginn des Bürgerkrieges, im Sommer 1936, wurden die anarchosyndikalistischen Kollektivierungsideen von der Landbevölkerung mit großer Begeisterung aufgenommen und durchgeführt. Die spanischen Colectividades und die israelischen Kibbuzim sind von erstaunlicher Ähnlichkeit, obwohl - und das ist von besonderem Interesse - die einen von der Existenz der anderen nichts gewußt haben.
Als ich 1951 Martin Buber in Jerusalem fragte, warum er seinem Buche „Pfade in Utopia“ die spanischen Colectividades nicht behandelt, ja nicht einmal erwähnt hatte, erwiderte er mir unbefangen, daß ihm davon nichts bekannt sei. Kein Wunder, der spanische Kollektivismus wurde von der Weltpresse ignoriert. Nach dem Siege Francos wurden die spanischen Colectividades aufgelöst. Die Kibbuzim aber bestehen weiter, entwickeln sich, nehmen an Bedeutung zu. Sie sind wichtige freiheitlich sozialistische Gemeinschaften der Gegenwart.
Kibbuz Degania
Dr. Jaroslawski, vormals in Berlin, nunmehr in Tel Aviv praktischer Arzt, Mitglied der pazifistischen Ichudgruppe, der auch Martin Buber nahestand, nahm mich in seinem Auto auf eine Reise nach Galiläa mit. Als wir in einem kleinen Dorf nahe der Stadt Afula hielten, wurden wir von einer Gruppe arabischer Palästinenser mit dem obligaten Turban auf dem Kopf umringt. Mehrere von ihnen sprachen leidlich englisch, was uns nicht wunderte, war doch das Land vorher britisches Mandatsgebiet. Die Leute beklagten sich über ihre mißliche Lage. Bei den Kriegshandlungen zur Zeit der Gründung des Staates Israel kamen sie um ihr Land. Auf ihre Beschwerde setzte die Regierung eine Kommission ein, um die Angelegenheit zu regeln. Die Zeit verging, nichts geschah. Ihre prekäre Lage hatte sich seitdem nicht gebessert. Sie konnten auch nicht Arbeit im nahen Haifa suchen, denn die Militärverordnung, laut welcher arabische Palästinenser ihren Wohnsitz nicht ohne Erlaubnis der israelischen Behörden wechseln durften, wurde noch nicht aufgehoben. »Wir sind Bürger zweiter Klasse«, rief ironisch lächelnd ein etwa vierzigjähriger Mann aus, der, wie er sagte, bei den Engländern im Dienst gestanden hatte und nun zur Ortspolizei gehörte. Privat und persönlich, fuhr er fort, kommen wir mit den Juden gut aus, mit den Regierungsmaßnahmen aber sind wir nicht zufrieden.
Während der Weiterfahrt drehte sich unser Gespräch um diese Arabergruppe. Wir waren uns einig, die Leute hatten Grund zur Unzufriedenheit. Zwar durften sie ihre Klage vorbringen, denn Israel ist kein Diktaturstaat. doch was hilfts? sagte Jaroslawski. Ob sie ihr Land zurück erhielten, wurde mir nicht bekannt.
Bald erreichten wir Degania, den ersten Kibbuz, der 1909-1910 von jüdischen Einwanderern aus Osteuropa gegründet worden war. Keren Kajemet überließ ihnen erstmals 300 und später noch einmal 250 Hektar Ackerboden. Als überzeugte Sozialisten entschlossen sich die Siedler, eine freiheitlich sozialistische Gemeinschaft zu gründen. Den türkischen Sultan interessierte es nicht, wie die jüdischen Einwanderer ihr Gemeinschaftsleben organisierten. Baron Rothschild aber, der das Geld für den Landankauf gegeben hatte, war darüber verärgert. Die Gründer von Degania waren nicht Anhänger einer bestimmten Schule, ihr Sozialismus war intuitiv, nicht abstrakt. Ohne sich in theoretischen Spitzfindigkeiten zu verlieren, begannen sie, gemeinsam zu arbeiten und die Früchte ihre Schaffens unter alle gleichheitlich zu verteilen. Niemand solle benachteiligt, niemand bevorzugt werden, keiner herrisch befehlen dürfen, keiner unterwürfig gehorchen müssen. Wie gesagt, so getan. Ohne sich dessen bewußt zu sein, verwirklichten sie als erste in Israel die Ideale Proudhons, Bakunins, Peter Kropotkins und Gustav Landauers.
Inspirator des Kibbuz Degania war A.D. Gordon, ein aus Polen eingewanderter Intellektueller, der im Alter von 48 Jahren seine Karriere aufgab und sich der Landwirtschaft widmete. Man nannte ihn den jüdischen Tolstoj. Er und seine Genossen waren es, die jenen Siedlungstyp schufen, der von neuen Einwanderern befolgt wurde und heute weltweit als Kibbuz bekannt ist. Der bereits zu Lebzeiten hoch verehrte Gordon, erhielt nach seinem Tode geschichtliche Anerkennung. Kibbuz Degania errichtete mit Hilfe der universellen Judenheit die Stiftung Gordonia, eine Kulturstätte mit einem naturwissenschaftlichen Museum, Lehrsälen und einer Bibliothek. Die Gordonia ist heute der Stolz der israelischen Kibbuzbewegung.
Unser Besuch fiel auf einen Feiertag. Auf den Feldern wurde nicht gearbeitet. Man traf sich im Speisesaal, der auch als Versammlungsort diente. Uns gegenüber saßen zwei »Soldatinnen«, die im Kibbuz bei Erntearbeiten halfen. Eine von ihnen war aus Chile. Erfreut, sich in Spanisch unterhalten zu können, erzählte sie mir, daß ihr Vater nach Gründung des Staates Israel sein Geschäft in Santiago de Chile aufgegeben hatte und die Familie nach dem Lande der Urväter auswanderte. Trotz der drei Jahre, die sie hier lebte, hatte sie sich noch nicht richtig einleben können. Immer noch stand ihr das »individualistische« Chile innerlich näher als das »kollektivistische« Israel. Ihre Kameradin, eine Jemenitin, die mit ihrer Familie aus den gleichen Gründen ins gelobte Land gekommen war, hatte ebenfalls nostalgische Gefühle für das Land ihrer Kindheit. »De gustibus non est disputandum«, über den Geschmack läßt sich nicht streiten, sagte mein Begleiter lakonisch.
Die von Mythen der Vergangenheit umwobene Stadt Tiberias am Westufer des Genezarethsees ist heute ein frequentierter Badeort. Wir badeten selbst an dem Ort, wo, wie es im Neuen Testament heißt, Jesus die Büßerin Maria Magdalena getroffen haben soll. In Tiberias sahen wir uns das Grab des Rabbi Ben Akiba an, von dem die Worte stammen sollen, daß nichts neu, daß alles schon einmal dagewesen ist. Unser Ziel war der in Obergaliläa gelegene Ort Rosch Pinar, wo Dr. Jaroslawski zur Errichtung eines Sanatoriums ein Grundstück erworben hatte.
Wir standen vor dem Holzgerüst des angehenden Neubaus. Selbstzufrieden sah der Sanatoriumsbesitzer in spe sich um. Plötzlich ein Ausruf des Schreckens. Er wies mit der Hand auf fünf seitlich stehende Bäume hin. »Vor zwanzig Jahren«, sagte er, »legte ich hier einen Garten mit etwa hundert Obstbäumen an. Während des Krieges brannten palästinensische und syrische Araber alle meine Bäume nieder; Danach pflanzte ich aufs neue einige Dutzend Schattenbäume für die zukünftigen Sanatoriumspatienten. Nun fällte mir der gedankenlose Zimmermann auch noch diese bis auf den kärglichen Rest, den wir vor uns sehen. Weitere zwanzig Jahre dürfte es dauern, ehe neu gepflanzte Bäume Schatten spenden. Das werde ich nicht mehr erleben. Traurig, traurig!«
Melancholisch blickte der verärgerte Israeli in die baumlose Weite.
Kwutza Schiller
Das historische Kanaan ist ein Land der Singularität, ein Berg - der Karmel, ein Hafen - Haifa, ein Fluß - der Jordan. Selbst die religiöse Phantasie vermochte hier nicht einen attraktiven Olymp mit reicher Götterhierarchie zu bevölkern. Hier waren die ökologischen Voraussetzungen für den Glauben an einen einzigen Gott als Schöpfer des Himmels und der Erde gegeben. Palästina wurde zur Geburtsstätte der monotheistischen Religionen, der mosaischen, der christlichen und der mohammedanischen. In diese Gedanken an den dreifachen Monotheismus war ich versunken, als ich im Autobus von Haifa zur Kwutza Schiller fuhr. Ein Blick auf einen christlichen Friedhof mit Kreuzen auf den Gräbern, an dem der Bus vorbei kam, brachte mich in die reale Welt zurück. Die semitischen Monotheisten sind nicht so barbarisch wie jene arischen Gläubigen in Hitlerdeutschland es waren, die jüdische Friedhöfe vandalisierten.
Die Kwutza (Kibbuz) Schiller wurde 1934 von zwanzig Pionieren (Haluzim) gegründet. Das vom jüdischen Nationalfonds gekaufte Land brauchten sie nicht zu bezahlen. Der Baum- und pflanzenlose Boden konnte im besten Fall Ziegen und Kamele kärglich ernähren, nicht aber Menschen. Hundert Meter tief mußte man graben, ehe man auf Grundwasser stieß. Optimismus, verbunden mit harter Arbeit, halfen über die Anfangsschwierigkeiten hinweg.
Man begann mit zwei Pferden und zwei Kühen. Kanäle wurden gezogen, elektrische Kabel gelegt, Wege gebaut, primitive Häuser errichtet. Als ich siebzehn Jahre später die Gemeinschaft besuchte, zeigte man mir mit berechtigtem Stolz das moderne Wasserwerk, das stündlich 150 Kubikmeter Wasser aus der Tiefe an die Oberfläche pumpt. Unter den 350 Einwohnern, die das Dorf bewohnten, waren vierzig Adoptivkinder. 15 Hektar Land wurden mit Zitrusbäumen, weitere 15 ha mit Bananen bepflanzt. Dazu kamen 80 Rinder, 7.500 Hühner, die jährlich 850.000 Eier legten, sowie Getreide- und Gemüsepflanzungen. Die Siedler lebten in mäßigem Wohlstand. Von den primitiven Hütten aus der Gründerzeit waren nur wenige übrig geblieben. Die meisten Genossen lebten in bequemen Einfamilienhäusern. Die Wirtschafts- und Sozialstruktur war kommunistisch im ursprünglichen Sinne des Wortes, nicht nach dem Muster der staatlichen Zwangswirtschaft sowjetischer Observanz. Die Gemeinschaftsküche ersparte den Frauen den größten Teil der Hausarbeit. Die Befriedigung der Bedürfnisse des einzelnen war unabhängig von der Qualität seiner Leistungen für die Gemeinschaft.
Die Einwanderer bekannten sich zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, doch das Bekenntnis allein hätte nicht genügt, die besondere Situation war es, die den Anstoß gab, das Ideal zu verwirklichen. Die innere Organisation ist freiheitlich. Man praktiziert die direkte Demokratie. Höchste Instanz ist die Gemeindeversammlung. Die leitenden Personen können nur einmal wiedergewählt werden. Für Wohnung, Nahrung und Kleidung benötigt man kein Geld. Als die Gemeindekasse es zuließ, wurden nach und nach Rundfunk- bzw. Fernsehgeräte für die Eigenheime angeschafft. Für Bücher, Kosmetika und andere sekundäre Bedürfnisse gibt es Taschengeld, für Urlaub Reisegeld. Neumitglieder können sich nach halbjähriger Probezeit für definitives Verbleiben entscheiden. Das Verlassen des Kibbuz steht jedem frei, kommt aber selten vor.
Generationsprobleme gibt es freilich auch im Kibbuz. Die Mentalität der im Lande geborenen - man nennt sie Sabras - ist in vieler Beziehung verschieden von jener der Einwanderer. Doch meine Fragen, die ich hierüber an die Alten stellte, wurden nicht pessimistisch beantwortet. In unserer Gemeinschaft, erklärte man mir, kennen wir keine Entfremdung. Alles ist übersichtlich, gesellschaftlich gibt es bei uns keine Differenzierung und keine Rangunterschiede zwischen hoch und niedrig. Gedanklich und gefühlsmäßig hat jeder seine eigenen Erlebnisse. Doch das gehört in das Gebiet der Psychologie, in unserem Kibbuz haben wir keine Psychotherapeuten.
Meine Recherchen galten den wirtschaftlichen Verhältnissen. In den wenigen Tagen, die ich in der Kwutza Schiller verbrachte, konnte ich mich von dem friedlichen Gemeinschaftsleben ohne Privateigentum an Land und Produktionsmitteln überzeugen. Zurück in der Großstadt, empfand ich Nostalgie nach der harmonischen Gemeinschaft der freudigen Arbeit von Gleichen und Freien.
Kibbuz Jawne
In Tel Aviv erfuhr ich, daß es auch religiöse Siedlungsgemeinschaften gibt, die sich von den sozialistischen Kibbuzim strukturell nicht unterscheiden. Das ist im Grund nicht verwunderlich. Die Religion schließt harmonisches Zusammenleben in Gleichheit und Friedfertigkeit nicht aus. Auch in Klöstern leben Mönche und Nonnen in Gleichheit. Die Religionskriege waren das Werk machthungriger Kirchenfürsten, die ihre Anhänger gegeneinander aufhetzten. Ich entschloß mich, einen religiösen Kibbuz näher kennen zu lernen. Von den 14 religiösen Siedlungsgemeinschaften wählte ich Kibbuz Jawne aus.
Die Siedlung liegt etwa 30 Kilometer südlich von Tel Aviv. Zur Mittagszeit angekommen, fand ich die Büros leer, den Speisesaal voll. Ich wartete draußen. Eine Frau kam heraus, lud mich ein, hineinzukommen, bot mir einen Sitz an einem Eßtisch an, servierte mir ohne Fragen zu stellen, ein Mittagessen und setzte mir ein Käppchen auf. Ich sah mich um. Alle Männer hatten eine Kopfbedeckung, wie es der religiöse Brauch erheischt. Meine Annahme, die Religiösen würden Einwanderer aus Nordwestafrika sein, war falsch. Es waren Aschkenasier, deutsche Juden. Auf meinen Dank für die Gastfreundschaft antwortete man mit dem Bibelspruch: »Es steht geschrieben, du sollst bewirten den Fremden, der dein Haus betritt.«
Kibbuz-Sekretär war zur Zeit Chaver Buchaster, gebürtiger Hannoveraner. 1932 war er mit seiner Familie und einer Gruppe Glaubensgenossen aus Norddeutschland nach dem damaligen Palästina gekommen. Es dauerte mehrere Jahre ehe der Kibbuz gegründet werden konnte. 1941 war es soweit. Der Kibbuz erhielt 500 Hektar Land, und danach noch 170 Hektar dazu. Anfangs waren es nur deutsche Juden, später kamen Einwanderer aus andern Ländern hinzu. 1974 lebten im Kibbuz 780 Personen, darunter 280 Kinder und Schüler, die zum Teil von in der Stadt lebenden Eltern dem Erziehungsheim und der Schule anvertraut wurden. Neben Grund- und Mittelschule gab es eine Sonderschule zur Erlernung der hebräischen Sprache. Wirtschaftlich hatte der Kibbuz Jawne es in wenigen Jahren zu beachtenswertem Wohlstand gebracht. Man baut Getreide, Zuckerrohr, Baumwolle, Futterrüben, Obstbäume aller Art, Oliven und vor allem Zitrusfrüchte an. Dazu kommen Werkstätten, Tischlerei, Schlosserei, eine Werkstatt für Klempner- und Rohrlegearbeiten. Kibbuz Jawne hat außerdem die größte Geflügelfarm des Landes – 30.000 Legehühner produzieren jährlich 1.250.000 Eier - und eine eigene Konservenfabrik.
Mit der wirtschaftlichen Entwicklung stieg die Lebenshaltung der Siedlungsgenossen, wie ich in meinen drei Besuchen 1951, 1960 und 1979 festzustellen Gelegenheit hatte. Für den Nahverkehr stehen den Mitgliedern Fahrräder, für den Fernverkehr Autos zur Verfügung. Die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse ist nicht von den Arbeitsleistungen abhängig. Auch den »Sozialistischen Wettbewerb« der kommunistisch regierten Länder kennt man hier nicht. Der Grundsatz: »Jeder nach seinen Bedürfnissen« gilt ohne Dialektik. »Ein Beispiel« sagte mir Chaver Buchaster. »Als Nichtraucher verzichte ich auf Tabak. Gestern gab es Schokolade. Ich erhielt nicht mehr Schokolade als die Raucher. Tabak ist für mich kein Bedürfnis«.
»Wenn aber ein Mitglied seine Bedürfnisse überspannt?«
»So etwas ist noch nicht vorgekommen. Man würde sich schämen, mehr zu fordern.«
Dieses Gespräch wurde bei meinem ersten Besuch im Jahre 1951 geführt. Des Abends erlebte ich eine Überraschung. Die aus Hamburg stammende Frau Adler, mit der wir zusammenkamen, erzählte mir, daß ihre mit Erich Mühsams Bruder verheiratete Schwester mit ihrer Familie in Haifa lebte. Ich konnte ihr Einzelheiten aus dem Leben ihres von den Nazis ermordeten Schwagers - meines ehemaligen Freundes - berichten. Danach sprachen wir über die Stellung der Frau und die Rolle der Familie im Kibbuz.
»Ist es richtig, daß der Kollektivismus im Kibbuz zur Auflockerung der Familienbande führt?«
»Unsinn« war die Antwort. »Der Kibbuz ist eine Wirtschaftsgemeinschaft jenseits von Ehe, Familie, Religion. Die Frau ist im Kibbuz freier als in der Privat- oder Staatswirtschaft. Draußen haben die meisten Frauen eine Doppelbeschäftigung, einmal im Geschäft, in der Fabrik, im Büro usw. und dann zuhause; ihre Arbeitszeit erhöht sich auf 10 bis 12 Stunden und mehr. Im Kibbuz braucht die Frau nicht zu kochen, kein Geschirr zu spülen, keine Wäsche zu waschen. Die beschwerlichen Hausarbeiten werden kollektiv geregelt. Im Kibbuz ist die Frau gleichberechtigte Partnerin«.
»Wie steht es aber mit den Kindern? Kommt es nicht zur Entfremdung zwischen den Familienangehörigen, wenn die Kinder nicht im Elternhause schlafen, essen, spielen?«
Als ich das sagte, traten zwei junge Männer zur Tür herein. Sie hatten meine Worte gehört.
»Der Kibbuz ist unsere Gemeinschaft, hier unsere Familie, und dies unsere liebe Mutter«, sagte einer der beiden, indem er seine Mutter umarmte, wonach auch der andere sie auf die Wangen küßte.
»Sie waren doch mit mir vor einer Stunde im Kinderheim«, fiel Chaver Buchaster ein, »was haben Sie dort gesehen?«
»Ich sah, daß Sie Ihr Kind auszogen, zu Bett brachten und sich mit einem Gutnachtkuß von ihm verabschiedeten. Danach sagten Sie mir, daß Ihre Frau heute zur Stadt fahren mußte, sonst bringen Sie das Kind mit ihr gemeinsam ins Bett.«
»Genügt Ihnen das nicht?«
»Mir wohl«, erwiderte ich, »ich bringe die Argumente der Kibbuzgegner vor.«
»Sie haben unser Krankenhaus gesehen«, nahm Frau Adler das Gespräch wieder auf. »Die Frauen entbinden unter ärztlicher Aufsicht. Liegt das Kind im Babyheim, dann geht die Mutter es stillen. Später kommt der Nachwuchs ins Kleinkinderheim und danach in das Heim für größere Kinder. Die Eltern, vor allem die Mütter, sehen ihre Sprößlinge so oft sie wollen«.
Meine Frage über die geistige Umstellung aus der Sphäre des privaten in die des Kollektiveigentums wurde durch ein konkretes Beispiel beantwortet. Im Anfang hatte nicht jede Frau einen eigenen Mantel. In der Gemeinschaftsgarderobe gab es Mäntel verschiedener Größen und Farben, sowie auch Handtaschen. Jede Genossin konnte sich selbst bedienen. Der Gemeinschaftsgeist - sagte man mir - überwand selbst weibliche Eitelkeit. Bei steigendem Wohlstand erhielt jede Frau ihren eigenen Mantel.
Der Kibbuzgründung ging keine Revolution, keine Gesetzgebung, kein Parteibeschluß voraus. Kibbuz Jawne verdankt seine Existenz der Initiative inspirierter Einwanderer. Was ich hier hörte, waren keine Propagandaphrasen, was ich sah, kein Potemkinsches Dorf. Ohne marxistische Schulung schufen religiöse Sozialrealisten ihre eigene neue Gemeinschaft in Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.
Keriath Anavim
Die Siedlung liegt mehrere Meilen westlich von Jerusalem. Nach einer Busfahrt von 40 Minuten wanderte ich eine halbe Stunde durch die mit Pinien bewachsene Berglandschaft. Auf dem gleichen Boden, unter der gleichen Sonne wandelten vor fast 2.000 Jahren Illuminaten, die eine Religion gründeten, zu der sich heute noch ein großer Teil der Menschheit bekennt. Mein Ziel war die Siedlung Keriath Anavim, wo der in Berlin geborene Zahnarzt Dr. Rosenstein seine Praxis ausübte. Sein Domizil lag hinter dem Haus des Buches, wie man hier die Schule nennt. Doch nicht Zahnschmerzen waren es, die mich zum Dentisten führten. Rosenstein war mir vom Bibliothekar des Presseamtes als Sachverständiger in Kibbuzfragen empfohlen worden. Bei einer Tasse Tee hatten wir eine lange Unterredung, in der Ziele und Wege, das pro und kontra der Gemeinschaftssiedlung erörtert wurde.
Kiriath Anavim war von jüdischen Einwanderern aus der Ukraine trotz Abraten von Agrarfachleuten des kargen Bodens wegen im Jahre 1920 gegründet worden. Die Niederschläge sollen zwar annähernd 80 Zentimeter jährlich sein, doch das Wasser rieselt ungenützt an den felsigen Abhängen hinunter. Ein alter arabischer Brunnen war versiegt, die Aussicht auf gute Ernten gering. Doch die den Verfolgungen entronnenen Juden schafften es. Vielfach mußten Löcher in den steinigen Boden geschlagen und mit Erde gefüllt werden, um Obstbäume oder Wein pflanzen zu können. Im Laufe der Jahre wurden bis 50 verschiedene Weinsorten erprobt, bis man herausfand, daß die Muskattraube hier am besten gedeiht. Nicht anders war es bei der Viehzucht. Es dauerte Jahre, ehe man darauf kam, daß die friesischen Kühe hier am widerstandsfähigsten sind. Am ertragreichsten ist die Hühnerzucht. Man verkauft alle drei Wochen 32.000 Küken. Haupterwerbszweig sind 32.000 Legehühner.
Der etwa 700 Meter über dem Meeresspiegel gelegene Ort hat ein angenehmes Klima. Die Umgebung ist mit Wald bewachsen. Eine ideale Landschaft für ein Sanatorium. Man erbaute ein Erholungsheim für Feriengäste, Rekonvaleszenten und ausländische Touristen.
»Wie ist Ihre Wirtschaftsstruktur, lieber Doktor, individualistisch, kollektivistisch, kommunistisch?«
»Wir sind eine Kwutza, unsere Siedlung hat 400 Einwohner, 140 davon sind stimmberechtigte Mitglieder, die übrigen Kinder, Jugendliche und auch Personen, die sich nur vorübergehend hier aufhalten. Die Mitgliederversammlung ist höchste Instanz, in der alle organisatorischen Probleme behandelt werden und Leiter für die einzelnen Abteilungen gewählt werden. Wir essen im gemeinsamen Speisesaal. Wohnung, Kleidung, Tabak usw. sind gratis, dazu kommt ein monatliches Taschengeld und Feriengeld. Von Zeit zu Zeit kommen Künstlerensembles für Abendvorstellungen.«
»Berechtigen qualifizierte Leistungen zu höherem Einkommen oder Extrazuwendungen?«
»Nein. Bei uns gibt es keine Einkommensunterschiede, alle haben den gleichen Lebensstandard. Dem Küchenmädel werden ihre materiellen Bedürfnisse in gleicher Weise befriedigt wie mir als Zahnarzt.«
»Wenn ich recht verstehe, ist ihr zahnärztlicher Dienst für die Mitglieder gratis. Wie aber steht es bei Nichtmitgliedern?«
»Die müssen bezahlen, doch das Geld erhalte nicht ich persönlich, es kommt in die Gemeinschaftskasse.«
»Ähnlich war es auch in den Landkollektiven in Spanien während des Bürgerkrieges, die nach Francos Sieg abgeschafft wurden. Heute ist Israel das einzige Land mit freiheitlich sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaften. Glauben Sie, daß diese Bewegung als Alternative zum Privatkapitalismus des Westens und Staatskapitalismus des Ostens eine Zukunft hat?«
»Die Entwicklung in anderen Ländern vermag ich nicht zu beurteilen. Hier in Israel haben wir mehrere Varianten der Gemeinschaftssiedlungen. Eine davon ist der Moschaw Schitufi, den Sie kennen lernen sollten. Dem Moschaw Schitufi gehört meines Erachtens die Zukunft.« (2)
Der nächste Tag führte mich in die Vergangenheit. Auf dem Wege nach dem arabischen Dorf Abou Gosch kam ich an einem halb zerfallenen christlichen Kloster vorbei, an dessen Fassade die Worte standen: Propriete de la Republique Francaise. Der Kastellan, ein bärtiger Eremit, der das riesige Gebäude allein bewohnte und bewachte, zeigte mir zerbrochene Säulen aus der Zeit des römischen Kaisers Titus, einem 70 Jahre nach Christi entdeckten Brunnen, der heute noch klares Wasser spendet und erzählte stolz von den vielen großen Franzosen, die in diesen heiligen Hallen geweilt hatten, von den Kreuzrittern über Chateaubriand, Lamartine, Flaubert bis zu Herriot, den letzten radikal-sozialistischen Ministerpräsidenten. Der treue Chatelain träumte von der Vergangenheit. In der Gegenwart sah er nur die Kräfte des Bösen. Doch mit den Arabern seiner Nachbarschaft lebte er in Frieden.
Schawe Zion
1951
Das im Norden des Landes an der Küste gelegene Dorf Schawe Zion ist von Haifa in einer Stunde Busfahrt zu erreichen. Die vielen Grünanlagen und von Bäumen umschatteten Häuser vermitteln den Eindruck, daß die Siedler mit Lust und Liebe an die Erbauung ihrer neuen Heimat im alten Galiläa gegangen sind. Die Formen ihrer Gemeinschaftssiedlungen, die sie Moschaw Schitufi nennen, unterscheiden sich von denen des Kibbuz. Sie sind kollektivistisch in der Produktion, individualistisch im Konsum. Wie das funktioniert, darüber soll hier berichtet werden.
Gründer des Moschaw Schitufi sind vierzig jüdische Familien, hauptsächlich aus dem schwäbischen Dorf Rexingen, die 1938, im Jahre der hitlerschen Kristallnacht nach Israel ausgewandert waren. Unter ihnen gab es eine Anzahl Viehhändler, die sich in der Landwirtschaft auskannten. Die zionistische Organisation überließ ihnen Ödland, das sie selbst kolonisieren konnten. Wie alle andern Siedler legten sie gemeinsame Wege, Wasserleitungen und Kanäle an und bauten sich, gleichfalls mit gegenseitiger Unterstützung, Wohnbaracken. Bald ging man einen Schritt in gleicher Richtung weiter. Obwohl keine Sozialisten, beschlossen sie aus praktischen Erwägungen, nichts aus ideologischen Motiven, die ihnen anvertrauten 50 Hektar Land nicht individuell, sondern gemeinsam zu bebauen, wovon sie sich größeren Erfolg versprachen. Doch sie hielten an den alten Familientraditionen fest. Keine Großküche, kein Speisesaal für alle. Die Hausfrauen sollten zuhause kochen, Eltern und Kinder am Familientisch essen, alle unter dem gleichen Dach schlafen. Zur Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Gütern eröffnete man einen genossenschaftlichen Konsumladen. Jeder fühlte sich als Schicksalsgenosse, es sollte keine Bevorzugten und keine Benachteiligten geben, der Bedarf aller gleichmäßig gedeckt werden. Das wurde erreicht durch Einführung eines Einheitslohnes ohne Unterschied von Beruf, Alter oder Geschlecht.
Organisationssekretär oder Viehbetreuer, Traktorenführer oder Lehrerin, Mann oder Frau, alle haben das gleiche Einkommen. Der Lohn wird teils in Landeswährung, teils in Ortsgeld bzw. Gutscheinen ausgezahlt, die im örtlichen Konsumladen umgesetzt werden können. Die Arbeitszeit ist für Männer bis zum 60. Lebensjahr auf neun Stunden, danach bis zum 65. Lebensjahr auf sieben Stunden und für Hausfrauen auf fünf bis zwei Stunden täglich festgesetzt, je nach der Kinderanzahl. Die Hausarbeit der Frau in ihrem Eigenheim wird als Arbeit für die Gemeinschaft betrachtet und dementsprechend bezahlt. Das Rentenalter der Frau beginnt mit dem 65., das der Männer mit dem 70. Lebensjahr. (Es war die Pionierzeit, in der viel gearbeitet werden mußte.) Die Höhe der Rente ist die gleiche wie die des Arbeitslohnes. Der Jahresurlaub betrug 12 bis 19 Arbeitstage. Später wurde die Urlaubszeit verlängert. Alle fünf Jahre werden Ferienreisen ins Ausland finanziert. Die Schulzeit der Kinder beginnt mit dem sechsten und endet, einschließlich der Berufsausbildung, mit dem achtzehnten Lebensjahr. Über die Kosten für Universitätsstudien wird von Fall zu Fall entschieden. All dies wurde auf der allgemeinen Vollversammlung einstimmig beschlossen.
Das sind die statuarischen Grundsätze, auf denen der Moschaw Schitufi erbaut ist. Die Produktionsmittel sind kollektiviert, die Einkommen für alle gleich, die Konsumtion bleibt der Privatsphäre überlassen. Die soziale Gleichheit wurde ohne ideologisches Beiwerk eingeführt.
1979
Jahre danach besuchte ich den gleichen Moschaw Schitu zum zweiten Mal. Der Fortschritt war außergewöhnlich, der Ort nicht nur größer, sondern auch schöner, noch grüner geworden, und gerade letzteres ist in wasserarmen Mittelmeerländern von größtem Werte. Palmen und Laubbäume an den Straßen vermitteln den Eindruck eines Kurortes, eines Seebades. Besonders imponierend ist die wirtschaftliche Entwicklung. Die anfänglich 50 Hektar Ackerland sind auf 240 ha angestiegen. Mit Avokadobäumen sind 45 ha bepflanzt, 80 ha mit Mais, 30 ha mit Citrusbäumen, 25 ha mit Gemüse, der Rest mit Baumwolle. Dazu kommen tausende und abertausende Zucht- und Legehühner. Baumwolle und Avokados werden maschinell geerntet, zum Melken der 400 Kühe genügen vier Arbeitskräfte. Die Rationalisierung hat die Höhe der amerikanischen Farm erreicht.
Die Zahl der Mitglieder hat sich verdoppelt. Bei Ausweitung des Arbeitsprozesses stellte man außerdem noch 40 arabische Hilfsarbeiter ein, arabische, weil es keine jüdischen Landarbeiter gab. Die aus Europa eingewanderten Juden waren meist Handwerker, Geschäftsleute, Intellektuelle. Im Kibbuz, wo ein Großteil der Mitglieder sich zum Sozialismus bekennt, hätte die Einstellung bezahlter Lohnarbeiter Diskussionen ausgelöst. Nicht so im Moschaw Schitufi, wo Gründer und Organisatoren keine Gegner des Lohnsystems sind. Löhne und Arbeitsbedingungen werden konventionell geregelt. Arbeitskonflikte hat es bisher noch nicht gegeben. Wie sollte es auch? Wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam die Felder bestellen, kann man nicht von Bereicherung der einen auf Kosten der andern sprechen. Krasse Gegensätze von parasitären Kapitalisten auf der einen und ausgesaugten Proletariern auf der andern Seite gibt es in Schawe Zion nicht.
Die Siedler von Schawe Zion bekennen sich nicht zu einer spezifischen Schule des Sozialismus. Nichtsdestoweniger haben sie für sich eine klassenlose Gesellschaft errichtet, in der Mitglieder und Nichtmitglieder in Harmonie leben.
Genossenschaftsdorf Nahalal
Der Moschaw Owdim Nahalal, 1920 in Galiläa gegründet, ist acht Quadratkilometer groß und hat 1.000 Einwohner. Seine Konfiguration ist einmalig. In der Dorfmitte stehen die von einer Ringstraße umrahmten gemeinnützigen Gebäude, anschließend daran hinter Vorgärten die gleichfalls um eine Ringstraße gruppierten Häuser der Anrainer. Darauf folgen Gemüsepflanzungen, Obstgärten und Getreidefelder, die sich nach außen wie Radspeichen erweiternd bis zur Peripherie hinziehen. Eine vom Flugzeug gemachte Fotoaufnahme zeigt das Panorama dieser modernen Urbanität in ihrer grandiosen Schönheit. Alle Parzellen haben die gleiche Größe. Daß es hier keine reichen Großgrundbesitzer und keine armen Tagelöhner gibt, sieht man den Häusern an.
Der 1909 aus Polen nach Palästina eingewanderte Veteran Nathan Chofsi befand sich bei der Gartenarbeit, als ich ihn besuchte. Auf mein Lob über die ingeniös erbaute Siedlung erwiderte er sachlich, daß es nicht leicht war, sumpfiges Gelände in eine menschenfreundliche Umgebung zu verwandeln. Die Pioniere hatten viel unter Malaria zu leiden. Es dauerte lange, ehe den Siedlern der Weizen blühte. Bei einem streng vegetarischen Imbiß - anstatt Kuhmilch gab es Mandelmilch - erzählte mir Nathan, daß ihm, wie allen andern Siedlern, 10 Hektar Land zugesprochen waren, er aber 8 ha abgegeben habe und nur 2 ha bebaue.
Am Abend kamen wir im Hause eines jungen Siedlerehepaares zusammen, das aus Hitlerdeutschland geflüchtet war und hier eine neue Heimat gefunden hatte. Er stammte aus Braunschweig, sie aus Berlin. Man zeigte mir mit Stolz das zum Teil selbst erbaute Haus mit schönen Räumen und einem modernen Badezimmer. Nachdem die Kinder zu Bett gebracht und die Kühe gemolken waren, begann unser Moschawgespräch, zu dem sich einige Nachbarn eingefunden hatten. Ich stellte die Frage, ob der israelische Moschaw Owdim mit den Bauerngenossenschaften der westlichen Länder Europas vergleichbar ist. Man wies auf den Unterschied hin. Die Kleinbauern Westeuropas sind meist Eigentümer ihres Nutzlandes, im Moschaw Owdim gehört der Boden dem jüdischen Nationalfonds. Er wird nach biblischen Traditionen dem Siedler für sieben Mal sieben Jahre überlassen. Nach Ablauf der 49 »Jubeljahre« kann er ihn weiter behalten, falls er Wert darauf legt. Man zahlt eine kleine Pachtsumme, die aber kaum der Rede wert ist. Die genossenschaftliche Zusammenarbeit im Moschaw Owdim erstreckt sich auf alle wirtschaftlichen Gebiete der Produktion und Konsumtion und auch auf den Kredit. Darin unterscheiden sich die genossenschaftlichen Vorgänge im Moschaw Owdim von denen der dänischen Viehzüchter, die sich auf die Molkerei beschränken.
»Habt Ihr das Recht, Eure 10 ha Land an andere abzutreten?«
»Nein, wer den Moschaw verläßt, hat Anrecht auf Vergütung für die von ihm geschaffenen Verbesserungen. Er kann auch sein Haus, sein Vieh, seine Produktionsmittel etc. verkaufen«.
»Ihr seid weder Kapitalisten noch Kommunisten, aber auch keine Kibbuzniks. Wo endet bei Euch die individuelle oder private und wo beginnt die genossenschaftliche Arbeit?«
»Die Betreuung der Haustiere, die Arbeiten im Gemüse- und Obstgarten verrichten wir mit unseren Familienangehörigen. Kleine Landwirtschaftsgeräte sind Privateigentum. Die Bestellung der Felder aber, wobei Traktoren und andere Maschinen erforderlich sind, die wir nicht privat besitzen, wird genossenschaftlich verrichtet. Alle Siedler gehören den Einkaufs-, Verkaufs- und Arbeitsgenossenschaften an«.
»Habt Ihr das Recht, Lohnarbeiter zu beschäftigen?«
»In Notfällen und manchmal auch bei der Ernte, doch das wird gleichfalls durch die Genossenschaft geregelt.«
»Im Kibbuz hat der Einzelne keine materiellen Sorgen, kein Risiko, die Genossenschaft sorgt für alles, er hat auch Jahresferien und erhält Reisegeld. All diese Vorteile habt Ihr nicht. Aus welchem Grunde habt Ihr Euch für den Moschaw und nicht für den Kibbuz entschieden?«
»Wir ziehen den kleinen Privathaushalt einem Großhaushalt vor. Wir halten an der traditionellen Familie fest. Wir wollen auch nicht tagtäglich im großen Speisesaal essen, wir wünschen, daß unsere Kinder in unserem Hause schlafen. Im Krankheitsfall und auch gegen wirtschaftliche Schwierigkeiten sind wir versichert.«
Wie ich mich überzeugen konnte, war der Lebensstandard im Moschaw etwa der gleiche wie im Kibbuz. Geringere Unterschiede gibt es auch zwischen den einzelnen Kibbuzim. Im Moschaw Yehezkel hatte, wie mir berichtet wurde, 1979 jedes Mitglied sein eigenes Privatauto. Im Kibbuz gibt es keine Privatautomobile, doch die Gemeinschaftswagen stehen allen Mitgliedern zur Verfügung. Der Unterschiede liegt in der Form, nicht im Inhalt. Kibbuzniks und Moschawgenoss(inn)en leben in Gemeinschaften ihrer eigenen Wahl. Sie kamen nicht nach Israel, um die Vorzugswürdigkeit differenter Sozialtheorien experimental zu erproben. Das historische Schicksal war es, das die jüdischen Emigranten in das Land ihrer Urahnen brachte und auch auf die Entscheidungen einzelner einwirkte. Die gegenseitige Hilfe, die im Kibbuz zu gemeinschaftlichen Lösung aller sozialen Probleme führte, wird im Moschaw Owdim in aufgelockerter Form genossenschaftlich organisiert.
Nahalal, das erste Dorf einer Sozialstruktur, die individuelle mit kollektiver Arbeit vereint, ohne zum Aufgeben der einen zu Gunsten der andern zu führen, hatte große Ausstrahlungskraft. 1961 gab es 294 Moschawim dieser Art, heute sind es mehr. Wie immer man ihn beurteilen möge, der Moschaw Owdim ist weder privatkapitalistisch noch staatssozialistisch. Seine Schöpfer verfolgen ein Ziel, sie wollen sich nicht ausbeuten lassen und auch selbst niemanden ausbeuten, weder unterdrückt werden, noch andere unterdrücken. Das haben sie erreicht. Ohne ideologische Prätentionen schufen sie für sich eine Gemeinschaft sozialer Gerechtigkeit, die alle Freiheiten gewährt außer einer, die des andern zu bedrohen oder zu mißbrauchen. Das gilt mutans mutandis auch für den Kibbuz.
Wohnungseigentümer statt Mieter - Ezrah Hadadit
Im Autobus nach Haifa klagten zwei sephardische Frauen in unverfälschtem Ladino, jener Sprache, die zum spanischen in gleicher Verwandtschaft steht wie das Jiddische zum Deutschen, über ihre Wohnungsnot. Kurz nach Proklamierung des Staates Israel kamen sie aus dem Balkan in das gelobte Land ihrer Vorfahren, wo sie den Garten Eden des Alten Testaments zu finden hofften. Ihre Hoffnung hatte sich nicht erfüllt. Seit fast zwei Jahren leben sie mit ihren Familien immer noch im Maabarah, den Zelten, die man ab und zu am Rande der Landstraße sehen kann. Sie waren gerade vom Wohnungsamt gekommen, doch wieder ohne Ergebnis, denn sie hatten, wie sie sagten, keine Beziehungen; Jehova selbst schien sie vergessen zu haben.
Ich wies auf die 650.000 Neueinwanderer hin, für die es nicht genügend Wohnungen gab. Doch jetzt werden überall Häuser gebaut, wie ich mich bei meinen Reisen durch das Land überzeugen konnte. Der Tag sei nicht fern, an dem auch sie ihre Wohnung haben werden, fügte ich hinzu, um sie zu trösten. Ob meine Worte auf sie Eindruck machte, konnte ich nicht wissen, ihren Humor aber hatten sie nicht verloren. Als sie ausstiegen, riefen sie mir lachend zu, ich möchte doch beim reichen Onkel Rothschild ein Wort für sie einlegen.
Lange vor Gründung des Staates Israel beschäftigte sich der Gewerkschaftsbund Histadrut mit der Wohnungsfrage. Die von ihm 1928 gegründeten Wohnungsgenossenschaften hatten bis 1951 Häuser mit 16.700 Wohnungen für insgesamt 68.000 Personen errichtet. Das Kapital für diesen Häuserbau wurde zum Teil in Israel und auch im Ausland durch Sammlungen aufgebracht. Jüdische Kreise in den Vereinigten Staaten spendeten für den Wohnungsbau in Israel im Laufe der Jahre 10 Millionen Dollar. In den mit diesen Geldern erbauten Häusern können betagte Personen billig wohnen. Die Monatsmiete beträgt nur ein Zehntel des Einkommens. Mitglieder der Wohnungsbaugenossenschaften werden im Laufe der Jahre durch monatliche Ratenzahlungen Wohnungseigentümer. Die Amortisation dauert zehn bis fünfzehn Jahre.
Ein illustratives Beispiel für die Gründung einer Stadt im neuen Israel bietet das nahe Tel Aviv gelegene Holon. Der Name ist auf das biblische Wort Holot, Düne, zurückzuführen, und eine Sanddüne war das Gelände bis Anfang der dreißiger Jahre.
Bei meinem ersten Besuch in Holon, 1951, erzählte mir die in Deutschland geborene Frau des Sekretärs der Arbeitersiedlung: »Als wir in den dreißiger Jahren hierher zogen, war ich verzweifelt bei dem Gedanken, daß dies meine neue Heimat werden sollte. So weit das Auge reichte kein Baum, kein Strauch, nicht einmal grüner Wiesengrund, nichts als Sand. Wir blieben und haben es nicht zu bereuen. Arbeit und Ausdauer machten aus der Sandablagerung einen menschenfreundlichen Flecken Erde«.
1934 begannen siebzig Einwandererfamilien mit ihrer Pionierarbeit. Mit Hilfsgeldern aus den USA und einheimischen Krediten baute man die ersten Wohnhäuser. Alle Wirtschaftsunternehmen vom Straßenbau bis zum Krämerladen waren genossenschaftlich fundiert. 1948, zur Zeit der Staatsgründung, war das auf der Autostraße von Tel Aviv nach Jerusalem liegende Holon eine Stadt mit 7.000 Einwohnern. 1979 sah ich ein neues Holon wieder. Die Stadt hatte nun 135.000 Einwohner, Industriebetriebe und eine technische Hochschule als Zweigstelle der Universität von Tel Aviv sowie andere Urbane Einrichtungen. Die Dünen sind verschwunden, breite Straßen beiderseitig mit Bäumen bepflanzt. Öffentliche Anlagen und private Gärten machen aus Holon eine Gartenstadt.
All das ursprünglich ohne Kapitalismus, ohne Staat. Die Gründer waren Arbeiter und Gewerbetreibende. Theologen und Atheisten mögen über die Worte des Johannesevangeliums streiten, ob am Anfang Gott oder der Logos war oder ob beide ein und dasselbe sind. Bei Entstehung von Holon gibt es keinen metaphysischen Streit. Hier war am Anfang die Ezrah Hadadit, die gegenseitige Hilfe.
1962 -1979
Als ich nach zehnjähiger Abwesenheit zum zweiten Male nach »Kibbuzia« kam, fand ich ein verjüngtes Land. Die meisten Kibbuzdörfer waren planmäßig umgebaut. Wirtschaftsgebäude, Stallungen, Fabriken, Reparaturwerkstätten lagen am Dorfrand mit Windrichtung nach außen, im Zentrum der imposante neue Speisesaal, das Verwaltungsgebäude, die Schule, Bibliothek, Klubhaus und - in religiösen Orten - die Synagoge. Versammelten sich nach Feierabend jung und alt vor ihren schmucken Häusern beim Tee, dann schwebte der Geist einer einträchtigen Großfamilie über dem ganzen. Im Innern der Wohngebäude fand man allen Komfort. Es gab Handgeld für Bücher und kleine Extravaganzen. So dürften sich die Utopisten der Vergangenheit ihr soziales Zukunftsideal vorgestellt haben. Die Utopie war Wirklichkeit geworden.
Ein Wochenende verbrachte ich im Negevkibbuz Mefalsim, der einige Jahre vorher von aus Argentinien gekommenen jüdischen Einwanderern gegründet worden war. Festlich gekleidet saßen die Kibbuzfamilien im stattlichen Speisesaal an blumengeschmückten Tischen. Unter dem Schein eines siebenarmigen Kandelabers las eine anmutige Chavera einen Thoraspruch und sang darauf mit heller Stimme in Mozartmelodie eine hebräische Version des Liedes »Komm lieber Mai und mache die Bäume wieder grün«. Einige Momente Stille. Darauf tönte aus hunderten von Kehlen das
alte und immer wieder neue Talmudwort Schalom, Schalom, Friede, Friede durch den Raum. Ein Fluidum der Verbrüderung verbreitete sich von Herz zu Herz. Leider lag der Völkerfriede immer noch in weiter Ferne.
Besonders wichtig ist den Kibbuzniki das leibliche und geistige Wohl ihrer Kinder. Die Neugeborenen sind in einem Babyheim Berufswärterinnen anvertraut, ohne den Müttern entzogen zu sein. Die schulpflichtige Jugend hat ihr eigenes Heim. Der Kibbuz verlängert den gesetzlich achtjährigen Schulunterricht auf zwölf Jahre. Dazu kommt wissenschaftliche Berufsausbildung. Dem Landwirtschaftsberuf wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet.
Benachbarte Kibbuzim errichteten gemeinsam neue, mit allen modernen Lehrmitteln ausgestattete Regionalschulgebäude, wohin die Schüler mit dem Bus gebracht werden.
Der materielle und kulturelle Aufstieg stützt sich auf den wirtschaftlichen Fortschritt. Die Landwirtschaft ist hoch entwickelt. In der Viehwirtschaft erreichen die Kibbuzim durch selektive Zuchtwahl Rassenverbesserung und hohe Spitzenleistungen. Bereits in den sechziger Jahren erzielte man je Kuh 4.500 Liter Milch, zehn Jahre später noch mehr, während man in Rußland über 3.500 Liter nicht hinausgekommen war. 1951 herrschte Mangel an Hühnern und Eiern, 1962 konnte man diese Produkte exportieren. Baumwolle, die es vorher nicht gab, wurde mit solchem Erfolg gepflanzt, daß man in wenigen Jahren Selbstversorgung erreichte. Man führte amerikanische Baumwollpflückmaschinen ein, die die Arbeit von 150 Pflückern leisten. Acht Zehntel der benötigten Baumwollproduktion liefern die Kibbuzim. Man pflanzt mit Erfolg einen großen Teil Tropenfrüchte, sogar Sisalhanf an, dessen Samen von Mexiko eingeführt wurde. Äpfel und Birnen, die 1951 noch importiert wurden, konnten nunmehr ins Ausland verkauft werden. Die Feldarbeit war weitgehend rationalisiert. Kibbuzim der gleichen Region schafften sich gemeinsam moderne Großmaschinen an. In regionalen Konservenfabriken wurden Obst und Gemüsebüchsen versandbereit gemacht. Ein Kibbuz hatte eine Großwäscherei errichtet, in der die Bett- und Leibwäsche der benachbarten Kibbuzim gereinigt wird.
Die Erwerbstätigkeit begrenzte sich nicht auf die Landwirtschaft. Immer mehr Kibbuzim etablierten Industriebetriebe. Die Industrialisierung begann mit Herstellung von Kunstdünger und erstreckte sich in wenigen Jahren bis auf die Elektronik. Der im Negev von deutschen Juden 1941 gegründete Kibbuz Doroth hatte neben der Landwirtschaft eine Fabrik zur Herstellung von Material für Bewässerungsanlagen, die sechzig Personen beschäftigte. Die Hälfte davon waren keine Kibbuzmitglieder, wie mir der aus Hamburg stammende Kibbuzianer Heimann sagte, als er mich durch die Fabrikräume führte.
»Euer Kibbuz ist also Unternehmer, Kapitalist, Boss geworden?« bemerkte ich scherzhaft zu meinem Begleiter. »Warum nehmt Ihr die Leute nicht in den Kibbuz als Mitglied auf?«
»Weil sie nicht wollen«, erwiderte er lakonisch.
Diese Antwort machte mich stutzig. »Warum wollen Sie nicht in den Kibbuz eintreten?« fragte ich eine aus Marokko eingewanderte sephardische Jüdin, die an einer Werkbank stand.
»Der Kibbuz ist eine Sache der Askanasier, nichts für uns«, gab sie mir zurück. Sie war mit ihrer Mutter und ihren Geschwister nach Israel gekommen und konnte sich mit ihren deutsch und jiddisch sprechenden Schicksalsgenossen nicht verständigen. Eine zweite Arbeiterin, gleichfalls Sephardita, erzählte mir, daß ihr Mann in einer anderen Abteilung der gleichen Fabrik arbeite. Beide erhalten guten Lohn, wohnen in einem Hause der gleichen Qualität wie die askenasischen Kibbuzmitglieder, haben alle Bequemlichkeiten einschließlich Kühlschrank. Ihre Kinder gehen in die hebräische Schule. Alle haben zwei Wochen Jahresferien und verbringen zwölf Tage in einem Ferienheim der Histadrut. Es geht ihnen gut. »Warum sollen wir Kibbuzmitglieder werden?« Die Gespräche wurden in französisch geführt, das mein in Deutschland gebürtiger Begleiter nicht verstand. Es lag kein Grund für Camouflage vor.
Der Speisesaal im Kibbuz Doroth war das Nonplusultra der Eleganz. »Wir sind keine verschämten Armen« sagte mir Heimann auf der Freitreppe des vornehmen Gebäudes und fügte hinzu, daß er sich anfangs fast geniert habe, ein so pompöses Lokal in seinem Arbeitskittel zu betreten. Modernisierung und technischer Fortschritt waren Gesprächsthema bei Tisch. Kibbuzveteranen sahen in dem neuen Trend einen Verlust an den alten Idealen und in der fortschreitenden Arbeitsteilung einen Verlust der direkten Demokratie.
»Wenn es selbst in einer kleinen Kibbuzgemeinschaft zwischen dem Leiter eines bestimmten Wirtschaftszweiges und einem Kollegen „der Masse“ zu Schwierigkeiten kommt, wie sollen dann die Probleme in einem großen Kibbuzverband gelöst werden? Der Mensch hat schließlich auch eine Seele, und der größte Teil der Menschheit läßt sich von seinen Gefühlen leiten. Welchen Platz aber können Gefühle in einer großen regionalen Wirtschaftsgemeinschaft einnehmen?«
Diesen Satz las ich in einer spanischen Kibbuzschrift. Die Alten blieben in der Minderheit, die Jugend dachte anders. Die Mehrzahl der Kibbuzniki sah in der regionalen Zusammenarbeit und Arbeitsteilung keinen Verstoß gegen die Kibbuzgrundsätze und keine menschliche Abwertung. Die Rationalisierung setzte sich durch, die Arbeit wurde erleichtert, die Entfaltung der Persönlichkeit nicht gehemmt.
Zwei weitere Aspekte der Kibbuzthematik verdienen hervorgehoben zu werden. Der eine ist die Interessenlosigkeit der sephardischen, nichteuropäischen Juden am Kibbuz. Von den vielen hunderttausenden aus nordafrikanischen und kleinasiatischen Ländern nach Proklamierung des Staates Israel eingewanderten Sephardim schlossen sich nur 4.5% den Kibbuzim an. Das sozialistische Gedankengut der aus Europa eingewanderten Askanasier ist diesen Sephardim fremd.
Der andere Aspekt betrifft die im Kibbuz geborene Jugend. Eine Minderheit der Jugendlichen, vor allem aus Galiläa, verzichtete auf den von ihren Eltern geschaffenen Wohlstandskibbuz und wanderte in den Negev aus, wo sie aus Idealismus und jugendlichem Eifer unter schwierigen Bedingungen in harter Arbeit am Aufbau neuer Kibbuzim mitwirkten. Doch ein größerer Teil - man spricht von 50% - übersiedelte aus dem Kibbuzidyll von Wohlstand und Freiheit in die Stadt. Ob sie von Wissensdurst, Erlebnishunger oder anderen Motiven getrieben waren, kann hier nicht erörtert werden. (3) Wer zurückkehrt, wird wie der verlorene Sohn der Bibel wieder aufgenommen. Der Kibbuz hat für subjektives Individualverhalten Verständnis. Als Allfamilienvater gewährt er den neuen Großjährigen Mittel zu einer Auslandsreise. Jahrzehntelange Erfahrungen haben gezeigt, daß die psychosozialen Probleme im Kibbuz weit geringer sind als in andern Gesellschaftsstrukturen. Gewalttaten und asoziales Verhalten gibt es im Kibbuz nicht. Diebstahl kommt fast nie vor, Straftaten sind der Kibbuzgesellschaft unbekannt.
Von der Histadrut über den Judenstaat - zum Sozialismus?
Nach dem ersten Zionistenkongreß in Basel schrieb Theodor Herzl am 23. September 1897 in sein Tagebuch: »In Basel habe ich den Judenstaat gegründet.« Das mochte im Grunde gestimmt haben, in der Zeit hatte sich der Prophet um ein halbes Jahrhundert geirrt. Als die tausend und abertausend Emigranten jüdischer Provenienz aus den osteuropäischen Ländern in die türkische Provinz Palästina kamen, trugen sie in ihrem Reisegepäck noch keinen Judenstaat mit sich. Der Staat Israel trat 1948 ins Leben. Die Einwanderer dachten vor allem an soziale Geborgenheit und persönliche Sicherheit. Nahrung, Wohnung, Kleidung, Schulen für die Kinder waren die konkreten Zielsetzungen. Das aber konnte bei Masseneinwanderungen nicht isoliert erreicht werden. Mit sozialistischen Idealen vertraut, ergriffen die aktivsten unter ihnen die Initiative zur Gründung eines Gewerkschaftsbundes. Der Gründungskongreß, auf dem 88 Deligierte 4.400 Mitglieder vertraten, tagte 1920 in Haifa. Die neue Organisation erhielt den Namen Histadrut, ihre Aufgabe war »Wahrnehmung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen der Arbeiter«. Auf ihrem Kongress, der 1977 in Jerusalem stattfand, hatte die Histadrut nach Angaben ihres Vorsitzenden Jeruscham Meschel 1.365.711 Mitglieder. Das sind 85% der Arbeiterbevölkerung des Landes, ein Prozentsatz, der in keinem anderen Lande erreicht sein dürfte.
Die Histadrut unterscheidet sich sowohl in ihrer praktischen Tätigkeit als auch in ihrer Zielsetzung von den Gewerkschaften der meisten anderen Länder, was auf die ökonomischen Bedingungen, die politische Situation und die besonderen Verhältnisse in einem Einwandererland zurückzuführen ist.
Nur eine Hälfte der Mitglieder sind Lohnempfänger, die andere Hälfte gehört Gemeinschaftssiedlungen und/oder gewerblichen Genossenschaften an. Auch in den Städten war die Situation anders als in den Ländern, aus denen die Immigranten gekommen sind. Gewerbe und Industrie waren unentwickelt. Gelernte und ungelernte Arbeiter etablierten genossenschaftliche Industriebetriebe, bisherige Arbeiter wurden ihre eigenen Unternehmer. Zum Lohn kam Gewinnbeteiligung. Dennoch waren die Lohnarbeiter keine Kapitalisten geworden, sie fühlten sich mit ihren Kollegen der Privatbetriebe verbunden und traten der Gewerkschaft bei. Damit wurde die Histadrut mit neuen Problemen konfrontiert, wie aus der Grundsatzerklärung ihres ersten Kongresses hervorgeht. Darin heißt es:
»Die Histadrut stellt sich die Aufgabe, in allen Zweigen der Landwirtschaft und Industrie, in den Städten und auf dem Lande Unternehmen und Kreditinstitute zu gründen, Gelder für Siedlungen und anderer Wirtschaftsunternehmen aufzubringen, Kollektive und Arbeitsgruppen zu bilden, Arbeitsnachweise zu errichten, Arbeitsaufträge verschiedener Art zu übernehmen und auszuführen, die Organisierung von Produktions- und Konsumtionsgenossenschaften zu fördern, die hebräische Sprache zu erneuern, Zeitungen und Literatur über berufliche und allgemeine Themen in dieser Sprache herauszugeben, kulturelle Einrichtungen ins Leben zu rufen, die Einwanderung zu organisieren und für die Neueinwanderer zu sorgen, ihnen Arbeit zu verschaffen, freundschaftliche Beziehungen mit den arabischen Arbeitern des Landes anzuknüpfen und die gegenseitige Hilfe in Form von Krankenkassen und Sozialversicherungen zu organisieren.«
Diese Programmpunkte haben eine gewisse Koinzidenz mit der Charte d'Amiens der französischen Syndikalisten vom Jahre 1906. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß die Histadrut eine syndikalistische Theorie hat. Zwischen ihr und dem Syndikalismus gibt es grundlegende Unterschiede. Die Syndikalisten lehnen politische Parteien und auch den Staat selbst ab, die Histadrut, die beide akzeptiert, hat seit ihrer Gründung einen demokratischen Judenstaat gefordert und sich für die Verteidigung des existierenden Staates Israel eingesetzt. Solange es keinen jüdischen Staat gegeben hat, betrachtete die Histadrut sich selbst als Treuhänderin vor allem des arbeitenden Volkes, dessen Interessen wahrzunehmen sie sich verpflichtet fühlte. Das neue Heimatland der Juden sollte auf der Basis der sozialen Gerechtigkeit erbaut werden.
Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte gründeten sich zahlreiche Produktionsgenossenschaften. Das bedeutendste Wirtschaftsunternehmen dieser Art ist die Solei Boneh, eine von Arbeitern und Fachleuten auf genossenschaftlicher Basis gegründete Baufirma. Das annähernd 20.000 Mitarbeiter beschäftigende Unternehmen hat eigene Fabriken zur Herstellung von Baumaterial, Zement, Kacheln, Kunstmarmor, eine Eisengießerei zur Herstellung von Wasser- und Ölleitungsröhren, ein Fabrik für Badewannen usw. Die meisten Neubauten und Wohnhäuser im damaligen Palästina und heutigen Israel wurden von der Solei Boneh errichtet. Das Unternehmen führt Straßen, Brücken-, Tunnel- und Kanalbauten auch in anderen Ländern aus. In Äthiopien sah ich eine neue Brücke über den blauen Nil, die von der Baugenossenschaft Solei Boneh errichtet wurde.
Das zweitgrößte Histadrutunternehmen ist die genossenschaftliche Autobusgesellschaft Egged, eine von Chaffeuren und Lastkraftwagenführern gegründete Firma, in deren Händen der gesamte Personenverkehr des Landes liegt. Eisenbahnlinien verbinden nur die Städte Haifa, Tel Aviv und Jerusalem mit den auf dieser Strecke liegenden Orten. Alle anderen Städte und Ortschaften sind nur auf Autostraßen zu erreichen. Genossenschaftsunternehmen gibt es auch in der Schwerindustrie, der Textil- und anderen Branchen. Dazu kommen noch Privatbetriebe unter Mitbeteiligung der Gewerkschaften.
Die genossenschaftlichen Wirtschaftsunternehmen sind strukturell nicht gleichartig. In kleinen Betrieben bestimmen die Mitarbeiter bzw. Angehörigen selbst über alles, vor allem über die Gewinnverteilung. In Großbetrieben, in denen die Histadrut Kapital investiert hat, nehmen deren Vertreter an den Aufsichtsratssitzungen mit Stimm- und Beschlußrecht teil. Die leitenden Posten müssen nach zwei Funktionsperioden zu je drei Jahren abgelöst werden. Die Teilnahme an den Aufsichtsratssitzungen wird nicht bezahlt. Den Status der Arbeiter betreffende Fragen müssen mit den Gewerkschaften ausgehandelt und beschlossen werden.
Alle Genossenschafts- oder Gemeinschaftsunternehmen der Histadrut sind in der Holdinggesellschaft Hewrat Ovdim zusammengfaßt. Der Hewrat Ovdim gehören auch die Großeinkaufs- und Großverkaufsgenossenschaften der Kibbuzim, die Hamaschbir Hamerkasi und die Tnuva an. Zur Regelung der Geldangelegenheiten hat man eine eigene Bank gegründet, die Hapoalim. In der Wirtschaft des Landes kommt dem Genossenschaftssektor der Histadrut eine beachtliche Bedeutung zu. Zur Zeit der Gründung des Staates Israel gehörten 177.000 Menschen der Kollektivwirtschaft an. Dazu kamen 200.000 Einwohner der Siedlungsgemeinschaften, Kibbuzim, Moschawim usw., die für 65% des Lebensmittelbedarfs des ganzen Landes aufkamen. Der Anteil der in der Histadrut zusammengefaßten Wirtschaftsunternehmen am Bruttosozialprodukt betrug 23%. (4)
Die Ansiedlung im Gebiet des 50 Jahre zuvor von Herzl angestrebten Judenstaates gab den jüdischen Einwanderern Gelegenheit, der Welt zu zeigen, daß sie selbst - ohne einen Staat - zu humanitären Werken fähig sind. Der Beweis hierfür ist die Kupat Holim, die freiwillige Krankenversicherung, die, bereits in den zwanziger Jahren ins Leben gerufen, von den Gewerkschaften aufgebaut und organisiert wurde. Es begann mit Geldsammlungen unter den armen Immigranten für ärztliche Betreuung von Malariakranken. Später beschloß die Histadrut aus praktischen Gründen den Krankenkassenobulus in den Gewerkschaftsbeitrag einzubeziehen. Auch die Mitglieder der Kibbuzim und der anderen Siedlungsgenossenschaften gehören der Kupat Holim an. Heute sind über 2.5 Millionen Menschen, 75% der Gesamtbevölkerung, in der gewerkschaftlichen Krankenkasse versichert. Die Kupat Hoplim ist auch nach Gründung des Staates Israel eine autonome Volksorganisation geblieben.
Besondere Beachtung verdient die Einstellung der Histadrut zu den Frauen. Nicht nur die berufstätigen Frauen, auch die Hausfrauen können der Gewerkschaft als vollberechtigte Mitglieder angehören. Den Frauen ist Gelegenheit gegeben, sich mit praktischer Sozialarbeit wie Mutterhilfe, Kinderbetreuung und anderer Sozialarbeit zu beschäftigen.
Hervorzuheben ist auch das Bemühen der Histadrut um das Schulwesen. Die Gewerkschaften gründeten Schulen, in denen die Kinder der Einwanderer unterrichtet wurden. Nach der Staatsgründung übernahm das Unterrichtsministerium diese Aufgabe, die angesichts einer Million Neueinwanderer aus nordafrikanischen und kleinasiatischen Ländern und den damit verbundenen idiomatischen Schwierigkeiten nicht leicht war. Nichtsdestoweniger nimmt die gewerkschaftliche Bildungstätigkeit ihren Fortgang. Bis 1950 unterhielten die Gewerkschaften 60 Berufsschulen, in denen 17.000 Jugendliche beiderlei Geschlechts im Alter von 15 bis 17 Jahren ausgebildet wurden. Der gewerkschaftlichen Sportorganisation Hapoel gehörten damals in 960 Zweigstellen 140.000 Jugendliche an.
Dieses vielfältige weitverzweigte Tätigkeitsgebiet der Histadrut erinnert mich an die C.N.T., den Gewerkschaftsbund der spanischen Anarchosyndikalisten, der sich gleichfalls neben den gewerkschaftlichen auch wirtschaftlichen und kulturellen Aufgaben widmete, was während des Bürgerkrieges (1936-39) von gesellschaftsumwälzender Bedeutung war. Obwohl aus ideologisch unterschiedlichen Quellen schöpfend, zeigen beide, die Histadrut und die C.N.T., bei ihren praktischen Aktivitäten auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet eine erstaunenswerte Ähnlichkeit. Ein eklatantes Beispiel hierfür ist die freie Schulbewegung der syndikalistischen Gewerkschaften Kataloniens, für die der Initiator, Francisco Ferrer, 1909 (im Original fälschlicherweise 1910, Anm.) sein Leben lassen mußte.
Geschichtlich gesehen kann die israelische Histadrut als expatriierte Fortsetzung der Allgemeinen Arbeiter-Union polnischer Juden - meist unter dem Namen Bund bekannt - betrachtet werden. Der Bund war eine Organisation, der zur Zeit des aufsteigenden Zionismus 80 Prozent der 3 Millionen Juden angehörten, die damals im russischen Polen lebten. Die führenden Köpfe der Histadrut sowie der sozialistischen Regierungspartei Mapei [mit Ben Gurion an der Spitze] kamen aus den Reihen der »Bundisten«, waren aber keine dogmatischen Marxisten. Auch die ersten Kibbuzgründer stammten aus der gleichen geistigen Heimat. Für den dogmatischen Marxismus ist die Gründung von Landwirtschaftssiedlungen ein Utopie. Marx und vor allem sein Schüler Lenin sahen in der Landbevölkerung Gegner ihres Sozialismus. Sie setzten ihre Hoffnung auf das Industrieproletariat, mit dessen Hilfe die Staatsmacht erobert und danach der Sozialismus von Staats wegen eingeführt werden sollte. In Israel verlief die Entwicklung anders. Mit Hilfe der Histadrut wurden - wie bereits berichtet - lange vor Etablierung des Staates in den Industrien Produktionsgenossenschaften gegründet. Das war eine Strategie, die den Gedankengängen Ferdinand Lassalles näher stand als denen von Karl Marx. Die Histadrut förderte auch privatkapitalistisch-genossenschaftliche Gemischtunternehmen. Obwohl die Führer der Histadrut sich nicht offen zum Antimarxismus bekannten, ist ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik weit entfernt von dem marxistischen »realexistierenden Sozialismus« in den von kommunistischen Parteien beherrschten Ländern. Die jüdischen Immigranten in Israel errichteten ihr sozioreformistisches Gemeinwesen, ohne das von Marx prophezeite Ende des Kapitalismus abzuwarten. Das kapitalistische System in Israel ist nicht verschwunden. Privatkapitalistische und genossenschafliche und kollektivistische Unternehmen bestehen nebeneinander. Die Histadrut hat nicht den Weg der gewaltsamen Substituierung der Freiwirtschaft durch die staatliche Zwangswirtschaft beschritten.
Daß im heutgen Israel alle Menschen im gleichen Wohlstand leben, kann man indes nicht behaupten. Der Vorsitzende der Histadrut, Y. Meschel, sprach von 10 Prozent der Bevölkerung, die noch in Armut leben. Ein sozialistisches Paradies ist Israel nicht, doch von einer kapitalistischen Ausbeutungshölle kann man auch nicht sprechen. Ohne die ungelöste Palästinenserfrage stünde Israel in der vordersten Reihe der fortschrittlichsten Nationen.
Als ich diese Betrachtungen mündlich vortrug, erwiderte ein israelischer Gesprächspartner: »Die Histadrut hat sich das Ziel gesetzt, die sozialen Klassen abzuschaffen. Die Gesellschaftsordung in unserem Lande soll so beschaffen sein, daß Juden und Araber in gleichem Wohlstand, bei gleicher Freiheit, mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten miteinander leben können.«
Dazu konnte ich nur sagen: Ainsi soit-il. So soll es sein.
Nachwort
Nach einem Vortrag, den ich über die israelischen Gemeinschaftssiedlungen gehalten hatte, wurde über das Thema ausgiebig diskutiert. Mir wurde u.a. die Frage gestellt, ob Israel als kapitalistisches oder sozialistisches Land zu bewerten sei. In meiner Antwort erklärte ich:
Israel ist ein Nation westlichen Stiles. Die Staatsstruktur ist demokratisch, die Politik liberal, die Wirtschaft pluralistisch. Die Proportionen der einzelnen Sektoren sind aufschlußreich. 42% der Wirtschaftsunternehmen befinden sich im Privatbesitz, 35% sind staatlich, 23% genossenschaftlich betriebenes Kollektiveigentum. Der Staatsverwaltung unterstehen das Militär, das Unterrichtswesen, die Eisenbahnen und die Post. Der auf das ganze Land ausgedehnte Autobusverkehr ist ein Kollektivunternehmen der hierin Beschäftigten. Wie bereits vorher erwähnt, wohnen 80% der Bevölkerung in Eigenheimen. Die von den Gewerkschaften vor der Staatsgründung organisierte Sozialversicherung, Kupat Cholim, funktioniert heute noch unabhängig vom Staate in Arbeitsgemeinschaft mit dem Gewerkschaftsbund. Die vielen Produktions- und Konsumtionsgenossenschaften sind in einer Dachorganisation vereinigt, die den Namen Hewrat Owdim trägt und gleichfalls dem Gewerkschaftsbund, der Histadrut angehört. Die Gewerkschaftsbank Hapoalim, ist das zweitgrößte Finanzinstitut des Landes.
Das Nebeneinander von privaten, genossenschaftlichen und staatlichen Wirtschaftsunternehmen einschließlich Sozialorganisationen läßt keine universale Pauschalbezeichnung zu. Wer auf spezifische Nomenklatur Wert legt, kann die Privatunternehmen als kapitalistisch, den Kibbuz als anarchokommunistisch, den Moschaw Schitufi als freisozialistisch, den Moschaw Owdim und die vielen Produktions- und Konsumvereine als sozialgenossenschaftlich bezeichnen. Alles in allem ist Israel ein Konglomerat von Kapitalismus, Sozialismus und Staat, wobei der Staat nicht als sozialistisch betrachtet werden darf.
Frage: Worin liegt die Vorzugswürdigkeit des israelischen Kibbuz im Vergleich zum russischen Kolchos?
Antwort:
1. Eintritt und Austritt bleiben der Entscheidung jedes einzelnen überlassen.
2. Der Staat mischt sich in die inneren Angelegenheiten des Kibbuz nicht ein.
3. Der israelische Kibbuz oder Moschaw sind der russischen Kolchose wirtschaftlich überlegen.
4. Der Lebensstandard des Kibbuzniks ist höher als der des Kolchosniks.
Frage: Ist in Israel selbst die private Landwirtschaft der kollektiven voraus?
Antwort: Nein, im Gegenteil. Laut offizieller Statistik stieg die Produktivität zwischen 1960 und 1972 in den privaten Landwirtschaftsbetrieben um 50%, in den Kibbuzim und Moschawim um 70 Prozent. Von Israels Gesamteinwohnerschaft leben in den Kollektivdörfern nur 3,7%, die aber 36 Prozent des Ackerlandes bewirtschaften. Sie liefern 80 Prozent der Bananenernte, 62% der Kartoffelernte, 61 % der Zuckerrübenernte, 47% des Weizens, 58% der Fische, die zum Teil in selbst angelegten Teichen gezüchtet werden, und 43 Prozent des Schlachtviehs. Obwohl die Gemeinschaftssiedlungen nur über 20 Prozent der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte verfügen, erstellten sie 1972 ein Drittel der gesamten Agrarproduktion. Sie waren es, die neue Pflanzenarten einführten und die Israels Landwirtschaft auf das technisch hochentwickelte Niveau von heute brachten.
Noch ein Wort über die sozialen Unterschiede. Im Kibbuz herrscht vollständige soziale Gleichheit, im Moschaw Schitufi und Moschaw Owdim können die Mitglieder ihnen von außen zufallendes Geld, beispielsweise aus Erbschaften, bis zu einer gewissen Summe behalten. Damit erklärt sich die Anschaffung persönlicher Autos. Anfang der siebziger Jahre gibt es im ganzen Lande 228 Kibbuzim, 294 Moschawim Owdim und 20 Moschawim Schitufim mit insgesamt 113.000 Einwohnern. Dazu kommen die Produktions-, Konsumtions- und Dienstleistungsgenossenschaften. Der kollektive Wirtschaftssektor Israels dürfte ein Viertel der Gesamtbevölkerung erfassen.
Frage: Hat sich im Laufe von mehr als einem halben Jahrhundert nicht einiges in den Kibbuzim verändert?
Antwort: Gewiß, die Kibbuzim treten nicht auf der Stelle, sie schreiten vorwärts. Die weltweite technische Entwicklung des 20. Jahrhunderts ging auch an den sozialistischen Gemeinschaftssiedlungen nicht spurlos vorüber. In den letzten drei Jahrzehnten gründeten fast alle Kibbuzim Industrieunternehmen. Zur Zeit meines letzten Besuches gab es 291 Kibbuzfabriken für Metallverarbeitung, Konservenbüchsen, Plastik- und Gummiwaren, Baumaterial und chemische Produkte, für Lederverarbeitung und Herstellung von Schuhwerk, Elektrogeräte, optische Gebrauchsgegenstände und anderes mehr. Ein Beispiel: Der Kibbuz Dalya betreibt neben einer Seifenfabrik auch ein Werk zur Herstellung von Wasseruhren, deren hohe Qualität Weltruf hat. Hier traf ich Miriam Michaelis, eine gebürtige Berlinerin, die vier Stunden täglich mit dem Schraubenschlüssel hantiert und weitere vier oder mehr Stunden, dem Ruf ihres Herzens folgend, Radiosendungen vorbereitet oder Bücher schreibt, ein lebendes Symbol von Fouriers Symbiose von Hand- und Kopfarbeit.
Die Industrialisierung hatte natürlich auch Auswirkungen auf sozialem Gebiet und in der menschlichen Lebenssphäre. Die Kibbuzfabriken benötigten Facharbeiter und neue Arbeitskräfte. Nicht alle Fachleute aber wollten oder konnten dem Kibbuz beitreten, sie mußten für ihre Leistungen mit Geld entlohnt werden. In der Landwirtschaft war die Beschäftigung von Lohnarbeitern während der Erntezeit vorübergehend, in den Industrieunternehmen aber wurde sie zu einem Dauerzustand. 1978 gab es in den Kibbuzfabriken 11.722 bezahlte Arbeitskräfte. Damit war die für den Kibbuz charakteristische Identität von Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einer Person durchbrochen.
Nach Ansicht von Theoretikern stand die permanente Beschäftigung von Lohnarbeitern im Widerspruch zu den sozialistischen Grundsätzen. 1962 nahm ich in Tel Aviv an einer Diskussion über dieses Thema teil. Die Pragmatiker wiesen auf die guten Lohn- und Arbeitsbedingungen in den Kibbuzim hin, um die Beschäftigung von Lohnarbeitern zu verteidigen. Um meine Meinung gefragt, erklärte ich, daß während des spanischen Bürgerkrieges in den kollektivierten Industriebetrieben und in Handelsunternehmen das Lohnsystem zunächst beibehalten, die Höhe der Löhne aber in Betriebsversammlungen festgesetzt wurde. Bei meinem dritten Israelbesuch 1979, erfuhr ich, daß in nicht wenigen Kibbuzbetrieben die Entlohnung den gewerkschaftlichen Tariflohn um 25 Prozent übersteige. Die Ideologen anerkennen das als Zeichen guten Willens, bewerten es aber nicht als sozialistisch. Die alle befriedigende Lösung wäre - wie ich ausführte - eine periodische Vorschußauszahlung und eine gleiche Jahresgewinnausteilung in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Belegschaftsversammlung.
Hierbei dürfte man sich aber nicht Jogoslawien zum Vorbild nehmen, wo es unter der Selbstverwaltung Unternehmen gibt, in denen der Arbeiter 3.000 Dinar Jahresgewinn erhält, während der Direktor 80.000 Dinar einstreicht, wie Tito selbst laut »Politika«, Belgrad, vom 7. Mai 1962 sagte. In Israel, wo die Leiter der Industrieunternehmen als Kibbuzmitglieder weder Gehalt noch Gewinnanteile erhalten, kann so etwas nicht vorkommen. Außerdem werden die verantwortlichen Funktionäre turnusgemäß durch Rotation gewechselt. Dazu kommt, daß die Kibbuzjugend für die Übernahme und Ausübung verantwortlicher Funktionen schulisch ausgebildet wird. Damit will man Vorsorge dafür treffen, daß auch in Zukunft die Kibbuzunternehmen keine Nester für die Ausbrütung von Bürokrateneiern werden.
Letzte Frage: Hat der Kibbuz eine Zukunft?
Antwort: Des Kibbuz Zukunft ist der Mensch. Älter als der russische Kolchos oder Sowchos, verdankt der Kibbuz seine Geburt dem freien Willensakt seiner Proselyten. Der Kibbuznik war es, der den Kibbuz schuf. Der Kibbuz wird solange existieren, wie die Kibbuzniks ihn praktizieren. Die große Welle der Kibbuzgründungen aus den zwanziger Jahren ist beendet, gegenwärtig werden nur noch vereinzelt neue Kibbuzim gegründet. Das hat seine historischen Gründe, doch die existenten Gemeinschaftssiedlungen haben dank ihrer wirtschaftlichen und sozialen Erfolge wohl begründete Zukunftsaussichten. In sechzigjährigen persönlichen Erfahrungen, angefangen im bolschewistischen Rußland im Jahre 1920, über die Colectividades während des spanischen Bürgerkrieges, die mexikanischen Ejidatarios, die kubanischen Guajiros unter Fidel Castro und drei in längeren Abständen vorgenommenen Reisen in Israel konnte ich mich überzeugen, daß die Kibbuzim und Moschawim alle mit Staatskontrolle durchgeführten agrarischen Sozialexperimente des 20. Jahrhunderts in Schatten stellen. (5) In Spanien war es Franco, der nach seinem Siege im Bürgerkrieg dem libertären Kollektivismus ein Ende bereitete. Nur in Israel besteht der freiheitliche Kollektivismus seit siebzig Jahren weiter; sein Gedeihen in Vergangenheit und Gegenwart verbürgt ihm eine prosperierende Zukunft.
Freilich lassen sich Sozialstrukturen nicht gleich Konservenbüchsen von Land zu Land exportieren. Die Grundlagen des Kibbuz aber, Kollektiveigentum an Land und Produktionsmitteln, gemeinsame Arbeit, gegenseitige Hilfe, soziale Gleichheit, lokale Autonomie und direkte Demokratie können besonders in Entwicklungsländern als Modell dienen.
Vor fast 2000 Jahren brachten die Juden der Menschheit das Christentum, wobei sie leider den Garten Eden ins Jenseits verpflanzten. Heute bringen die Kibbuzim wenigstens ein kleines Eden ins Diesseits zurück.
Fußnoten:
1.) In der jüdischen Diaspora gab (und gibt) es zwei Hauptgruppen: die Aschkenasim in Mittel-, Ost- und Nordeuropa, die jiddisch sprechen und die Sephardim, die über ein halbes Jahrtausend auf der iberischen Halbinsel lebten und 1492 vertrieben wurden; ihre Sprache - das ladino - ist dem Spanischen in ähnlicher Weise nahe wie Jiddisch dem Deutschen.
2.) Das war ein Irrtum. Unser Gespräch fand 1951 statt. Zwanzig Jahre später gab es 228 Kibbuzim und nur 20 Moschawim Schitufim, wie aus den offiziellen Statistiken hervorgeht.
3.) Einiges hierüber findet man in dem Buche von Bruno Bettelheim: »Die Kinder der Zukunft«, dtv München.
4.) Siehe Revista International del Trabajo, Genf, Vol. IX 5 Mayo 1961 (Organ des Internationalen Arbeitsamtes).
5.) Siehe Augustin Souchy: »Wie lebt der Arbeiter und Bauer in Rußland«, Berlin 1921, Neuauflage Berlin 1979. »Nacht über Spanien«, Darmstadt 1955, Neuauflage unter dem Titel »Bürgerkrieg und Revolution in Spanien«, Frankfurt 1975 und unter dem ursprünglichen Titel Reutlingen 1983. »El Nuovo Israel« (spanisch), Mexiko 1953. »Testamentario sobre la Revolucion Cubana« (spanisch), Buenos Aires i960.
Originaltext: Augustin Souchy - Reise durch die Kibbuzim. 1. Auflage, Mai 1984, Trotzdem-Verlag, Reutlingen. Digitalisiert von www.anarchismus.at